Die Schwiegermutterwette

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»Sieh mal. Selbst wenn wir jetzt noch ein Kind bekommen. Deine Mutter ist vierundfünfzig und dein Vater fünfundfünfzig Jahre alt. Jule ist spätestens in elf Jahren mit der Schule fertig und wird dann vermutlich bald ausziehen. Dann sind deine Eltern gerade einmal Mitte Sechzig. Meinst du nicht, dass das früh genug wäre, um hier im Haus Platz für deine Mutter zu schaffen? Falls das überhaupt notwendig wird. Schließlich wohnt sie nicht sonst wo, sondern gleich nebenan. Da kannst du dich auch so ganz gut um sie kümmern, wenn irgendetwas passieren sollte.«

»Ich weiß nicht«, sagte Ron. »Ich finde, wir sollten trotzdem warten. Vielleicht gewöhnt sie sich mit der Zeit ja noch an den Gedanken.«

»Ach. Und wenn nicht?«

»Dann genügen vielleicht auch zwei Kinder. Immerhin machen die beiden schon genug Ärger«, behauptete Ron mit schiefem Lächeln.

Meike antwortete nicht. Was sollte sie auch sagen.

Sie musste unbedingt mal mit ihrem Schwiegervater reden.

**

Montagmorgen.

Meike kümmerte sich um die gequälten Pflanzen im Büro. Um Pias Weihnachtsstern musste sich niemand mehr kümmern. Hier kam jede Hilfe zu spät und Meike lächelte müde.

Es war gestern spät geworden. Und sie war selbst schuld daran, also konnte sie niemanden verfluchen. Höchstens ihr Buch.

Ron hatte sich mit irgendetwas im Arbeitszimmer beschäftigt und das Fernsehprogramm war so reizlos, dass sie schon erwogen hatte, kurz vor neun zu Bett zu gehen.

Hätte sie es mal gemacht.

Stattdessen nutzte sie die Zeit, endlich einmal wieder zu lesen. Meike war eine leidenschaftliche Leserin, kam jedoch nur selten dazu. Aber wenn doch, dann richtig.

Das Dumme an Büchern war, dass sie keine Werbepausen hatten, in denen sich die Vernunft aktivierte und einem klar wurde, dass man besser zu Bett gehen sollte, weil man in ein paar Stunden vom Wecker gnadenlos wieder herausgeholt wurde. Oder noch etwas früher von Jacob, der gelegentlich auch gegen fünf Uhr schon den Drang verspürte, aufzustehen und Lärm zu verbreiten.

Ganz besonders schlimm wurde es, wenn das Buch spannend war und gar nicht mehr so viele Seite übrig waren*.

Sie konnte in solchen Momenten einfach nicht aufhören. Es wäre einem Verbrechen gleichgekommen, in solch einer Situation das Buch wegzulegen und schlafen zu gehen.

Bücher konnten süchtig machen. Doch wenigstens wurde man dabei nicht krank oder verrückt. Jedenfalls nicht von jener Art Bücher, die Meike bevorzugte.

»Guten Morgen«, sagte Friederike und Meike zuckte zusammen. Sie hatte sie gar nicht hereinkommen hören.

»Oh. Hallo.« Dann lächelte sie gezwungen. »Na? Schönes Wochenende gehabt und Hochzeit geplant?«

»Schön wärs.« Friederike seufzte und zog sich langsam die Jacke aus. »Ich denke mal, deine Führung ist dahin. Heute kriege ich garantiert fünf Punkte.«

Meike musste erst einmal umschalten. »Oh. Äh, also da würde ich nicht drauf wetten. Bei mir werden es bestimmt auch fünf Punkte. Mindestens.«

»Was? Schon wieder?«

»Hm. Man könnte beinahe glauben, unsere Schwiegermütter wüssten von der Wette und kämpfen mit allen Mitteln, den Sieg zu holen, was?«

»Sieht ganz so aus. Ich glaube, meine würde die Herausforderung mit Freuden annehmen.« Friederike gab sich einen Ruck. »Na los. Wer zuerst? Du oder ich?«

**

Montag, 05.12.


Punktestand:
Meike8
Friederike5

Die Montagsversammlung begann und die Punkte waren verteilt. Meike führte weiterhin und konnte ihren Vorsprung noch ausbauen, da ihr zusätzlich zu den fünf Punkten für die Drohung ihrer Schwiegermutter mit dem Entzug des Kredits auch noch zwei Punkte für deren nächtliches Erscheinen anerkannt wurden.

Meike argwöhnte, dass das eine Art Mitleidsbonus war, da ihr Mann - mal wieder - schwach geworden war. Vincent hingegen hatte auf Friederikes Seite gestanden. Auch wenn ihn jetzt Zweifel plagten. Aber wenigstens hatte er darüber mit Friederike gesprochen.

Friederike sah das nicht so optimistisch. Das Gespräch gestern hatte sie zutiefst beunruhigt und sie fragte sich, wie tief Vincents Bedenken tatsächlich saßen.

Sie liebte ihn wirklich. Und sie bekam sein Kind. Doch jetzt stellte er ihre Motive in Frage. Also hatte das Manöver seiner Mutter irgendwie doch sein Ziel erreicht, wenngleich auch etwas anders als geplant.

Sie hatten gestern noch lange miteinander gesprochen, und Friederike war am Ende ganz zuversichtlich gewesen. Doch heute Morgen war dieses Gefühl wieder verschwunden und die Besorgnis wuchs.

Dieser dumme Gedanke steckte nun einmal in Vincents Kopf und noch war unklar, wie hartnäckig er sich dort festsetzte und vielleicht noch verbreitete. Wer wusste schon, was im Kopf eines Mannes vorging.

Über die Hochzeit war gar nicht mehr gesprochen worden und Friederike fragte sich, wann sie dieses Thema wieder anschneiden konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass sie Vincents Bedenken damit wieder auf den Plan rief.

»Es schneit!« Björn sprang von seinem Stuhl auf und rannte zum Fenster.

»Ich muss doch wohl bitten«, rief Oliver empört, doch inzwischen standen auch die meisten anderen am Fenster und drückten ihre Nasen an die Scheibe.

Meike war sitzen geblieben und lächelte. Früher in der Schule war es genauso gewesen. Jahr für Jahr. Es gab Lehrer, die für ein derartiges Verhalten Einträge ins Hausaufgabenheft verteilten. Aber das änderte nichts. Die Faszination des ersten Schnees war stärker. Selbst in den größeren Klassen, als man eigentlich cool sein wollte.

Es hatte zwar schon mal am vergangenen Wochenende ein wenig geschneit, doch das war nachts gewesen. Ein bisschen Schnee am Boden sah ganz nett aus, aber er war nichts gegen große, weiße Flocken, die vom Himmel fielen.

Meike mochte Schnee. Zumindest solange sie ihn nicht schippen musste.

»Könnten sich die Herrschaften bitte wieder auf ihre Plätze begeben? Meine Güte, es ist doch nur Schnee!« Olivers Entrüstung schwang in jedem einzelnen Wort mit und nach und nach setzte sich die Abteilung wieder an den Tisch und starrte träge auf die Tischmitte.

Auch hier hatte jemand versucht, weihnachtliche Stimmung zu erzeugen, und ein geschmackloses Weihnachtsgesteck aufgestellt. Meike hatte Pia in Verdacht. Doch der gute Wille zählte und so blickten Meikes müde Augen auf eine rosarote Weihnachtskugel, in der sich Björns Kopf spiegelte und diesen seltsam verzerrte.

Pias Stimme erklang. »Wir sollten endlich einmal über die Weihnachtsfeier sprechen.«

Oliver sah sie verständnislos an. Und die meisten anderen auch.

Was gab es da zu besprechen? Sie würden wie jedes Jahr am Freitag vor dem vierten Advent im Alten Braukeller eine Rede von Oliver ertragen und hinterher versuchen, diese bei einem guten Essen wieder zu vergessen. Danach würden sich als erstes die Familienmütter nach Hause verdrücken, und der Rest würde nach und nach grüppchenweise ebenfalls verschwinden. Allerdings nicht nach Hause, sondern in irgendeine Bar, in der sie Oliver nicht ertragen mussten.

Wer das verschlief und nicht rechtzeitig den Absprung schaffte, blieb an Oliver hängen, der dann am folgenden Montagmorgen regelmäßig prahlte, was für einen Spaß man noch hatte und was die anderen alles verpasst hätten.

Oliver räusperte sich verwirrt. »Ich dachte, das wäre geklärt. Der Tisch ist doch bestellt, oder?«

»Ja. Aber...«

»Na also. Außerdem gibt es heute etwas anderes zu besprechen.« Er räusperte sich theatralisch. »Ab morgen bis Ende Januar haben wir die Auszubildenden im zweiten Jahr bei uns in der Abteilung. Und ich habe mir gedacht, dass das die beste Gelegenheit ist, unsere Arbeitsrückstände in den Griff zu bekommen.«

Meike starrte ihn mit offenem Mund an. Wie stellte er sich das denn vor?

»Wir vertrödeln viel zu viel Zeit mit einfachen Routinetätigkeiten, welche auch die Auszubildenden beherrschen müssten. Wir sollten uns also so organisieren, dass die Schadensachbearbeiter, also Sie, die Vorgänge prüfen, alle wichtigen Entscheidungen treffen und die etwas komplizierteren Schreiben verfassen. Alles, was ansonsten noch zu erledigen ist wie beispielsweise das Erstellen von Formbriefen, Aktenanlage, Kopierarbeiten und so weiter, kann von den Auszubildenden übernommen werden. So müssten wir die Rückstände, wenn es gut läuft, schon bis Weihnachten halbieren können.«

Oliver blickte erwartungsvoll in die Runde.

»Aber die sind nicht hier für die Idiotenarbeiten, sondern die sollen was lernen«, warf Björn ein.

»Das ist ja richtig. Doch zuerst einmal müssen sie die Grundlagen beherrschen und die allgemeinen Abläufe kennen. Das geht am besten mit einfachen Tätigkeiten.«

»Mag sein. Aber wenn wir jetzt noch einen Haufen Auszubildende bewachen müssen, werden die Rückstände nicht weniger, sondern mehr. Das war in letzten Jahren genauso. Die dürfen nichts selbständig machen, und wir müssen alles noch einmal kontrollieren. Und wenn sie etwas falsch machen, müssen wir es erklären - wenn´s sein muss, auch zum zehnten Mal. Solange, bis sie es endlich kapiert haben. Ich weiß ja nicht, wie die Neuen jetzt sind. Aber bei den letzten waren zwei dabei, die sich so dämlich angestellt haben, dass man glauben konnte, sie wären aus irgendeiner Anstalt ausgerissen. Oder von der Konkurrenz eingeschleust worden.«

Die gemeinsamen Erinnerungen zauberten ein Grinsen in die meisten Gesichter. Es gab kaum einen in der Abteilung, der nicht irgendeine Geschichte über Dick und Doof, die beiden dümmsten Azubis aller Zeiten, erzählen konnte. Diesen Titel hatten sie sich ehrlich erarbeitet. Für Meike hatte einer der beiden, Doof, eine Polizeiakte in den Aktenvernichter gesteckt, anstatt sie zu kopieren. Glücklicherweise war nach den ersten drei Blättern eine Foto-CD eingeheftet, was den Auszubildenden verwirrte und veranlasste, Meike zu befragen.

 

Oliver schien die entsprechenden Erinnerungen vollständig verdrängt zu haben. Für ihn waren die Auszubildenden die Lösung all seiner Probleme. Jetzt brauchte er nur noch jemanden, der sich um sie kümmerte und das Chaos, das sie anrichten sollten, koordinierte.

Björn hatte sich nicht unauffällig genug verhalten und qualifizierte sich damit für diese Aufgabe.

»Herr König, ich denke Sie sind der richtige Mann dafür«, erklärte Oliver.

Björn warf erboste Blicke in Olivers Richtung, hielt aber den Mund. Er wollte es nicht noch schlimmer machen.

»Bis die Auszubildenden kommen, stellen Sie Ihre sämtlichen noch offenen Akten zusammen und bringen sie zu mir. Ich werde sie dann an die anderen Mitarbeiter verteilen. Sie werden ausschließlich als Ansprechpartner für die Auszubildenden agieren.«

»Äh..., wie soll das denn gehen, ohne Akten?« fragte Björn verwirrt.

»Sie teilen die Auszubildenden den Mitarbeitern der Abteilung zu«, erklärte Oliver ungeduldig und sah auf die Uhr. »Die geben dann Aufgaben an die Auszubildenden weiter, welche diese mit Ihrer Hilfe erledigen. Soweit alles klar?«

»Äh, ja«, behauptete Björn und sah die anderen zweifelnd an.

Er war mit einem Schlag sämtliche Akten losgeworden. Das sollte ihn eigentlich freuen. Einige drückten sich schon länger bei ihm herum als üblich, und das aus gutem Grund. Björn würde sie mit einem lauten Hurra abgeben und hoffen, dass sie jemandem aufgehalst wurden, den er nicht mochte.

Doch das, was ihn erwartete, war unter Umständen schlimmer als die dickste Schadenakte. Oder auch nicht. Man wusste es nicht.

Oliver sah in die Runde. »Noch Fragen?«

Köpfe wurden zögerlich geschüttelt.

»Na dann ist ja alles klar. Wir treffen uns heute Nachmittag noch einmal, wenn die Auszubildenden da sind. Und Sie denken an Ihre Akten«, fügte Oliver in Björns Richtung hinzu und hastete aus dem Zimmer.

»Wieso hat er es denn so eilig?« fragte Meike verblüfft.

Olivers Versammlungen zogen sich sonst gut und gerne eine Stunde hin, selbst wenn es eigentlich nichts zu besprechen gab. Aber er hörte sich nun einmal furchtbar gerne selbst reden.

»Ich habe heute Morgen gehört, dass jemand von oben sich mit ihm unterhalten will«, flüsterte Annedore.

»Wo hast du das denn schon wieder her?« erkundigte sich Friederike belustigt.

Wenn man etwas wissen wollte, musste man nur Annedore fragen. Sie besaß außergewöhnliches Talent, zu den richtigen Zeiten an den richtigen Orten zu sein und die wirklich wichtigen Dinge zu belauschen. Friederike war ausgesprochen dankbar dafür, dass Annedore sie mochte.

»Der Herr Holle vom Vorstand war heute Morgen mit im Fahrstuhl und hat mit einem herumgetuschelt, den ich nicht kannte.«

Ah. Das erklärte einiges. Neben ihrem außergewöhnlich guten Timing verfügte Annedore auch über ein sensationelles Gehör. Und sie hatte keine Skrupel, das auszunutzen.

Jeden anderen hätte Friederike abfällig als Schnüffler bezeichnet und einen weiten Bogen um ihn gemacht. Nicht so bei Annedore. Wenn jemand für die richtige Seite schnüffelte, hatte das durchaus etwas Ehrenwertes. Und Nützliches.

Eilig standen sie auf und folgten Oliver.

Und sie waren keine Minute zu früh. Denn da kamen sie und verschwanden in Olivers Büro. Der Holle aus der Chefetage und...

»Mist. Das scheint um die Rückstände zu gehen«, meinte Meike und musterte resigniert das karierte Jackett des anderen Mannes.

Dessen Name war Gierig und er war der Leiter der Kfz-Schadenabteilung. Damit gehörte er zur internen Konkurrenz, die man schon rein aus Prinzip verachtete. Und das war nicht alles. Herr Gierig gehörte zu den Strebern.

Seine Abteilung hatte es - wie auch immer - geschafft, keine Arbeitsrückstände anzuhäufen. Und damit wurde sie allen anderen Abteilungen als leuchtendes Vorbild ans Herz gelegt. Es wurde gemunkelt, dass der Gierig es mit Bestechung an den richtigen Stellen geschafft habe, mehr Angestellte zu bekommen. Die Anzahl der Schadensachbearbeiter einer Abteilung wurde normalerweise anhand der Menge der zu bearbeitenden Akten bestimmt. Dieses Verhältnis sollte der Gierig zu seinen Gunsten manipuliert haben. Aber keiner wusste etwas Genaues. Annedore arbeitete noch daran.

Olivers Abteilung kämpfte zur Zeit mit den größten Rückständen. Zum einen lag das an einer Umstellung der Software vor sechs Wochen. Danach hatte das blanke Chaos geherrscht.

Zum anderen hatte aber auch keiner in der Abteilung Lust, sich von einer so unmöglichen Person wie Oliver antreiben zu lassen. Außer Pia vielleicht. Doch das war auch die Einzige, bei der er sich zumindest gelegentlich dafür bedankte.

»Vielleicht sollten wir uns jetzt lieber über unsere Akten hermachen«, seufzte Friederike. »Heute Nachmittag kommt noch ein Stapel von Björn dazu.«

»Richtig. Vielleicht... oh, wo ist er denn?« fragte Meike und sah sich nach Björn um. Doch der war schon in seinem Büro verschwunden.

»Da kann es einer gar nicht abwarten, seine Akten loszuwerden«, mutmaßte Annedore. »Ich gehe mal nachsehen.«

Und schon war auch sie weg. Sie teilte Björns Büro, welches direkt an das von Meike und Friederike grenzte, mit Pia und einer weiteren Kollegin, was sie jedoch nicht davon abhielt, auf der gesamten Etage zu Hause zu sein.

»Na dann wollen wir mal«, meinte Meike.

**

Zwei Stunden später war noch immer keiner aus Olivers Büro gekommen. Im Gegenteil. Es war noch jemand dazugerufen worden. Und zwar ausgerechnet Pia.

»Das sieht nicht gut aus«, behauptete Friederike.

Aus dem der offenen Tür des Nachbarzimmers klang Gesang. Und zwar weihnachtlicher.

Lasst uns froh und munter sein,

und uns recht von Herzen freun,

lustig, lustig, trallallallalla,

bald ist Oliver hier nicht mehr da, bald ist Oliver hier nicht mehr da.

Das war eindeutig Annedores Stimme und Meike fragte sich, ob sie schon wieder mehr wusste als alle anderen.

Sie stand auf und ging zur Tür, um der Sache auf den Grund zu gehen. Friederike folgte ihr.

»Na? Wollt ihr auch mitsingen?«

»Hast du wieder jemanden belauscht und uns nichts gesagt?« fragte Meike.

»Nee. Wieso?«

»Na, weil du gerade gesungen hast, dass Oliver...«

»Ach so. Das. Das sieht doch jeder.«

»Äh, was genau sieht jeder?«

»Dass Oliver abgesetzt wird.«

»Wie… wieso?« erkundigte sich Friederike verblüfft.

»Also wenn extra einer von den Chefs herabsteigt und nicht wieder geht, ist das entweder eine Beförderung oder das Gegenteil. Und mal ehrlich. Warum sollte ausgerechnet Oliver befördert werden?«

»Und warum ist dann Pia da drin?« fragte Meike.

»Sie hat den Braten gerochen und petzt. Vermutlich denkt sie, dass Loyalität zu Oliver im Moment mehr schaden als nützen kann. Gar nicht so dumm. Kann aber auch nach hinten losgehen«, prophezeite Orakel Annedore.

»Woher willst du das denn wissen?« wandte Friederike zweifelnd ein.

»Gar nicht. Aber es würde passen.«

»Vielleicht wird Pia ja auch neue Abteilungsleiterin«, sagte Björn und grinste gequält.

»Das ist nicht komisch«, fuhr Annedore ihn an.

»Dann kündige ich. Oder lass mich versetzen«, bemerkte Meike entsetzt.

»Ach Quatsch. Das passiert schon nicht. Kennt ihr übrigens schon die zweite Strophe?

Dann steck ich ihm die Zunge raus

Das macht Oliver gewiss was aus.

Lustig, lustig, tralla...«

»Ich hab was für die dritte Strophe«, sagte Friederike.

»Wenn ich aufgestanden bin,

lauf ich froh zur Arbeit hin...«

»Genau. Und die vierte ist auch einfach.« Annedore war ganz bei der Sache.

»Olli ist ein gemeiner Mann,

den hier keiner wirklich leiden kann,

lustig, lustig, trallallallalla,

bald ist Oliver hier nicht mehr da, bald ist Oliver hier nicht mehr da.«

»Gemein?« fragte Björn mit gerunzelter Stirn. »Wohl eher ein hinterhältiger Wurm.«

»Das passt aber nicht rein.«

»Stimmt aber trotzdem.«

»Hm. An der letzten Strophe können wir ja noch arbeiten«, sagte Annedore.

»Was ist denn hier los?« fragte eine Stimme hinter Meike und Friederike und aufgeschreckt drehten sie sich um.

Oliver stand in der Tür und sah sichtlich angeschlagen aus.

»Wir singen Weihnachtslieder zur Motivation«, rief Annedore und lächelte tapfer.

Oliver wollte etwas entgegnen, winkte dann jedoch ab und ging wortlos wieder hinaus.

»Wo kam der denn plötzlich her?« fragte Friederike konsterniert, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Oliver wirklich weg war.

»Du weißt doch, dass Anschleichen seine Spezialität ist«, entgegnete Annedore.

»Du musst es ja wissen«, erwiderte Meike und grinste.

»Der Zweck heiligt die Mittel«, behauptete Annedore. »Möchte mal wissen, was da rausgekommen ist. Und was er jetzt macht.«

»Ich bin mir sicher, du wirst es in Kürze in Erfahrung bringen«, meinte Björn zuversichtlich.

»Vermutlich sucht er unsere Personalakten raus und macht einen Vermerk«, sagte Friederike.

»Nee. Der hat andere Sorgen.« Orakel Annedore wandte sich zu Björn. »Du solltest deine Akten fertig kriegen. Die nächste Versammlung geht gleich los.«

»Woher willst du denn das schon wieder wissen?«

»Dein Kindergarten ist da.«

»Was?«

Annedore zeigte in den Gang. »Die sind gerade vorbeigegangen. Kannst gerne nachsehen.«

»Die sollten doch erst heute Nachmittag kommen!«

Annedore zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer. Jetzt sind sie jedenfalls da. Ach, was ich euch noch fragen wollte«, wandte sie sich wieder an Meike und Friederike. »Bleibt es bei Freitag Abend?«

»Bei mir schon«, erwiderte Meike und sah Friederike fragend an.

»Klar. Sobald Mike Bruno abgeholt hat, hab ich Zeit.«

»Was ist denn am Freitag Abend?« fragte Björn.

»Mädelsabend«, erklärte Annedore.

»Oh. Ach so.« Björn zog eine Grimasse. »Äh, kann ich vielleicht auch mitkommen?«

»Was?« fragte Meike verblüfft. »Hat deine Freundin nichts dagegen?«

Oliver erschien wieder in der Tür und funkelte die Versammlung an. Neben ihm stand Frau Bergmann aus der vorbildlichen Konkurrenzabteilung. »Herr König, ich hoffe, ich störe Sie nicht. Ihre Auszubildenden sind da und es wäre schön, wenn Sie sich hier losreißen könnten, um sie kennen zu lernen.«

»Oh, äh..., ja. Natürlich«, stammelte Björn. »Und die Akten?«

»Die können Sie danach zu mir bringen«, erwiderte Oliver giftig und sah Frau Bergmann an. »Sie kommen hier alleine klar?«

Frau Bergmann nickte. Oliver drehte sich um und stapfte davon. Björn trottete missmutig hinterher.

Annedore sah ihm nach und stieß Meike an. »Hast du es noch nicht gehört? Mit seiner Freundin ist Schluss. Mal wieder.«

Frau Bergmann musterte jetzt ebenfalls Björns entschwindende Gestalt. »Hm. Nicht schlecht. Wie alt ist er?«

Meike zog überrascht die Augenbrauen nach oben.

»Gerade dreißig geworden«, erklärte Annedore, die heute offensichtlich nichts aus der Fassung bringen konnte. »Eigentlich wollte er jetzt zur Ruhe kommen«, ergänzte sie und schielte zu Meike.

»Äh...« Frau Bergmann überlegte kurz. »Er steht nicht zufällig auf Ältere?«

Da schien es eine aber nötig zu haben. Meike musterte Frau Bergmann gereizt. Was hatte die hier überhaupt zu suchen?

»Wenn das so sein sollte, dann wusste er bisher selbst noch nichts davon«, meinte sie schließlich. »Bis jetzt hatte er immer Jüngere. Viel Jüngere. Das erklärt auch die Fluktuation. Die jungen Hüpfer wollen Party, aber keine Familie.«

Friederike schniefte und warf Annedore einen Blick zu.

Die gesamte Abteilung argwöhnte, dass Björn in Meike verschossen war. Alle, außer Meike. Na ja, vermutlich auch außer Pia, die sich selbst viel zu wichtig war, um so etwas mitzubekommen.

 

Heute Morgen, als Meike und Friederike ihre Schwiegermuttererlebnisse zum Besten gaben, war nicht zu übersehen, wie Björn litt, als Meike den ehelichen Zeugungsversuch vom Samstagabend erwähnte.

Doch vielleicht war es auch besser, wenn Meike nichts davon ahnte. Wer weiß, ob sie sonst nicht doch schwach werden würde. Und eine problematische Affäre wäre vermutlich so ziemlich das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte.

Obwohl...

**

Meike wälzte sich in ihrem Bett umher.

Sie war todmüde, doch sie konnte einfach nicht einschlafen. Im Gegensatz zu ihrem Mann. Aber vielleicht stellte der sich auch nur schlafend aus Angst, dass sie ihn wieder verführen und gegen seine Willen zur Babyerzeugung missbrauchen könnte.

Es war sonst nicht ihre Art, die Geschehnisse von Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Doch heute war das anders.

Nach der Nachmittagsbesprechung wurden die Gerüchte lauter, dass Olivers Stuhl mehr als nur wackelte. Die zahlreichen Beschwerden über die Abteilung hatten angeblich ziemlich großen Ärger verursacht. Offensichtlich bewies der Vorstand Weitsicht und hatte Oliver als Schuldigen erkannt.

Oliver wirkte deutlich mitgenommen.

Vorerst waren Zielvorgaben gesetzt und Prämien für die Mitarbeiter ausgelobt worden, sofern diese die Vorgaben schafften. Darüber hinaus sollten Frau Bergmann und ein weiterer Mitarbeiter der Kfz-Schadenabteilung aushelfen und mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Oliver hatte Björns Akten verteilt und zum Erstaunen aller den größten Stapel vor Pia fallen lassen, der daraufhin Tränen in die Augen schossen. Doch es nützte nichts. Der Stapel blieb liegen und Pia musste sich zum ersten Mal seit langer Zeit mit dem Gedanken vertraut machen, arbeiten zu müssen.

Nach der Besprechung hatte sich Annedore zu Pia gesetzt, überzeugend genug Mitgefühl geheuchelt und so einiges über die Vorgänge am Vormittag in Olivers Büro erfahren. Sie hatte mit ihren Mutmaßungen von heute Vormittag ziemlich dicht an der Wahrheit gelegen.

Oliver würde voraussichtlich noch bis Ende Januar die Abteilung weiterführen. Bis dahin wollte man einen geeigneten Nachfolger gefunden haben. Was danach aus Oliver wurde, wusste keiner so genau. Aber vermutlich würde man für ihn einen Platz suchen, an dem er keinen Schaden anrichten konnte. Selbst wenn dafür eine Stelle erfunden werden musste.

Oliver war schon zu lange im Unternehmen und eine Entlassung konnte teuer werden. Außerdem wusste er zuviel. Wenn man ihn in Schimpf und Schande hinauswarf, mussten sich einige Leute warm anziehen. Insofern machte sich das Schleichen und Lauschen am Ende doch noch für Oliver bezahlt.

Pia hatte den Fehler begangen, an Olivers Stuhl zu sägen und sich offen als Nachfolgerin anzubiedern. Jetzt musste sie nicht nur bis Ende Januar mit dessen Schikanen klarkommen, sondern auch damit rechnen, dass das ein schlechtes Licht in der Chefetage auf ihren Charakter geworfen haben könnte.

Die Ärmste. Man musste beinahe Mitleid haben.

Selbstverständlich wollte sie sich nicht geschlagen geben, sondern kämpfen und die Chefs von ihren Qualitäten überzeugen. Annedore hatte sie darin bestärkt. Am einfachsten wäre es, wenn Pia sich selbst aus dem Rennen warf. Und das konnte sie am besten und schnellsten, wenn sie selbstbewusst und rücksichtslos war, also ganz sie selbst, behauptete Annedore.

Doch da war noch etwas anderes.

Annedore hatte Meike beiläufig gefragt, warum sie sich nicht auf die Stelle bewarb. Meike arbeitete von allen Mitarbeitern am längsten in dieser Abteilung, machte ihre Arbeit gut und wurde von allen gemocht. Wenn man von Pia einmal absah.

Meike hingegen hatte eigentlich geplant, schwanger zu werden und für eine Weile beruflich kürzer zu treten. Vielleicht war sie sogar schon schwanger. Aber sie konnte den Gedanken an die Abteilungsleiterstelle nicht aus ihren Kopf bekommen.

Wenn sie nun nicht schwanger wäre? Und Ron auf seiner verbohrten Ansicht verharrte?

Jacob und Jule waren alt genug, sodass Meike durchaus wieder länger arbeiten konnte. Ihre Arbeitszeit betrug im Moment dreißig Stunden in der Woche, doch als Abteilungsleiter würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach voll arbeiten müssen.

Aber wäre das wirklich ein Problem?

Meike starrte ratlos die Schlafzimmerdecke an.

Was tust du hier eigentlich? Bist du jetzt völlig durchgedreht?

Doch sie konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken.

Wenn sie schon vielleicht kein Kind mehr haben konnte, dann sollte sie etwas anderes für sich tun. Etwas, wobei sie sich von Ron nicht hineinreden lassen würde. Und wofür sie auch nicht auf seine Hilfe angewiesen war.

**

Donnerstag, 08.12.

Meikes Donnerstagmorgen begann vielversprechend.

Jacob war zum ersten Mal in dieser Woche nicht schon vor dem Weckerklingeln unterwegs gewesen. Wenn man ausreichend Schlaf bekam, sah die Welt gleich viel freundlicher aus.

Außerdem stand das Wochenende vor der Tür und Ron hatte heute Morgen beiläufig erzählt, dass er seine Mutter morgen Mittag zu einer alten Freundin nach Erfurt für Weihnachtseinkäufe und Wellness fahren würde. Und dass Gertrud erst am Montagmorgen mit dem Zug zurückkäme.

Es war Meike ein Rätsel, wie diese Frau Freundinnen haben konnte. Doch allem Anschein nach gab es zumindest eine und diese sorgte dafür, dass Meike ein schönes Wochenende haben würde.

Meike hoffte, dass bei den Wellnessanwendungen etwas schief ging und ihre Schwiegermutter noch länger da bleiben musste. So etwas konnte vorkommen; das hörte man immer wieder. Und wenn sich ihre Schwiegermutter dort von ihrer wahren Seite zeigte, konnte nicht ausgeschlossen werden, dass es sogar absichtlich geschah. Leute, die freiwillig jeden Körper massierten, waren zwar sicherlich einiges gewöhnt. Aber selbst sie mussten irgendwo ihre Grenzen haben.

Friederike stöhnte. »Mir tut der Rücken weh. Diese verdammten winzigen Stühle!«

Gestern Abend waren sie beide im Kindergarten zum Elternabend gewesen. Das war mitunter ganz unterhaltsam. Wenn man nicht die ganze Zeit über auf winzigkleinen Kinderstühlen sitzen müsste.

Meike hatte der Veranstaltung mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. Wenn man ein Kind wie Jacob hatte, neigte man dazu, sich schon im Vorfeld Entschuldigungen zurechtzulegen und zu hoffen, dass die Erzieher ein dickes Fell hatten.

Doch ein Wunder war geschehen. Jacob wurde lobend erwähnt. Offensichtlich war ihr Sohn im Kindergarten ein anderer als zu Hause. Angeblich war er immer eifrig bei der Sache. Gut. Das war er zu Hause auch, allerdings bei den falschen Sachen. Im Kindergarten hingegen machte er keine Dummheiten. Jedenfalls nicht mehr als die anderen auch.

Meike war aus dem Staunen nicht herausgekommen, was wiederum die Erzieherin zu verwirren schien.

Nun denn. Es war alles in allem eine große Erleichterung gewesen zu erfahren, dass Jacob im Kindergarten einen solch guten Eindruck verbreitete. Auch wenn es ein Rätsel war, weshalb er zu Hause so häufig das Gegenteil tat.

Wobei man einräumen musste, dass keine Absicht dahintersteckte. Meistens zumindest. Das größte Problem war seine Neugierde und die Tatsache, dass er gerne half. Am liebsten heimlich, um die anderen zu überraschen. Das gelang ihm auch meistens, aber anders, als erhofft.

Björn kam gut gelaunt zur Tür herein. Sein morgendlicher Schwung hatte seit Montag erheblich gelitten, doch heute schien er wieder ganz der Alte zu sein.

»Wo hast du denn deine Groupies gelassen?« fragte Friederike und grinste. Björns neue Azubis waren bis auf einen weiblich und die meiste Zeit über damit beschäftigt, Björn anzuhimmeln und zu kichern. Damit war selbst Björn überfordert, der sonst eigentlich ganz gut mit Mädchen diesen Alters zurechtkam. Aber vielleicht waren es einfach zu viele.

»Die haben Schule«, antwortete Björn. »Also kann ich heute in Ruhe an meinem eigenen Schreibtisch sitzen und nachsehen, welchen Mist die seit Montag gebaut haben. Apropos. Habt ihr eigentlich Oliver schon gesehen?«

»Nee. Wir haben uns auch schon gewundert, wo der bleibt.«

»Also, am Schnee kann´s nicht liegen. Der ist so gut wie weggetaut«, stellte Meike fest.

Annedore kam mit ihrer Kaffeetasse herein und setzte sich auf Meikes Schreibtisch. »Der drückt sich bestimmt und macht krank«, mutmaßte sie. »Oder er wurde entführt.«