Liebe nach Rezept - Insulaner küssen besser

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Kapitel 2 - Aufmunternder Nachtmittagstee

Luisa schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch. Sie war nach dem Gespräch mit Adriana von deren Bett auf das gemütliche Sofa im Wohnzimmer umgezogen und anscheinend eingeschlafen.

Es hatte angefangen zu regnen, und man hörte nur die dicken Tropfen gegen die Scheiben prasseln, ansonsten war es sehr still in der Wohnung. Luisa sah auf die Uhr.

16:15 Uhr. Wo war Adriana? Ach ja, sie hatte zurück ins Büro gemusst. Vorhin hatte sie ihre Mittagspause geopfert, um schnell mal nach ihr zu sehen. Luisa war ihr so dankbar!

Adriana hatte die halbe gestrige Nacht mit ihr durchwacht, sie getröstet und im Arm gehalten. Luisa kamen wieder die Tränen, als sie an den furchtbaren Abend dachte. Nachdem sie Enno und Mia in flagranti erwischt hatte, war sie ziellos losgelaufen, einfach losgelaufen, nur in ihrem Kochoutfit. Es war empfindlich kalt gewesen, eine Hamburger Frühlingsnacht ist nicht zwangsweise milde. Irgendwann stand sie vor ihrer Wohnungstür in der Speicherstadt des Hamburgerer Hafens, immerhin eine halbe Stunde Fußmarsch vom Chez Enno entfernt. Natürlich hatte sie keinen Schlüssel dabei gehabt, daher klingelte sie bei der alten Frau Müller im Parterre, wo sie und Enno einen Ersatzschlüssel deponiert hatten.

Es war ihr völlig egal gewesen, dass die arme Frau bereits im Bett gelegen hatte. Ohne großartig eine Erklärung abzugeben, hatte sie nach dem Schlüssel verlangt und war hinauf in ihr gemeinsames Appartement gestürmt. Sie hatte furchtbare Angst gehabt, dass Enno sie hier suchen würde, sie hatte ihm auf keinen Fall begegnen wollen. Schnell hatte sie ein paar Sachen zusammengesucht, alles in ihre Sporttasche gestopft, ein Taxi gerufen und war wieder nach unten gerast.

Der Wagen hatte sie bei Adriana in Hamburg-Ottensen abgeliefert. Sie hatte Sturm geklingelt, der verblüfften Adriana gesagt, dass sie das Taxi bezahlen solle und sich dann auf deren Bett geworfen. Erst da hatte sie angefangen zu weinen.

Und nun saß sie hier in dieser leeren Wohnung und war mit ihren quälenden Gedanken allein. Sie sah auf den Anrufbeantworter. Die kleine Lampe blinkte wie wild. Enno hatte sich natürlich gleich gedacht, dass sie zu Adriana geflohen war. Auf ihrem Handy hatte er es sicher zuerst versucht, das lag jedoch noch in ihrer Tasche im Chez-Enno, eingeschlossen in ihrem Spint. Soll er doch warten, bis er schwarz wird, dachte Luisa und stand mühsam auf.

Sie fühlte sich um hundert Jahre gealtert. Luisa durchquerte den Wohnraum und ging in die offene Küche. Dort schenkte sie sich ein Glas Leitungswasser ein, nahm einen Schluck und lehnte sich an die Küchenzeile. Sie sah sich in der Altbauwohnung um. Adriana hatte wirklich einen tollen Geschmack. Obwohl die Wohnung sehr modern eingerichtet war, strahlte sie eine ungeheure Gemütlichkeit aus. Günstig war das alles sicher nicht gewesen, mutmaßte Luisa. Aber Adriana konnte es sich leisten, sie arbeitete in dem renommierten Architekturbüro Hermanns und Söhne und verdiente wirklich ausgesprochen gut.

Sie bauten Bürohäuser und ähnliche Ungetüme, und Luisa hatte Adriana bereits einmal auf einer Großbaustelle in Aktion erleben dürfen. Es war herrlich gewesen, die Bauarbeiter hatten beim Anblick dieser hübschen, zierlichen Brasilianerin nicht damit gerechnet, von ihr ordentlich den Marsch geblasen zu bekommen.

Plötzlich klingelte es an der Tür. Luisa erstarrte. Was, wenn das Enno war? Sie wollte ihn nicht sehen. Es klingelte wieder. Ich mache einfach nicht auf, soll er doch da unten verrotten, dachte sie. Nach einem weiteren Klingeln wurde es ruhig, dann schrillte plötzlich das Telefon. Luisa zuckte zusammen.

Nach dem fünften Klingeln ging der Anrufbeantworter an. „Luisa, Luisa-Herzchen, bist du da? Hier ist Ben! Luisa, es regnet in Strömen, bitte mach doch auf! Ich habe meine neuen Schuhe an, die sind gleich ruiniert, Luisa bitte!“

Ben!

Den hatte sie ganz vergessen. Er hatte ja versprochen, vor seiner Schicht in der Bar noch bei ihr vorbeizuschauen. Adriana hatte ihn angerufen und ihn ausführlich über die Geschehnisse informiert. Sie eilte zur Wohnungstür, öffnete diese und drückte gleichzeitig auf den Summer für die Haustür. Schnelle Schritte waren im Treppenhaus zu hören und dann stand Ben auch schon vor ihr.

Er sah wie immer entzückend aus.

Seine großen blauen Augen strahlten in einem überraschend jungenhaften Gesicht, wenn man bedachte, dass er genauso alt war wie Luisa. Seine strohblonden Haare trug er zu einem modernen Undercut geschnitten und gekleidet war er – wie immer – für einen Mann ein bisschen zu gut.

Perlen vor die Säue, dachte Luisa nicht zum ersten Mal, denn Ben liebte ausschließlich Männer. Was war das bloß für eine Verschwendung! Sie schloss die Tür hinter ihm. Ben breitete die Arme aus.

„Hier bin ich, wie von dir bestellt, um dich von deinem traumatischen Erlebnis abzulenken. Lass dich mal in den Arm nehmen, Süße.“ Luisa lehnte ihren Kopf an Bens Schulter und er legte die Arme um sie. Sofort fing sie wieder an zu weinen. Es war so schön, dass er da war.

„Schhhh, Süße, es wird alles wieder gut, das verspreche ich Dir.“ Er führte sie zum Sofa, drückte sie in die weichen Kissen, zog seinen nassen Mantel aus und legte ihn über einen Stuhl. Dann setzte er sich neben sie und nahm sie wieder in den Arm.

„Weißt du noch, damals in der zehnten Klasse - das war, glaube ich, zu der Zeit, als ich meine Haare pink gefärbt hatte - da warst du mit diesem Boris zusammen, der immer diese furchtbaren Klamotten trug.“

„Der trug keine furchtbaren Klamotten, der hat sich nur einfach ganz normal angezogen“, murmelte Luisa in seine Schulter hinein.

„Wie dem auch sei“, entgegnete Ben, „aber als dieser schlecht angezogene Boris mit der magersüchtigen Heidi rumgeknutscht hat, da dachtest du auch, dass die Welt untergehen und du nie drüber hinwegkommen würdest. Und Schwupps, zwei Wochen später warst du mit diesem süßen - wie hieß er doch gleich, diesem schwarzhaarigen …“

„Marcel.“

„Richtig, und Schwupps warst du mit Marcel zusammen und verliebt bis über beide Ohren!“

„Du kannst das alles hier doch nicht mit einer Jugendliebe vergleichen! Mensch Ben, ich wollte Enno heiraten! Mit sechzehn steckt man sowas doch viel besser weg, da verliebt man sich alle naslang in jemand anderen. Aber ich bin jetzt fast zwanzig Jahre älter“. Sie schluchzte. „Ich werde nie wieder jemandem vertrauen können, und falls doch, dann dauert das bestimmt noch Jahre, und dann bin ich vierzig, und dann bin ich richtig alt und Kinder kann ich mir dann auch abschminken.“ Sie schluchzte erneut.

„Das ist doch Quatsch!“ Ben zog ein Kosmetiktuch aus einer Pappschachtel, die auf dem Couchtisch stand und reichte es ihr. „Man kann doch heute locker mit Anfang vierzig noch Kinder bekommen“, versuchte er sie zu trösten.

„Das ist mir total egal, ich will einfach keine alte Mutter sein, auch wenn das biologisch oder mit medizinischer Hilfe möglich ist.“ Sie putze sich geräuschvoll die Nase.

„Süße, könnte es sein, dass du so wahnsinnig an diesem Familiending hängst, weil du ohne Mutter aufgewachsen bist?“

Ben streichelte ihr über das widerspenstige blonde Haar.

„Ach Ben, ich war doch erst ein halbes Jahr alt, als sie starb. Ich kann mich doch gar nicht an sie erinnern. Und ich habe im Übrigen auch nichts vermisst, meine Oma war immer für mich da und Paps ja sowieso.“

„Ich weiß, Oma Josie war schon eine tolle Frau.“ Er lächelte. „Sie war die erste, die gemerkt hat, dass ich anders war als die anderen Jungen.“

Ben und Luisa kannten sich seit Kindergartentagen, hatten in derselben Straße in Hamburg-Barmbek gewohnt und ihre ganze Schulzeit miteinander verbracht. Einmal hatte es so ausgesehen, als ob Ben sitzenbleiben würde. Luisa hatte nächtelang mit ihm gelernt und dann hatte er es glücklicherweise doch noch in die zehnte Klasse geschafft.

„Ich meine ja nur“, nahm Ben den Faden wieder auf, „du weißt schon, dieses ganze Mutter, Vater, Kind-Ding, du hast schon im Kindergarten dauernd diese Bilder gemalt.“

„Ja, natürlich“, sagte Luisa und richtete sich auf, „weil die anderen Kinder das auch gemacht haben. Ich habe auch immer zwei Hunde und drei Katzen dazu gemalt. Und habe ich mich jemals beklagt, dass ich keine Haustiere habe?“ Müde fuhr sie sich über die Augen. „Das ist doch auch gar nicht der Punkt, Hochzeit hin oder her, ich dachte einfach, dass Enno glücklich mit mir ist, und ich kann einfach nicht glauben, dass ich mich so getäuscht habe, dass ich nichts bemerkt habe. Was weiß ich denn, wie lange die beiden es schon miteinander treiben? Quasi vor meinen Augen? Bestimmt wusste es die gesamte Belegschaft und hat hinter meinem Rücken über mich gelacht.“ Sie ließ sich wieder an Bens Schulter zurücksinken. „Oh Gott, ich schäme mich so, wie konnte ich denn auch glauben, dass so ein toller Mann für immer mit so einer pummeligen ….“

„Jetzt mach aber mal einen Punkt!“, unterbrach Ben sie wütend, „Du sollst dich doch nicht immer so klein machen. Du bist so eine tolle Frau, hübsch, klug, ehrgeizig….“

Luisa hörte gar nicht zu. „Schon damals haben die Männer lieber mit Anorexic-Heidi rumgemacht als mit mir, das hast du doch selbst eben gesagt.“

„Das habe ich nicht so gesagt“, antwortete Ben ungeduldig. „Ich sollte hier mit dir gar nicht diskutieren, du siehst jetzt alles ganz schwarz und das ist ja auch normal nach so einer Sache, aber du wirst sehen, in ein paar Tagen …“ Er blickte Luisa kurz an. „… oder sagen wir mal in ein paar Wochen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Ich für meinen Teil glaube sowieso, dass es eher ein einmaliges Ding mit dieser Kellnerin war. Klar hat Enno sich wie ein absoluter Scheißkerl verhalten, aber ich bin mir ganz sicher, dass er dich liebt. Ihr seid so ein tolles Team, und man konnte immer sehen, dass ihm viel an dir liegt.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. „Ich habe euch sogar oft um eure Beziehung beneidet.“

 

Luisa hob den Kopf und sah ihn erstaunt an. „Du hast uns beneidet? Ich dachte immer, du findest das spießig, zusammen ziehen, Heiraten, Kinder kriegen. Du liebst doch deine Freiheit über alles?“

Ben seufzte. „Ich rede ja nicht von dem ganzen Heiraten und für immer Quatsch. Aber einfach jemanden zu haben, wenn man nach Hause kommt, mit jemandem zusammen zu sein, der einen genau kennt, das vermisse ich schon manchmal“.

„Ben, Ben“, sagte Luisa verwundert, „du wirst doch tatsächlich langsam erwachsen.“

Ben verdrehte die Augen. „Das hat doch mit Erwachsen werden nichts zu tun, ich wünsche mir das halt manchmal, aber wenn ich dann sehe, was da alles dranhängt, dieses ständige aufeinander Rumhocken, die ganzen Ansprüche, die Streitereien, nicht mehr alleine aufs Klo gehen können.“

„Vielleicht hast du einfach noch nicht den Richtigen getroffen, bei dem dich das alles nicht so stört?“, sagte Luisa lächelnd.

Ben machte eine abwehrende Handbewegung. „Nee, lass man diese Küchenpsychologie, es ist schon alles gut so, wie es ist. Also Süße, zurück zu dir. Meinst du nicht, dass du Enno diesen Ausrutscher irgendwann verzeihen kannst? Nach dem Motto: einmal ist keinmal?“

„Fängst du jetzt auch noch damit mit an?“ Wütend stand Luisa auf. „Adriana hat das gleiche gesagt. Für mich ist das aber nicht so einfach.“

Ben stand ebenfalls auf, nahm ihre Hände in seine und drückte sie. „Luisa, wir haben dich furchtbar lieb und wissen ganz genau, wie verletzt du jetzt bist. Wir haben aber auch einfach Angst, dass du einen Fehler machst, wenn du jetzt mit Enno Schluss machst. Weil Eure Beziehung gut war, und eine gute Beziehung muss so eine Sache vielleicht auch einfach aushalten können.“

Luisa schnaufte.

„Ich will so eine Sache aber gar nicht aushalten, ich will einen Mann, dem ich vertrauen kann.“

In diesem Moment öffnete sich die Wohnungstür und Adriana kam herein. Sie schloss die Tür und schüttelte ihre nassen Locken.

„Hallo ihr beiden, was für ein Scheißwetter da draußen, echter Hamburger Frühling.“ Sie zog Mantel und Schuhe aus, begrüßte Ben mit einem Kuss auf die Wange und nahm Luisa kurz in den Arm.

„Na, Süße, ist doch schön, dass Ben jetzt da ist, oder?“

„Ja, das ist es“, murmelte Luisa.

„Aber?“ Adriana sah sie fragend an.

„Nichts aber. Es ist toll, dass ihr beide euch so um mich kümmert. Ich habe nur irgendwie das Gefühl, dass ihr nicht versteht, wie ernst es mir mit der Trennung von Enno ist. Dass ich ihm die Sache wirklich nicht einfach verzeihen kann.“

„Ach Luisa, gibt dir doch einfach nur etwas Zeit“, sagte Ben aufmunternd.

„Genau, es ist alles noch so frisch, wir wollen doch einfach nur nicht, dass du jetzt etwas tust, was dir später vielleicht leidtun wird.“ Adriana setzte sich auf die andere Seite von Luisa, so dass diese jetzt zwischen ihren beiden Freunden auf dem Sofa saß.

„Genau, ich brauche Zeit und Abstand, aber nicht, weil ich in einer Woche plötzlich denke, dass es okay ist, was Enno getan hat, sondern weil ich es einfach nicht aushalten kann, in der Nähe von diesem Scheißkerl zu sein.“ Luisa stand auf und lief vor dem Sofa auf und ab. „Ich glaube nicht, dass ich es zurzeit überhaupt aushalte, in derselben Stadt mit ihm zu sein.“ Sie hielt im Laufen inne und schnippte mit dem Finger. „Das ist es! Ich fahre weg! Ich muss jetzt mal einen klaren Kopf bekommen. Deshalb werde ich weg fahren.“ Sie nickte und lief wieder vor dem Sofa auf und ab. Adriana und Ben sahen sich kurz an und folgten ihr dann weiter stumm mit den Augen.

„Am besten ans Wasser.“ Sie sah aus dem Fenster, als fiele ihr gerade in diesem Herzschlag ein, dass ihre Wohnung direkt am Hafen lag. „Ans Meer, genau! Ja, ans Meer! Das ist immer gut, um einen klaren Kopf zu bekommen.“

„Und was ist mit deinem Job?“, wagte Ben einzuwerfen.

Entgeistert starrte Luisa ihn an. „Du denkst doch nicht im Ernst, dass ich für diesen Scheißkerl noch kochen werde? Das kannst du doch nicht wirklich glauben?“

„Aber du hast doch einen Vertrag“, erinnerte Adriana sie und sank vorsichtshalber etwas tiefer in die Sofakissen zurück.

„Vertrag?“ Luisa tippte sich an die Stirn. „Ich scheiß auf meinen Vertrag. Soll Enno doch zusehen, wie er ohne mich klar kommt. Das ist wahrscheinlich sowieso der einzige Grund, warum er mich die ganze Zeit erreichen will. Er braucht mich in der Küche! Aber nein, nicht mit mir, da muss er halt Paul aus dem Urlaub zurückpfeifen, das ist nun wirklich nicht mehr mein Problem.“ Es tat gut sich etwas Luft zu machen. Besonders in dieser etwas hysterischen Tonlage wirkten ihre Worte noch dramatischer.

Adriana und Ben sahen sich unsicher an, sagten jedoch nichts mehr. Luisa setzte sich zurück aufs Sofa zwischen ihre Freunde.

„Macht euch keine Sorgen, es fühlt sich richtig an. Wirklich.“

Sie merkte, wie sie langsam ruhiger wurde. Es tat gut, eine Entscheidung getroffen zu haben. Sie würde ans Meer fahren, auf unbestimmte Zeit.

Gleich Morgen.

Kapitel 3 - Ein Hauch von Aufbruch

Luisas roter Mini flitze über die Autobahn Richtung Norden. Es war ein trüber Tag, und die Wolken hingen bleischwer am Himmel. Die Bäume, die am Straßenrand vorbeischossen, zeigten schon ein zaghaftes erstes Grün, doch es wirkte so, als könnten sie nicht ganz glauben, dass wirklich schon Frühling sein sollte.

Das trübe Wetter passte hervorragend zu Luisas Stimmung. Stumpfsinnig starrte sie auf die Fahrbahn, im Mini war nur das Motorengeräusch zu hören, das Radio hatte sie schon kurz hinter Pinneberg entnervt ausgeschaltet. Zu viele Liebeslieder! Schon bei den ersten Takten von I will always love you von Whitney Houston waren ihr wieder die Tränen gekommen, dabei hatte sie es doch geschafft, ganze zwei Stunden nicht zu weinen!

Sie war heute am späten Vormittag mit dem Bus zu ihrer Wohnung gefahren und hatte zwei große Koffer gepackt. Mit so vielen Klamotten würde sie ewig wegbleiben können, wenn es sein musste. Es hatte furchtbar wehgetan, in der gemeinsamen Wohnung zu sein.

Alles schrie förmlich: Enno, Enno, Enno!

Sie hatte sich nicht zurückhalten können, an einem Pullover zu riechen, der über dem Badewannenrand lag. Er roch so gut…! Ansonsten war die Wohnung tadellos aufgeräumt, keine Spuren eines kummervollen Besäufnisses oder ähnlichem.

Und selbst wenn, er hätte eh wieder alles pikobello aufgeräumt, der blöde Spießer, hatte sie noch gehässig gedacht.

Dann hatte sie ihre fristlose Kündigung auf den Küchentisch gelegt. Erst wollte sie das Schreiben mit Sehr geehrter Herr Mistkerl beginnen und auch noch einige andere Nettigkeiten mit einbinden, aber Ben und Adriana hatten sie überzeugen können, dass das bei einer offiziellen Kündigung dann doch nicht so eine gute Idee war. Dann hatte sie sich noch ein letztes Mal in der Wohnung umgeschaut und schweren Herzens die Tür hinter sich zugezogen.

Luisa seufzte. Gerade, als sie den Nord-Ostsee-Kanal hinter sich gelassen hatte, klingelte ihr Handy. Sie hangelte nach ihrer Handtasche, die auf dem Beifahrersitz lag und fischte das Handy heraus. Das Klingeln verstummte. Mit einem flüchtigem Blick schaute auf das Display: Unbeantworteter Anruf Enno.

„Lass mich doch einfach in Ruhe“, murmelte Luisa. Sie überlegte kurz, ob sie sich geschmeichelt fühlen sollte, dass Enno unbedingt mit ihr sprechen wollte, entschied dann aber, dass es doch etwas armselig sei, sich über Anrufe eines untreuen, reuigen Verlobten zu freuen. Wenigstens hatte sie ihr Handy wieder.

Adriana war so nett gewesen und hatte Luisas Tasche noch am gestrigen Abend aus deren Spint im Chez Enno geholt. Da gestern keine Feier ausgerichtet worden war, wusste Luisa, dass nur Enno da sein würde, der solche ruhigen Abende gern für seine Buchführung nutzte. Sie hatte ungeduldig und Nägel kauend zusammen mit Ben auf Adrianas Rückkehr gewartet und die Arme sofort mit Fragen bombardiert, sobald diese die Wohnungstür geöffnet hatte:

Sah Enno fertig aus? Hatte er nach ihr gefragt?

Adriana hatte geduldig berichtet, dass Enno gefragt hatte, ob er mit ihr kommen könne, um Luisa zu sehen. Als sie ihm jedoch zu verstehen gegeben hatte, dass Luisa das auf keinen Fall wolle, hatte er nicht etwas angefangen zu betteln, zu weinen und zu flehen, nein, er hatte das einfach akzeptiert und war wieder an die Arbeit gegangen! Luisa war furchtbar enttäuscht, versuchte aber, es vor Ben und Adriana zu verbergen.

Wenig später war Ben zu seiner Schicht in der Bar Mieze aufgebrochen, ein unheimlich hipper Schuppen mit unheimlich schönen Menschen - und die Männer waren sogar nicht einmal alle schwul! Ben mixte nach Luisas Ansicht die besten Cocktails der Stadt und die Frauen waren hingerissen von ihm, und das förderte natürlich den Umsatz, was wiederum Bens Chef freute.

Ben hatte Luisa zum Abschied noch einmal ganz fest in den Arm genommen und sie gebeten, sich die Reise ans Meer noch einmal zu überlegen.

„Du brauchst doch deine Freunde, gerade jetzt“, hatte er gesagt und seinen berühmten Dackelblick aufgesetzt, dem man eigentlich nicht wiederstehen konnte. Luisa hatte einmal kräftig geschluckt, ihm einen herzhaften Schmatzer auf die Wange gegeben und versprochen, sich regelmäßig bei ihm zu melden.

Als er gegangen war, hatte sie mit Adriana noch ein Glas Rotwein getrunken und war dann erschöpft in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.

Und nun saß sie hier im Auto und fuhr tatsächlich ans Meer, einfach so, ohne bestimmtes Ziel.

Schon verrückt.

Was wollte sie überhaupt machen? Wo wohnen? In ein Hotel wollte sie für so eine lange Zeit nicht ziehen, selbst, wenn ihre Ersparnisse dafür ausreichen würden. Das kam ihr doch zu verschwenderisch vor, da war sie ganz wie ihre sparsame Oma Josi. Die hatte sich nie irgendwelche Extravaganzen gegönnt, das war für sie alles nur Schnick Schnack.

Appartements waren in den Urlaubsorten am Meer auch nicht gerade günstig, aber zurzeit war ja Nebensaison, da würde das schon gehen. Und arbeiten müsste sie über kurz oder lang auch, aber das hatte noch Zeit. Und als Köchin war dies bestimmt kein Problem, zumal es jetzt - zumindest rein nach dem Kalender - auf die schöne Jahreszeit zuging und Leute wie sie dann immer gesucht wurden. Vielleicht sollte sie sich erst einmal Gedanken machen, wohin sie überhaupt fahren wollte, sonst war sie in Dänemark, bevor sie sich entschieden hatte.

Luisa schaute auf das nächste Straßenschild:

Friedrichskoog 35 km.

Schnell trat sie aufs Gas. Oh nein, nach Friedrichskoog wollte sie nun wirklich nicht. Als Kind hatte sie mit ihrem Vater und ihrer Oma dort für eine Woche Urlaub gemacht. Ihre Oma hatte die ganze Zeit gejammert, dass sie doch eigentlich in ihrem Restaurant stehen müsste und hatte sich überhaupt nicht entspannen können. Ihr Vater war schon allein von der Tatsache genervt gewesen, dass er zusammen mit seiner Mutter Urlaub machte, und Luisa hatte ziemlich enttäuscht dreingeschaut, als sie entdeckte, dass es gar keinen Sandstrand gab. Nur Gras. Sonst war es dort eigentlich sehr schön gewesen, aber es gab halt eben nur einen Grasstrand.

„Gras! Das geht nun wirklich nicht!“, sagte Luisa laut. Sie hatte sich nämlich bereits vorgestellt, wie sie stundenlange Spaziergänge am Sandstrand machen würde, immer an der Wasserlinie entlang, natürlich barfuß. Eine Wolke aus Schwermut würde sie umhüllen, und die Einheimischen würden sich fragen, wer diese traurige Frau war, die jeden Tag dutzende von Kilometern allein am Strand entlang lief. Und da passte Gras nun einmal nicht ins Bild. Auch das mit den vielen Kilometern könnte schwierig werden, da Luisa schon nach einem kurzen Sprint zum Bus die Puste ausging. Egal.

Die nächsten zwanzig Minuten fuhr Luisa mit gleichbleibender Geschwindigkeit auf der wenig befahrenen Autobahn, starrte stur geradeaus und hing ihren trüben Gedanken nach. Hinter Heide war die Autobahn zu Ende und sie fuhr auf einer Landstraße weiter, die von unzähligen Windrädern gesäumt wurde. Schön war das nicht, fand Luisa. Aber sicher ökologisch wertvoll.

 

Da kam auch schon das nächste Straßenschild in Sicht:

Tönning 11 km, Husum 30 km, St. Peter-Ording 31 km.

St.-Peter-Ording, das war es doch! Sandstrand ohne Ende. Und neuerdings bei Hamburgern richtig angesagt. Luisa überlegte. Es fühlte sich irgendwie nicht richtig an. Es war so - so nah. Sie wollte weiter weg, weiter weg von Enno.

„Eine Insel!“, rief Luisa und schlug mit der flachen Hand auf ihr Lenkrad. Genau, eine Insel sollte es sein. Sylt fiel ihr als erstes ein. Die nördlichste Insel Deutschlands, weiter weg ging es nicht, ansonsten musste sie nach Dänemark. Das Problem war, dass sie einmal einen unglaublich schönen Urlaub mit Enno auf Sylt gemacht hatte, noch ziemlich am Anfang ihrer Beziehung. Es war so romantisch gewesen. Alles war perfekt, das kleine Reetdach-Häuschen, die Spaziergänge am Strand, das Essen, das Feiern in den Bars…. Nein, dort konnte sie auf keinen Fall hin, es würde sie alles nur an ihn erinnern. Wohin also dann?

Luisa setzte den Blinker und fuhr auf einen kleinen Rastplatz. Sie hielt an, schaltete den Motor aus und beugte sich rüber zum Handschuhfach und fand das, wonach sie suchte, einen zerfledderten Autoatlas. Enno hatte sie deswegen immer ausgelacht, er war der Meinung, dass in Zeiten von Navis, Smartphones und Tablets kein Mensch mehr einen Straßenatlas brauchte. Aber Luisa hasste es, sich den Weg von einer Computerstimme erklären zu lassen, und es machte sie wahnsinnig, auf einem kleinen Bildschirm nach den Straßen zu suchen.

Sie suchte die schleswig-holsteinische Nordseeküste heraus. Sylt also nicht, darunter lagen Föhr und Amrum. Irgendwo hatte sie einmal gehört, das Föhr auch die Grüne Insel genannt wurde und sie nahm an, dass damit Deiche und Grasstrände gemeint waren. Also lieber nicht.

Dann also Amrum?

Sie hatte einmal eine Arbeitskollegin gehabt, die jedes Jahr nach Amrum zum Reiterurlaub gefahren war, und Luisa hatte sich immer vorgestellt, wie diese den Sandstrand entlanggalloperiert war. Diese Vorstellung sicherte natürlich nicht die Existenz von Sandstränden, aber irgendwie musste sie ja zu einer Entscheidung kommen.

Also Amrum.

Sie studierte die Karte und legte sie auf den Beifahrersitz, für alle Fälle. Mit gespielter Fröhlichkeit rief sie: „Amrum, ich komme!“ und startete den Wagen.

***

Luisa reihte sich mit ihrem Auto in die Schlange vor dem Ticketschalter ein. Es war nicht viel Betrieb, da Ostern schon vorbei war und die Hauptsaison noch nicht begonnen hatte. Hier in Dagebüll legten die Fähren nach Amrum und Föhr ab. Sie sah aus dem Fenster. Zwar konnte sie aufs Meer schauen, aber die graue Nordsee hob sich kaum von dem noch graueren Himmel ab.

Vielleicht hätte ich doch einfach in den Süden fliegen sollen, dachte sie trübsinnig. Hinter ihr hupte ein Auto und sie schrak zusammen. Sie war an der Reihe, zum Schalter vorzufahren und hatte nicht einmal bemerkt, dass die beiden Autos vor ihr schon abgefertigt worden waren.

Ob sie überhaupt Autofahren durfte? Sagte man in Filmen nicht immer zu Leuten, die Traumatisches erlebt hatten: So darfst du aber nicht ins Auto steigen? Ben und Adriana hatten einiges versucht, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen, aber dieser Satz war nicht gefallen.

Das Auto hinter ihr hupte erneut.

„Jaja, ist ja schon gut!“, rief sie und fuhr zum Ticketschalter vor. Drinnen saß ein gemütlich wirkender Mann mit Vollbart und grinste sie an.

„Na mien Deern, wo soll es denn hingehen?“

„Einmal nach Amrum bitte“, antwortete Luisa. „Oneway!“, rutschte es ihr noch heraus. Das fand sie jetzt selbst ein bisschen dick aufgetragen. Oneway, als ob sie ein gesuchter Meisterdieb auf der Flucht wäre oder so was. Wobei Flucht stimmte ja nun auch wieder irgendwie.

„Tja Deern, nicht einmal Oneway“ – der Mann am Ticketschalter zog das Wort übertrieben in die Länge, wie Luisa fand – „kann ich dir für die nächsten drei Fähren anbieten, alles ausgebucht. Hättest du dir mal vorher ein Ticket im Internet reserviert. Montag ist doch erster Mai, das nutzen viele Hamburger aus.“

Luisa stöhnte auf. „Aber es ist doch gar nicht viel los hier“, jammerte sie und machte eine ausladende Geste, die den ganzen Fährterminal umfasste.

„Jaa, noch nicht“, sagte der Kassenwart gedehnt und grinste wieder. „Die nächste Fähre nach Amrum fährt erst um 16:00 Uhr, dann trudeln die ersten aus dem Süden ein, die müssen nämlich noch arbeiten, die haben das nicht so gut wie du.“

Er zwinkerte ihr zu, und Luisa wollte etwas Scharfes erwidern, ließ es dann aber doch bleiben. Auch das Duzen störte sie nicht besonders, im Gegenteil, bei Menschen, die ihr einigermaßen sympathisch waren, empfand sie es immer als Kompliment, geduzt zu werden, weil sie sich dann so herrlich jung fühlte.

„Und wann geht dann die Fähre, auf der noch ein Platz frei ist?“, fragte sie bange.

„Um exakt 20:00 Uhr“, sagte der bärtige Kassenwart.

„Was, erst um 20:00 Uhr?“ In Luisas Kopf ratterte es. Dann würde sie ja viel zu spät auf der Insel sein, sie musste sich auch noch ein Unterkunft suchen, und dann hier die ganze Zeit an diesem trostlosen Terminal warten.

Sie spürte, wie der Rest ihrer ohnehin sehr dürftigen Energie zu entweichen drohte und ein dicker Kloß sich ihren Hals hochschob.

Der Kassenwart sah sie aufmunternd an. „Na, wie wäre es denn mit Föhr? Die Fähre fährt in einer halben Stunde und es sind noch ein paar Plätze frei.“

Bitte nicht Föhr, dachte Luisa. Hinter ihr in der Schlange begannen die Autos zu hupen.

„Gibt es dort einen Sandstrand?“, beeilte sie sich zu fragen und hielt abwartend die Luft an.

Der Ticketmann stieß einen Laut der Empörung aus. „Ob wir einen Sandstrand auf Föhr haben?“, wiederholte er ihre Frage entrüstet. „Junge Dame, Föhr gehört zur friesischen Karibik, natürlich haben wir einen Sandstrand. Kilometerlang!“ Er schüttelte den Kopf. „Ihr Städter seit echt zum Piepen.“

Luisa atmete erleichtert auf. Nun würde sie doch noch zu ihrem Sandstrand kommen. „Dann einmal friesische Karibik bitte“, sagte sie lächelnd.

„Oneway?“, fragte der Bärtige verschmitzt.

„Oneway!“, antwortete Luisa mit fester Stimme.

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