Die Schwiegermutterwette

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»Wer soll den denn entführen?« fragte Meike und verzog das Gesicht.

»Die hätten ihn wahrscheinlich schneller wiedergebracht, als sie die Lösegeldforderung aufschreiben könnten«, meinte Friederike.

»Lösegeld? Gibt´s bei dem denn was zu holen?«

»Die Frage ist wohl eher, von wem«, sagte Björn.

»Na von seiner Mutter«, behauptete Annedore.

»Hatte der nicht eine Frau?« fragte Meike.

»Hat er das behauptet?«

»Mir war so, als ob...«

»Nee. Höchstens eine imaginäre in seinem Kopf.«

»Vielleicht schämt er sich auch nur und traut sich nicht her«, spekulierte Friederike. Sie würde an Olivers Stelle sicherlich das Weite suchen und sich nicht noch wochenlang dem Spott aussetzen.

»Und wenn ihm was passiert ist?« fragte Björn.

»Dem passiert schon nichts. Soviel Glück haben wir nicht«, sagte Annedore.

»Jetzt sei nicht so«, meinte Friederike. »Wir sind ihn doch sowieso bald los.«

»Äh..., jetzt mal ehrlich. Sollte nicht wenigstens einer da anrufen?« fragte Björn erneut.

»Wenn schon, dann muss doch wohl Oliver uns anrufen, oder?« entgegnete Annedore empört.

»Und wenn er nicht kann?«

»Wieso sollte er nicht können? Hast du zu viel ferngesehen?«

»Na ja. Es passiert gar nicht so selten, dass Leuten was passiert und sie erst nach Jahren entdeckt werden, weil es anfängt zu riechen oder so.«

»Du vergisst die Mutter.«

»Ach ja. Hat die mal einer gesehen?«

»Nee. Vielleicht ist ja die schon lange gestorben und er meldet es nicht, damit er weiter die Rente kassieren kann.«

»Meine Güte. Das gibt´s doch nur im Film«, meinte Meike und verdrehte die Augen.

Pia stürmte herein und rannte grußlos weiter ins Nachbarzimmer. Die Tür schlug laut hinter ihr zu und Friederike zuckte zusammen.

»Und was ist mit der heute los?«

»Sie muss arbeiten.«

»Schon. Aber das musste sie auch gestern, und da hatte sie trotzdem nicht so eine Laune.«

»Vielleicht hat sie eine Absage wegen der Abteilungsleiterstelle bekommen«, spekulierte Annedore und sah Meike an.

»Vielleicht gibt es auch einfach nur Ärger mit ihrem Freund.«

»Seit wann hat die denn einen Freund?« fragte Friederike.

»Also Freund ist vielleicht der falsche Ausdruck. Sie chattet mit irgendeinem Typen. Hat mir letzte Woche ein Foto gezeigt«, berichtete Annedore.

»Oh. Lass mich raten. Der Typ sah rasend gut aus und hat jede Menge Geld«, grinste Friederike.

»Äh... ja. Das trifft es im Wesentlichen.«

»Und sie glaubt das?«

»Keine Ahnung. Zumindest erzählt sie das. Aber vielleicht ist auch alles nur erfunden.«

»Guten Morgen alle miteinander«, sagte Olivers Stimme und die Köpfe fuhren zur Tür herum. Annedore sprang eilig von Meikes Schreibtisch hoch.

Nun denn. Oliver war also doch noch aufgetaucht und Besorgnis erregend gut gelaunt.

Interessiert sah er in die Runde.

»Äh, könnten Sie bitte die Endabrechnung in der Herrmann-Sache noch einmal durchsehen?« bemühte sich Meike, die Situation zu retten. Sie nahm die dickste Akte von ihrem Stapel und legte sie dahin, wo Annedore eben noch gesessen hatte. »Ich bin gestern damit fertig geworden, aber es wäre ganz gut, wenn Sie noch einmal drüberschauen könnten.«

»Natürlich. Immer her damit«, antwortete Oliver, nahm sich die Akte und ging.

Die Besorgnis wuchs.

»Fehlt nur noch, dass er hopst und fröhlich pfeift«, meinte Björn.

»Wo ist denn der Zettel?« fragte Annedore alarmiert und begann, hektisch auf Meikes Schreibtisch herumzusuchen.

»Was denn für ein Zettel?« erkundigte sich Meike irritiert.

»Den ich hier vorne hingelegt habe.«

»Ich hab keinen Zettel gesehen. Was soll denn da drauf gestanden haben?«

»Äh, unser Weihnachtslied. Ich habe noch ein paar Strophen dazu gedichtet und wollte sie euch zeigen.«

»Du meinst, das über Oliver?« fragte Meike entsetzt.

»Genau das. Hoffentlich hat der den Zettel jetzt nicht mit der Akte erwischt und mitgenommen!« Annedore bückte sich und lugte unter den Schreibtisch. Doch auch dort lag kein Zettel.

»Verdammter Mist. Und jetzt?«

»Das kann ich dir genau sagen«, meinte Meike ungehalten. »Jetzt liest er den Zettel und denkt, dass das von mir stammt, weil er es von meinem Schreibtisch mitgenommen hat.«

Ratlos starrten sie auf den Fleck, auf dem eigentlich der Zettel liegen müsste.

Björn spähte in den Flur. »Oliver geht gerade wieder«, informierte er. »Wenn wir schnell sind...«

»Wen meinst du denn mit wir?« erkundigte sich Meike argwöhnisch.

»Wohin ist er gegangen?« fragte Annedore, doch Björn zuckte mit den Schultern.

»Woher soll ich das wissen? Vielleicht zur Toilette. Oder er holt sich nur schnell einen Kaffee.«

»Ich geh rein«, sagte Friederike entschlossen. »Wenn er eher zurückkommt, müsst ihr ihn irgendwie ablenken.«

»Wieso..., Friederike, nein!« rief Meike. Doch Friederike eilte weiter. »Wird schon klappen«, meinte sie zuversichtlich und verschwand im nächsten Augenblick in Olivers Büro.

**

Manche Tage hatten es in sich. Da sagte oder tat man Sachen, die nicht durch die Selbstschutzzensur gegangen waren, und fragte sich anschließend besorgt nach dem Warum. Falls man dann dazu noch Gelegenheit hatte.

Friederike hätte völlig egal sein können, was aus dem blöden Zettel wurde. Der Ärger drohte ausschließlich anderen.

Sicher. Oliver war noch nie wählerisch gewesen, an wem er seinen Ärger ausließ. Aber trotzdem. Keiner hatte ausgerechnet von ihr erwartet, Annedores Dichtkunst zu retten. Doch aus irgendeinem Grund, den sie selbst nicht kannte, hatte sie versprochen, genau das zu tun. Und jetzt hockte sie in Olivers Büro auf dem Boden und versteckte sich hinter zwei Sesseln.

Glücklicherweise gehörte Oliver nicht zu den Menschen, die gerne besucht wurden. Deshalb dienten die Sessel hauptsächlich als Garderobe und Ablagefläche für Akten, die so anstrengend waren, dass Oliver sie aus seinem Blickfeld verbannen wollte. Das traf auch auf die Lehmann-Akte zu, sodass es nicht schwer war, den Zettel zu finden und einzustecken.

Womit Friederike allerdings nicht gerechnet hatte, war Olivers schnelle Rückkehr. Das konnte man ihr nicht verdenken. Oliver hielt sich nie besonders gerne in seiner eigenen Abteilung auf. Der Grund lag vermutlich darin, dass es hier nicht soviel zu belauschen gab. Zumindest nichts, wovon sich Oliver Vorteile versprach.

Doch aus irgendeinem dummen Grund war er jetzt da und hatte sich auch von Meike nicht aufhalten lassen, die einen verzweifelten Versuch unternahm, ihn am Betreten seines Büros zu hindern, indem sie nett zu ihm war.

Friederike wusste das zu schätzen. Es kostete große Überwindung, so nett zu Oliver zu sein. Nur leider hatte es nichts genützt. Oliver betrat sein Büro und schloss trotz Meikes Protest die Tür hinter sich, was bedeutete, dass er vorhatte, länger zu bleiben.

Und Friederike war hinter den Sesseln gefangen.

Sie biss sich auf die Unterlippe.

Aus irgendeinem geheimnisvollen Grund neigte man in solchen Momenten zu Nies- oder Juckreiz. Und je mehr man darüber nachdachte, desto mehr Stellen begannen zu kribbeln. Jetzt war auch ihr linker Fuß eingeschlafen und Friederike bemühte sich, so lautlos wie möglich ihr Gewicht zu verlagern.

Plötzlich erklangen Stimmen und alarmiert sah sie durch den Spalt zwischen den Sesseln. Doch noch immer befand sich außer ihr nur Oliver im Zimmer. Allem Anschein nach sah er sich auf seinem Handy einen Film an. Friederike konnte die Stimmen nicht verstehen, aber wenn sie den Ausdruck auf Olivers ihr halb zugewandtem Gesicht richtig deutete, schien es ein sehr unterhaltsamer Film zu sein.

Es klopfte an der Tür. Oliver und Friederike zuckten synchron zusammen. Oliver drückte hastig auf dem Telefon herum und im selben Moment öffnete sich die Tür.

Friederike musste erkennen, dass ihre Hoffnung, Meike käme mit einem brillanten Rettungsplan herein, vergebens war. Stattdessen betrat Pia das Büro, warf hinter sich die Tür zu und ging auf Oliver los.

»Ich weiß, wie das vorhin ausgesehen haben muss. Aber ich schwöre, dass ich nichts dafür kann, und ich...«

»Wissen Sie«, wurde sie von Oliver unterbrochen. »Es ist mir eigentlich völlig egal, was Sie mit dem Holle treiben. Ich hätte zwar nicht gedacht, dass Sie für derart alte Männer etwas übrig haben, aber vermutlich würden Sie sich für die Abteilungsleiterstelle auch noch ganz anderen Typen an den Hals werfen. Ich frage mich nur, was Sie gemacht hätten, wenn nicht der Holle, sondern eine Frau dafür zuständig wäre.« Oliver lachte humorlos. »Ich muss zugeben, dass mich Ihr Verhalten ziemlich enttäuscht. Ich hatte Sie für loyaler gehalten. Doch im Grunde ist das egal. Der Holle hat jetzt ein viel größeres Problem als ich«, sagte Oliver voller Genugtuung und zeigte auf sein Handy.

Friederike traute ihren Ohren nicht. Pia und der alte Holle? War der nicht verheiratet?

Allmählich wurde ihr einiges klar. So auch Pias seltsames Verhalten vorhin.

»Sie können doch nicht...«

»Oh doch. Glauben Sie mir. Ich kann.«

»Denken Sie wirklich, dass Sie damit Ihren Arsch retten können?«

»Keine Ahnung. Aber wenigstens ist mein Arsch nicht der einzige, der versetzt wird.«

»Aber...«, Pia schien sichtlich aus der Fassung gebracht. »Können wir nicht noch einmal darüber reden? In Ruhe? Das hatte doch nicht das Geringste mit Ihnen zu tun.«

»Oh, na klar. Das glaube ich Ihnen natürlich sofort. Und vermutlich hatte es auch nichts damit zu tun, dass Sie auf meinen Stuhl schielen, nicht wahr?«

 

»Sie wissen, dass ich niemals...« Pia gab sich recht überzeugend verletzt, wie Friederike fand. Doch Oliver unterbrach sie erneut.

»Ich muss jetzt los. Gibt es noch etwas Wichtiges? Ansonsten muss ich Sie leider bitten, mein Büro zu verlassen«, sagte er. »Das Telefon werde ich selbstverständlich mitnehmen, falls Sie auf dumme Gedanken kommen. Es bringt also nichts, in meiner Abwesenheit hier herumzuschnüffeln.«

Wenn du wüsstest, dachte Friederike.

Pia dachte einen Moment lang nach. Vermutlich schätzte sie ihre Chancen ein, Oliver k. o. zu schlagen, und überlegte, ob sie damit durchkam. Vielleicht erntete sie dafür sogar Dankbarkeit, da Oliver nicht eben beliebt war. Das Problem war nur - sie selbst auch nicht.

Pia schien zu dem Schluss zu gelangen, dass sie hier und jetzt nichts ausrichten konnte. Fürs Erste. Mit einem letzten beschwörenden Blick zu Oliver wandte sie sich zur Tür und ging hinaus.

Oliver lachte leise vor sich hin. Was für ein erbärmlicher Wicht. Friederike hätte ihm am liebsten eine reingehauen. Doch erstens war dieses Mal Pia sein Ziel, was als mildernder Umstand anerkannt werden sollte. Und zweitens hätte sie dafür ihr Versteck verlassen müssen.

Oliver drückte nun wieder auf dem Telefon herum und die Stimmen erklangen erneut. Offensichtlich konnte er sich überhaupt nicht satt sehen.

Bei der Vorstellung an Pia und den alten Holle wurde Friederike schlecht und einmal mehr hoffte sie inständig auf baldige Erlösung aus ihrer Situation.

Es klopfte erneut und Annedore öffnete die Tür.

»Entschuldigung. Aber mein Computer spinnt, und ich dachte, Sie könnten mal kurz nachsehen.«

»Oh. Äh, natürlich«, erwiderte Oliver geschmeichelt. »Ich wollte sowieso gerade...« Dann brach er ab und schaltete das Handy aus. Dass ihn jemand in technischen Fragen zu Rate zog, war ziemlich verrückt. Doch es funktionierte, da Oliver sich seiner Unfähigkeit nicht bewusst war und die Schuld bei der Technik suchte.

Annedore beobachtete hibbelig, wie Oliver sein Telefon einsteckte und zur Tür ging. Ihr Blick schweifte hektisch durch das Zimmer. Friederike hob kurz die Hand über die Sessellehne und winkte, und Annedore nickte erleichtert.

Nachdem Oliver verschwunden war, wartete sie noch einen Augenblick und wagte sich dann hinter den Sesseln hervor. Sie streckte sich ausgiebig, ging zur Tür und sah vorsichtig hinaus, doch die Luft war rein. Nur Meike wartete aufgeregt im Gang.

»Mein Gott. Hat er dich gesehen?« stürmte sie auf Friederike los.

»Glaub nicht. Ich...«

»Mir war ganz schlecht, als Oliver plötzlich zurückkam und in sein Büro ging.«

»Und mir erst. Aber wenigstens hat es sich gelohnt.«

»Ah. Du hast den Zettel gefunden?«

Friederike zog den kleingefalteten Zettel aus ihrer Hosentasche und hielt ihn Meike hin. »Hier. Aber das habe ich nicht gemeint.«

»Was denn noch?« erkundigte sich Meike verwirrt.

»Warte nur ab. Annedore wird vor Neid platzen.«

**

Freitag, 09.12.

Kleiderschränke waren geheimnisvolle Gegenstände, die von jemandem erfunden worden sein mussten, der Frauen nicht leiden konnte. Und damit nicht genug. Kleiderschränke wurden von irgendeiner geheimnisvollen Kraft gelenkt und manipuliert, mit dem einzigen Ziel, Frauen zur Verzweiflung und schließlich in den Wahnsinn zu treiben. Das neueste Opfer war Meike. Missmutig starrte sie in die Tiefen der Schrankfächer.

So blöd das auch klang, wenn man den gefüllten Schrank betrachtete. Sie hatte nichts anzuziehen.

Sicher. Sie hatte jede Menge Sachen fürs Büro. Aber damit wollte sie in ihrer Freizeit nichts zu tun haben. Darüber hinaus gab es noch Abendgarderobe, Sportsachen und Sachen für zu Hause*.

Doch heute für den Mädelsabend brauchte sie irgendetwas dazwischen. Etwas Bequemes, in dem sie trotzdem gut aussah. Dummerweise schloss das eine das andere normalerweise aus, und Meike gab in solchen Fällen in der Regel der Bequemlichkeit den Vorrang.

Nicht jedoch heute, und sie wagte es nicht, genauer über den Grund dafür nachzudenken. Sonst hätte sie sich eingestehen müssen, dass die klitzekleine Möglichkeit, dass Björn seine Drohung wahr machte und auftauchte, der Auslöser war.

Meike bemühte sich, jeden Gedanken an Björn weit wegzuschieben. Aber die Bergmann aus der Kfz-Schadenabteilung machte es ihr unmöglich.

Schon die ganze Woche über hatte sie mit ihren dummen Fragen über Björn Meikes Nerven strapaziert. Und das, obwohl sie sieben Jahre älter war als Björn und dieser sie bislang konsequent ignorierte. Nicht einmal Björns Groupietruppe konnte sie abschrecken. Der Bergmannschen Theorie zufolge würde das nur umso schneller dafür sorgen, dass Björn bald die Nase voll haben würde von diesem unreifen Gemüse und sich nach Alternativen umsah. Und wenn das der Fall sein sollte, würde sie zur Stelle sein.

Meike reagierte darauf ausgesprochen gereizt. Der Grund dafür war ihr selbst ein Rätsel. Doch es störte sie nun mal und sie wünschte sich, die Bergmann würde wieder in den Tiefen der Kfz-Schadenabteilung verschwinden.

Meike hatte festgestellt, dass sie die Bergmann nicht mochte, obwohl sie keinen genauen Grund dafür nennen konnte. Aber so etwas sollte es geben. Spontane Abneigung. Hatte wohl irgendwas mit Chemie zu tun.

Sie sah auf die Uhr und erschrak. In einer halben Stunde musste sie die Kinder zu ihrem Schwiegervater bringen und losfahren.

Die Kinder spielten noch immer im Garten und versuchten vermutlich, die wenigen verbliebenen Schneereste zusammenzukratzen. Ron brachte gerade seine Mutter weg und würde erst später zurückkommen.

Unentschlossen starrte sie auf ihr schwarzes Kleid. Zusammen mit den hohen Stiefeln würde es vermutlich großartig aussehen. Nur leider bekam sie allein den Reißverschluss nicht zu. Einmal mehr verfluchte sie die Leute, die Kleider entwarfen, welche man nur mit fremder Hilfe anziehen konnte. Was dachten die sich eigentlich dabei? Dass jeder seine persönliche Zofe im Schrank hocken hatte?

Nach einem weiteren Blick auf die Uhr riss sie das Kleid vom Bügel. Egal. Dann würde eben ihr Schwiegervater helfen müssen. Jetzt sollte sie erst einmal die Kinder hereinholen und in einen sauberen, vorzeigbaren Zustand versetzen, bevor sie sie wieder abgeben konnte.

Eilig schlüpfte Meike in das Kleid und suchte die passenden Strumpfhosen heraus. Dann eilte sie zur Haustür hinaus und rief nach den Kindern. Sofern die beiden nicht allzu schlimm aussahen, standen die Chancen ganz gut, dass sie noch rechtzeitig loskam. Und es vorher auch noch schaffte, die Haare hochzustecken - warum auch immer sie sich die Mühe machen wollte.

Dann blieb ihr Blick auf dem gepflasterten Weg vorm Haus hängen und sie wunderte sich.

Woher kam der ganze Sand?

Im nächsten Augenblick bog Jule um die Ecke und hielt einen Eimer in der Hand. »Och Mama, du sollst noch nicht gucken«, beschwerte sie sich. »Wir sind doch gleich fertig.«

»Womit denn?« fragte Meike alarmiert.

»Hallo Mama. Wir streuen den Weg«, informierte Jacob, der seiner Schwester mit einer Schaufel hinterhertrottete.

»Das sehe ich. Woher habt ihr den Sand?« fuhr Meike die beiden an.

»Aus dem Sandkasten«, erklärte Jule stolz.

Fassungslos rannte Meike um das Haus. »Wie viel habt ihr denn schon..., oh Mann! Habt ihr etwa den ganzen Sand verstreut?«

»Jaha. Das ist der letzte Eimer.«

»Dürfen wir was naschen? Weil wir so fleißig waren?« fragte Jacob und sah Meike treuherzig an.

Sie raufte sich die Haare. »Das..., also das war ja wirklich gut gemeint. Aber der Sand muss wieder in den Sandkasten, klar?«

»Aber...«

»Kein Aber.« Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es schon viel zu spät war. »Passt auf. Ihr geht schon mal rein, wascht euch und zieht euch um, damit ihr zum Opa gehen könnt. Ich kehre das hier schnell zusammen und komme gleich, ja?«

Jacob hüpfte los, Jule blieb jedoch unentschlossen stehen.

»Aber wenn es wieder schneit, wird es ganz glatt. Und wenn dann nicht gestreut ist, fallen alle hin.«

»Ich..., ich weiß ja, dass du das gut gemeint hast. Aber erstens ist das viel zu viel Sand, und zweitens nützt er nichts, wenn er unter dem Schnee liegt. Wenn es wirklich wieder schneit und glatt wird, dann kann euch bestimmt der Papa was anderes zum Streuen geben, in Ordnung? Gehe dich jetzt bitte waschen und umziehen, ja?«

Jule sah sie zweifelnd an. »Na gut.«

Jacob kam angerannt. »Guck mal«, sagte er und hielt Meike seine offene Hand hin. »Das ist kaputt.«

»Was ist das?« fragte Meike entnervt.

»Der Schlüssel. Ist einfach so abgebrochen«, antwortete Jacob mit unschuldigem Gesicht.

Meike verlor keine Zeit mit Fragen. Panikerfüllt rannte sie zurück zur Haustür. Und tatsächlich. Der abgebrochene Rest des Schlüssels steckte noch im Schloss.

Wütend starrte Meike auf die Tür. Am liebsten hätte sie sie eingetreten. Doch ein restlicher Funken Vernunft hielt sie zurück. Außerdem ahnte sie, dass sie dabei den Kürzeren ziehen würde.

Die Gedanken rasten durch ihren Kopf und Meike bemühte sich verzweifelt, darunter einen brauchbaren zu finden. Nur einen.

Ihr Schwiegervater.

Er konnte helfen. Zumindest hatten ihre Schwiegereltern ein Telefon, um den Schlüsseldienst anzurufen.

»Ihr könnt schon mal anfangen, den Sand zusammenzukehren«, rief sie den Kindern zu und rannte los.

»Äh, womit denn?« schrie Jule zurück.

Verdammt. Der Besen und das Kehrzeug waren in der Garage.

»Dann wartet dort«, rief Meike und hoffte inständig, dass dort etwas war, wo ihren Kinder nicht der nächste Blödsinn einfiel. Und dass ihr Schwiegervater die Klingel hörte.

**

Über zwei Stunden später fuhr sie endlich los.

Der Schlüsseldienst hatte mehr als eine Stunde gebraucht, bis jemand kam. In der Zwischenzeit hatte sie mit Hilfe ihres Schwiegervaters den Sand dahin zurückgebracht, wohin er gehörte. Und auch ziemlich viel Dreck, doch das ließ sich nicht ändern.

Ihr Schwiegervater schien das Ganze ziemlich spaßig zu finden. Vermutlich war er deshalb so entspannt, weil ihm ein Wochenende ohne seine Frau bevorstand. Meikes Humor war jedoch schon vor über zwei Stunden an seine Grenzen gestoßen.

Wenigstens würde der Rest des Abends lustiger verlaufen. Zumindest hoffte sie das. Friederike hatte nur unter der Bedingung zugesagt, dass das Thema Schwiegermütter nicht angesprochen wurde. Meike sollte das nur recht sein. Auch ihr lag nichts daran, heute Abend daran erinnert zu werden.

Allerdings tauchte vielleicht auch Björn auf und sie wusste noch immer nicht, ob sie das gut fand oder nicht. Zumindest schränkte das die Gesprächsthemen ein. Beispielsweise konnte man nicht mehr über Björn reden. Stattdessen musste sie mit ihm reden und sie war sich noch nicht sicher, ob sie dem gewachsen war.

Wenn es ganz schlimm kam, würde er von der blöden Bergmann anfangen. Wie heute im Büro, als Meike ihre Erkenntnis, dass sie die Bergmann nicht leiden konnte, laut aussprach. Björn hatte ganz erstaunt geguckt und behauptet, dass er sie ganz nett fände.

Soso. Ganz nett also.

Meike wusste nicht genau, wieso sie das störte. Schließlich war sie eine glücklich verheiratete Frau und sollte auch Björn sein Leben gönnen. Selbst wenn er zu dem Entschluss kommen sollte, es mit der Bergmann verbringen zu wollen.

Es musste doch noch andere Gesprächsthemen geben. Zum Beispiel die neuesten Entwicklungen bei Pia und Oliver. Obwohl das Thema Pia und der alte Holle auch im Büro schon zur Genüge durchgekaut worden war. Pia hieß jetzt neuerdings Frau Holle. Noch schöner wäre es freilich, wenn man das auch in ihrem Beisein sagen könnte. Und wenn es endlich wieder schneien würde. Doch offiziell wusste keiner was davon, sodass sie genau aufpassen mussten, wer gerade in der Nähe umherschlich, wenn dieses Thema auf den Tisch kam.

**

Samstag, 10.12.

Morgenstund hatte angeblich Gold im Mund. Aber das war gelogen. Blei kam der Sache da schon näher. Besonders dann, wenn man in der Hoffnung auf samstägliches Ausschlafen einen langen Abend beziehungsweise Morgen in der Kneipe verbracht hatte und kurz nach Sechs von seinem Sohn aus dem Schlaf geholt wurde, weil er meinte, er sei jetzt Spiderman.

 

Ron ließ sich selbst von der beeindruckenden Demonstration der Kletterfähigkeiten seines Sohnes nicht stören und schlief seelenruhig weiter.

Meike hätte ihn dafür treten können. Aber vermutlich wäre er dann nur noch tiefer in sein Kissen gekrochen.

Es war ihr ein Rätsel, wie man so tief schlafen konnte. Obwohl sie mitunter argwöhnte, dass er nicht wirklich schlief. Es war wahrscheinlicher, dass er nur geschickter schauspielerte und darauf spekulierte, dass Meike sich schon um alles kümmern würde und er bald wieder seine Ruhe hatte. Diese Taktik machte durchaus Sinn, wie Meike zugeben musste. Schließlich wurde man, wenn einen die Kinder nachts weckten, nicht immer mit lächelnden Kindergesichtern und Kuscheleinheiten belohnt. Mitunter erwartete einen auch ein Bett voller Erbrochenem.

Normalerweise machte es Meike nicht viel aus, sich morgens allein um die Kinder zu kümmern und Ron noch etwas schlafen zu lassen. Normalerweise ging sie aber auch eher zu Bett. Und in ihrem Kopf befand sich normalerweise kein Hammerwerk. Und dabei hatte sie noch nicht einmal etwas getrunken, da sie noch immer die schwache Hoffnung hegte, vielleicht doch schwanger zu sein.

Und normalerweise war lautes Schreien in dieser Situation nicht zu empfehlen. Es tat auch heute nicht gut, zumindest nicht dem Hammer in ihrem Kopf. Aber es befreite.

Und es sorgte dafür, dass Ron auch nicht mehr schlafen konnte. Das hatte er auch nicht verdient. Spätestens als er Meike vorwarf, dass sie selbst schuld sein, wenn sie sich als Mutter von zwei kleinen, dem morgendlichen Schlaf abgeneigten Kindern nachts in Bars herumtrieb.

Der hatte sie doch nicht mehr alle.

Wenn er mit seinen Kumpels zum Fußballabend ging, konnte sie froh sein, wenn er bis zum Mittagessen wieder in der Welt der Ansprechbaren weilte. Zumindest der Welt der sehr, sehr leise Ansprechbaren.

Immerhin hatte er sich entschuldigt. Aber erst, nachdem er zwei Stunden nach Meike aufgestanden war. Wobei es fraglich war, ob es ihm in diesen zwei Stunden gelungen war, erfolgreich einzuschlafen.

Im Gegensatz zu sonst hatte Meike den Kindern erlaubt, im Flur zu spielen. Womit auch immer. Und niemand konnte von Spiderman verlangen zu flüstern. Oder zu schleichen und leise mit der Wand zu kämpfen.

Sie hatte den Lärm nicht direkt erlaubt, sondern es lediglich versäumt, ihn ausdrücklich zu unterbinden. Schließlich hatte sie auch noch etwas anderes zu tun. Haushaltssachen und so.

Es war trotzdem zum Streit gekommen. Bei Schlafmangel lagen die Nerven immer besonders schnell blank. Inzwischen war Ron ins Arbeitszimmer verschwunden, wo er vermutlich wieder schlief, und die Kinder spielten draußen.

Meike beobachtete, wie die Rouladen in der Pfanne allmählich braun wurden, und seufzte.

Sie hatten schon immer viel gestritten. Und das war im Grunde genommen auch gut so, solange man es damit nicht übertrieb.

Es war Meike ein Rätsel, wie manche Leute mit dauerhafter Harmonie klarkamen, ohne davon erschlagen zu werden oder vor Langeweile zugrunde zu gehen. Sie hatte von Paaren gehört, die behaupteten, noch niemals ein böses Wort zueinander gesprochen oder auch nur die Stimme erhoben zu haben. Meike hegte den Verdacht, dass diese Leute logen, was auch erklärte, weshalb trotz aller Eintracht die Trennungsrate derartiger Paare mindestens genauso hoch war wie die normaler Paare. Die Trennung kam bei ersteren nur überraschender für die anderen.

Nicht jedoch für Meike. Dauerhafte Harmonie würde sie verrückt und aggressiv machen. Das war nicht normal, mochten diese Leute behaupten, was sie wollten. Menschen waren einfach nicht für Harmonie geschaffen. Ganz besonders nicht Männer und Frauen untereinander.

Solange die grundsätzlichen Anschauungen und Ziele übereinstimmten und man es mit dem Schreien nicht übertrieb, war alles in bester Ordnung.

Meikes Problem bestand darin, dass Ron und sie in letzter Zeit fast nur noch stritten. Oder sich gekränkt anschwiegen. Die friedlichen Phasen nach der Versöhnung wurden immer kürzer, und das bereitete ihr Sorge.

Sie sollte mit Ron darüber sprechen. Und genau da lag ein weiteres von Meikes Problemen.

Er sprach nicht gern über solche Dinge. Wenn Meike darauf bestand, hörte er ungeduldig zu, sagte ja ja und schielte zur Fernbedienung, weil er schon die erste Halbzeit verpasst hatte.

Ganz egal, was Meike ihm sagte - später behauptete er, noch nie etwas davon gehört zu haben. Und vermutlich stimmte das sogar.

Sie wusste nicht, was er während der Zeit tat, wenn sie sich mit ihm aussprach. Zuhören jedenfalls nicht. Doch sie konnte ihn auch schlecht wie ein Kleinkind jeden Satz wiederholen lassen, um sicherzugehen, dass er es verstanden hatte.

Meike wendete die Rouladen. Ihre Gedanken wanderten wieder zum gestrigen Abend. Es war ein lustiger Abend gewesen. Bis Björn auftauchte und die blöde Bergmann mitbrachte. Danach war es zwar immer noch lustig, aber Meike konnte es nicht mehr so genießen, weil sie ständig das Gefühl hatte, sich selbst zu beobachten und nachzudenken, wie das, was sie tat oder sprach, bei Björn ankam. Zu dumm.

Und dann war da auch noch dieses seltsame Gespräch, als alle anderen plötzlich verschwunden waren und sie mit Björn und der Bergmann allein dasaß.

Ausgerechnet da meinte dieses dumme Huhn, Björn auf seine Frauengeschichten ansprechen zu müssen und zu fragen, wieso er bisher immer nur Frauen hatte, die knapp der Pubertät entronnen waren. Wer wollte das schon so genau wissen.

Björn erklärte, mit jüngeren Frauen sei alles einfacher und unproblematischer, wenn man nur etwas Unverbindliches suchte. Das klang einleuchtend. Doch dann hatte er Meike gefragt, was sie davon hielt.

»Also, ich hätte keine Lust, meine Zeit mit jemandem zu verschwenden, der sich nicht festlegen möchte«, hatte sie gereizt geantwortet.

»Und Ron ist so einer, mit dem du deine Zeit nicht verschwendest?« fragte Björn ernst.

»Äh..., ja«, hatte Meike erwidert und sich gefragt, wieso ihr diese Antwort hier und jetzt so schwer fiel.

Björn hatte sie mit einem Blick angesehen, der sie fast vom Barhocker fallen ließ und leise gesagt: »Aber vielleicht ist er das nur deshalb, weil er die Richtige gefunden hat. Und weil sie ihn haben wollte.«

Meike wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte und wurde rot. Verdammt.

Das war schon immer so gewesen, und je mehr Meike darüber nachdachte, umso schlimmer wurde es. Wann immer ihr etwas Peinliches passierte, Meike im Mittelpunkt unberechenbarer Leute stand, oder jemand ihr mehr als das übliche Maß an Aufmerksamkeit schenkte - ihrem Kopf war das noch nicht Aufregung genug. Nein. Er musste die rote Lampe anknipsen und dafür sorgen, dass das Interesse der anderen an ihr noch größer wurde. Genauso gut konnte sie sich ein blinkendes Schild umhängen mit der Aufschrift Bitte anstarren.

Das Telefon klingelte.

Meike fluchte leise und wartete einen Moment, ob Ron rangehen würde. Doch offensichtlich schlief er wirklich. Oder war gerade von etwas Spannenderem abgelenkt, wie zum Beispiel Fußballergebnisse und die anschließenden Rechtfertigungen der Trainer.

Resigniert holte sie das Telefon und ging wieder zu ihren Rouladen.

»Hallo?« sagte sie missmutig, als keiner reagierte.

»Oh, Meike. Bist du´s?« fragte eine Frauenstimme.

»Ja«, erwiderte sie vorsichtig. Das kam darauf an.

»Oh, gut«, sagte das Telefon erleichtert. »Helena hier. Ich will auch nicht lange stören. Es ist nur... du solltest mal nach deinen Kindern sehen.«

»Wieso?« fragte Meike alarmiert. Was hatten die beiden nun schon wieder angestellt?

»Na ja. Sie verkaufen auf der Straße Sachen.«

Fragen schossen durch Meikes hämmernden Kopf und verbesserten damit den Zustand dort nicht.

»Was denn für Sachen?«

»Spielzeug und so.«

»Das…, das kann doch nicht wahr sein! Wie kommen die nur... egal. Ich geh gleich raus. Danke, dass du...«

»Äh, du solltest dich beeilen. Das ist noch nicht alles.«

»Was denn noch?« Meikes Panik wuchs. Warum? Warum ausgerechnet heute? Und warum immer ich?

»Sie erzählen allen, dass sie ihre Sachen verkaufen müssen, weil die Oma euch das Geld wegnehmen will.«

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