Die Schwiegermutterwette

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Vincents Vater erhob sich mit zufriedener Miene, klopfte seinem Sohn auf die Schulter und knurrte: »Wurde ja auch langsam mal Zeit.« Dann blickte er sich nach seiner Frau um. »Oder was meinst du, Oma?«

Die potentielle Oma schien noch um Fassung zu ringen. Einen kurzen optimistischen Moment lang redete sich Friederike ein, dass das an der Menge der zu verarbeitenden Neuigkeiten lag. Dann war der Moment vorbei und Vincents Mutter öffnete den Mund.

Friederike dröhnte noch immer der Kopf, wenn sie daran zurückdachte. An vieles konnte sie sich glücklicherweise nicht mehr erinnern, doch sie sah noch erschreckend deutlich ihre zukünftige Schwiegermutter vor sich, wie diese sie voller Verachtung und Empörung beschuldigte, Vincent ein fremdes Kind unterschieben und sich in das Familienunternehmen einschleichen zu wollen. Danach war Friederike mit ihren eigenen entrüsteten Gedanken beschäftigt. Darüber hinaus wäre es ihr wegen des einsetzenden Geschreis auch überhaupt nicht mehr möglich gewesen, weiter zuzuhören.

Vincents Vater unternahm halbherzige Versuche, seine Frau zu bremsen, was diese jedoch noch mehr in Fahrt brachte, bis sie hysterisch schrie. Das wiederum führte dazu, dass Vincents Vater noch lauter schrie, um sich bei seiner Frau Gehör zu verschaffen. Und letzten Endes brüllte auch Vincent mit dem Mut der Verzweiflung auf seine Eltern ein, um kundzutun, dass sie sich beruhigen sollten.

Letzteres fand Friederike im Nachhinein zwar beeindruckend, aber von vornherein aussichtslos, da in dieser aufgeheizten Stimmung nur das Verteilen von Messern für kurzfristig einsetzende Ruhe hätte sorgen können.

Schließlich war Friederike aufgestanden und gegangen. Vincent folgte ihr verwirrt und ratlos waren sie heimgefahren.

Friederike dankte innerlich dem Familienrichter, der dieses Wochenende zum Umgangswochenende bestimmt hatte. So musste wenigstens Bruno dieses Theater nicht miterleben.

Apropos. Bruno mussten sie ebenfalls über die Neuigkeiten informieren, und sie fragte sich besorgt, wie ihr Sohn wohl ihre Heirats- und Zuwachspläne aufnahm. Wenn man einmal von den fremden Leuten im Restaurant absah, waren sie damit bislang auf keine große Begeisterung gestoßen, obwohl Friederike zugeben musste, dass Vincents Vater durchaus erfreut gewesen zu sein schien. Sie wusste jedoch auch, dass das nicht viel zu sagen hatte, wenn aggressiv gestimmte Ehefrauen und Mütter sowohl Mann als auch Sohn gegenüber ihre speziellen Waffen auspackten.

**

Meike war neidisch, auch wenn sie sich dafür schämte.

Friederikes Wochenende konnte durchaus mit dem ihrigen mithalten, wenngleich auch nur im negativen Sinne. Doch es gab einen großen Unterschied.

Vincent war Friederike umgehend gefolgt, während das Ron nicht einmal ansatzweise eingefallen wäre und er vermutlich am liebsten bei seiner Mutter übernachtet hätte. Meike nahm an, dass sie ihre Schwiegermutter bedeutend leichter ertragen könnte, wenn ihr Mann auf ihrer Seite stehen würde. Wenigstens manchmal.

Bedrückt musterte sie sich im Spiegel. Es war nicht zu verkennen, dass ihr Schlaf fehlte. Doch ansonsten konnte sie sich, wie sie fand, mit ihren zweiunddreißig Jahren durchaus sehen lassen. Viel Zeit blieb ihr morgens im Bad nicht, aber sie bemühte sich, in der Kürze der Zeit ihr Bestes mit Mascara und Kajal zu geben. Mehr brauchte sie für gewöhnlich nicht.

Irgendetwas musste sie sich mit ihren Haaren einfallen lassen, aber es widerstrebte ihr, sich einem unberechenbaren, experimentierfreudigen Friseur auszuliefern. Dann doch lieber langweilige lange Haare, die konnte man wenigstens schnell hochstecken, damit sie nicht im Weg waren.

Einer der Vorzüge des zunehmenden Alters und der steigenden Anzahl der Kinder bestand darin, dass man sich selbst nicht mehr so wichtig nahm. Das bezog sich auch auf das Aussehen und Meike war dankbar dafür.

Sie erinnerte sich, wie sie früher eine imaginäre Liste ihrer optischen Defizite erstellt hatte. Anschließend war sie depressiv, weil die Liste zu lang war.

Im Laufe der Jahre hatte sie sich endlich mit ihrem Äußerem angefreundet, obwohl inzwischen ein paar Fältchen hinzugekommen waren und die Liste mittlerweile um einiges länger ausfallen würde. Man musste den Tatsachen nur tapfer ins Auge blicken. Auch wenn die Sehkraft allmählich nachließ.

Resigniert zog sie ihrem Spiegelbild eine Grimasse und wandte sich ab. Jetzt war sie dran, von ihrem Wochenende zu erzählen. Friederikes Blick bettelte um eine sensationelle Geschichte. Geteiltes Leid war halbes Leid.

Meike enttäuschte sie nicht.

Friederike hörte sich Meikes Wochenendbericht stumm an und grübelte vor sich hin. Würde sie mit einer solchen Schwiegermutter überhaupt glücklich werden können? Nach dem gestrigen Abend musste sie bei halbwegs realistischer Betrachtung durchaus damit rechnen, dass ihre Schwiegermutter ähnliches Potential in sich trug.

Die Tür öffnete sich und Annedore spähte herein. »Ach, hier steckt ihr!« Hastig trat sie ein. »In einer halben Stunde fängt die Dienstbesprechung an, und wir haben noch nicht...« Argwöhnisch musterte sie die langen Gesichter. »Ist was passiert?«

**

Mit leichter Verspätung erschienen Meike, Friederike und Annedore zur Dienstbesprechung. Das war durchaus verständlich, wenn man die Umstände berücksichtigte.

Annedore war inzwischen ebenfalls im Bilde.

Eigentlich konnte sie sich entspannt zurücklehnen und aus sicherer Entfernung erwartungsvoll die weitere Entwicklung der Geschehnisse verfolgen. Doch dummerweise gab sie sich noch immer der Illusion hin, den perfekten Mann zu finden und die perfekte Ehe zu führen, perfekte Kinder zu bekommen und irgendwann glücklich auf ein vollkommenes Leben zurückblicken zu können. Aggressive Schwiegermütter hatte sie bislang nicht einkalkuliert, und sie erkannte, dass eine einzige davon ausreichte, um ihr ganzes perfektes Leben zu ruinieren, noch bevor es überhaupt angefangen hatte. Eine solche Erkenntnis am Montagmorgen konnte einen schon mal aus der Fassung bringen, zumal das neue Jahr praktisch vor der Tür stand und sie sich einiges in dieser Richtung vorgenommen hatte.

Der Abteilungsleiter, ein bereits desillusionierter, untersetzter kleiner Mann in den Vierzigern, öffnete missbilligend den Mund, um die Verspätung zu kritisieren. Nach einem kurzen Blick in die Gesichter der drei Frauen überlegte er es sich jedoch anders und fuhr mit seinem soeben begonnenen Satz fort.

Meike setzte sich in die hinterste Ecke und bemühte sich verzweifelt, den Sinn der Worte zu erfassen. Oliver, ihr Chef, verfügte über eine Stimme, die zu Monotonie neigte, wenn er mehr als zwei Sätze am Stück sprach. Das wirkte auch auf muntere Menschen nach einer Weile einschläfernd, und Meike hatte eine schlaflose Nacht hinter sich.

Angestrengt hielt sie die Augen offen und starrte mit gläsernem Blick auf Oliver. Es war ihr ein Rätsel, wie man einen derart unattraktiven und unsympathischen Menschen auf Kundschaft loslassen konnte. Noch dazu auf die zumeist ohnehin schon gereizte Kundschaft einer Versicherungsgesellschaft.

Oliver las jetzt Zahlen vor. Lange Zahlen. Mitunter konnte auch Meike langen Zahlen etwas Positives abgewinnen, insbesondere dann, wenn sie auf ihrem Kontoauszug standen. Aber bei Oliver wirkte selbst eine Katastrophenmeldung öde, und lange Zahlenkolonnen erzeugten in seiner Umgebung spontane Einschläferung.

Als ihre Augen beschlossen, den Kampf aufzugeben und sich zu schließen, schob sich ein Zettel in ihr Blickfeld.

Mühsam riss Meike ihre Augen wieder auf und wandte den Blick in die Richtung, aus der der Zettel kam. Annedore zwinkerte ihr vielsagend zu.

Meike sah kurz zu Oliver, doch der kämpfte gerade mit dem Projektor, was erfahrungsgemäß einige Zeit in Anspruch nehmen konnte.

Sie öffnete den sorgfältig gefalteten Zettel und las.

Was haltet ihr davon, einen Wettbewerb draus zu machen? Für jede Unverschämtheit der Schwiegermutter gibt´s Punkte, und wer am Ende die meisten Punkte hat, gewinnt. So hat das Ganze wenigstens noch was Positives, wenn auch nicht viel. Vielleicht wird´s dadurch ja leichter.

Meike fiel das Kinn herunter. Am anderen Ende des Tisches polterte es, als sich Oliver mit dem Fuß im Kabel des Projektors verfangen hatte und diesen beinahe vom Tisch riss. Björn schien als einer von Wenigen noch wach zu sein, sprang auf und konnte die Technik mit knapper Not festhalten und retten.

Meike schob den Zettel weiter zu Friederike und sah Annedore sprachlos an. Sie fühlte sich gerade zu müde, um darüber nachzudenken. Irgendwie kam ihr die Idee grotesk vor. Schließlich sollte ein Sieg etwas Angenehmes sein. Aber in diesem Falle würde er bedeuten, dass man noch mehr Schrecklichkeiten über sich hatte ergehen lassen müssen als die Konkurrentin.

Friederike stieß sie an und grinste verzweifelt. »Gute Idee. Der ideale Wettbewerb für Masochisten«, flüsterte sie.

Oliver hatte inzwischen die Technik knapp besiegt und den Projektor zum Laufen gebracht. Der Himmel wusste, wie. Erschöpft wischte er sich mit dem Taschentuch auf der hohen Stirn herum und begann die Suche nach den Unterlagen, für welche er den Kampf gegen den Projektor begonnen hatte. Pia sprang auf und bückte sich, um ein paar Blätter aufzuheben, die im Eifer des Gefechts auf den Boden gefallen waren.

Mit gerunzelter Stirn beobachtete Meike Pia, die ihr dickes Hinterteil in einen deutlich zu kurzen Rock gezwängt hatte. Man konnte nur hoffen, dass die Nähte hielten und ihnen Schlimmeres erspart blieb. Es war auch so schon unappetitlich genug.

Resigniert wandte sie sich ab und sah mit gemischten Gefühlen nach rechts und links. Die beiden anderen schienen von der Idee mit dem Wettstreit angetan zu sein, doch Meike wusste nicht so recht. Nach Friederikes Eröffnungen heute Morgen standen die Chancen auf ein enges Rennen recht gut. Einerseits war es ganz angenehm zu wissen, dass sich andere mit ähnlichen Problemen herumschlugen. Andererseits half ihr das bei der Lösung dieser Probleme auch nicht weiter, und sie lief Gefahr, sich damit noch verrückter zu machen.

 

Doch sie hatte auch nichts zu verlieren.

Apropos.

»Was kriegt eigentlich der Sieger?« frage sie leise mit dem deprimierenden Gefühl, den Gewinn so gut wie in der Tasche zu haben.

**

Meike und Friederike fuhren nach Arbeitsschluss zusammen zum Kindergarten. Den Nachmittag hatten sie hauptsächlich damit zugebracht, die Details der Wette auszuarbeiten, was sich derart kompliziert gestaltete, dass am Ende die meisten Kollegen ebenfalls darüber nachgrübelten. Aber die Aktenberge liefen mit Sicherheit nicht weg. Höchstens fielen sie um.

Die Versicherungskunden waren ohnehin schon verärgert, da sie derzeit selbst für Versicherungsmaßstäbe ungewöhnlich lange auf eine Antwort warten mussten. Da kam es auf einen Tag mehr oder weniger auch nicht an.

Die Bedingungen der Wette sahen nunmehr so aus, dass es für jede Unverschämtheit einer Schwiegermutter entsprechend dem Schweregrad zwischen einem und drei Punkten gab. Für ganz besonders schwerwiegende Bösartigkeiten konnten in Ausnahmefällen auch fünf Punkte vergeben werden. Schiedsrichterin war Annedore, und in strittigen Fällen entschieden die Eingeweihten per Mehrheitsbeschluss.

Die schwierigste Frage war der Wetteinsatz. Björn meinte, dass sich die Verliererin den Namen ihrer Schwiegermutter tätowieren lassen müsse, und daneben ein Herzchen. Doch selbst er gab schließlich zu, dass das an Körperverletzung grenzte; ganz egal, wo sich diese Tätowierung letztendlich befand.

Nach einigem Hin- und Herrätseln entschied man schließlich, dass die Verliererin die Siegerin bekochen und anschließend ins Kino einladen musste. Das war zwar nicht sonderlich originell, aber es tat auch nicht weh.

Gedankenverloren starrte Meike aus dem Fenster von Friederikes Auto. Das große vorweihnachtliche Dekorationswettrüsten hatte begonnen, und einige schienen es als Kriegserklärung zu betrachten, wenn der Nachbar mehr Lichter und Schlimmeres an seinem Haus hängen hatte* als man selbst. Meike fragte sich, wie es wohl in diesen Häusern aussah. Vermutlich wie auf dem Jahrmarkt, und die Besitzer betranken sich verzweifelt mit Punsch, weil sie versehentlich einen Blick auf den Stromzähler geworfen hatten.

»Was meinst du, wer gewinnt?« fragte Friederike zögernd.

Der allgemeine Enthusiasmus im Büro hatte ansteckend gewirkt und Meike über den Tag gerettet, ohne einzuschlafen. Doch jetzt fragte sie sich, weshalb sie sich auf diesen Unfug eingelassen hatte. Danach zu streben, noch mehr als ihre Freundin unter der Schwiegermutter zu leiden, klang im Nachhinein ziemlich krank.

Andererseits gab es jetzt einen Grund, jede auch noch so kleine Boshaftigkeit ihrer Schwiegermutter zu erzählen, und vielleicht half es, mit Gleichgesinnten darüber zu sprechen, anstatt wie bisher alles in sich reinzufressen.

»Keine Ahnung«, antwortete Meike schulterzuckend. »Normalerweise wäre ich mir sicher, dass meine Schwiegermutter unbesiegbar ist. Aber das was du heute erzählt hast..., Vincents Mutter scheint tatsächlich mithalten zu können.«

»Hm. Das war gestern Abend auch einer meiner ersten Gedanken. Dass du mit derartigen Problemen jetzt anscheinend nicht mehr alleine dastehst, meine ich.«

Friederike parkte vor dem Kindergarten und wollte aussteigen, doch Meike hielt sie zurück. »Aber wir hören auf, wenn es ausartet, ja?«

Friederike sah Meike perplex an. »Was meinst du mit ausarten? Wir können damit doch nichts dran ändern, wie sich unsere Schwiegermütter aufführen.«

»Ja, schon. Aber trotzdem. Ich habe auch so schon genügend Ärger damit, weißt du? Da ist es mitunter ganz angenehm, sich nicht damit beschäftigen zu müssen.«

Friederike sah nachdenklich aus dem Fenster. »Meinst du? Ich denke, dass es ganz gut tut, wenn man solche Dinge jemandem erzählen kann, der es versteht und dasselbe Problem hat. Und dass man darüber noch ein paar Späße macht, schadet doch nichts, oder? Um die Punkte kann sich Annedore kümmern, damit müssen wir uns überhaupt nicht befassen.«

Sie stiegen aus dem Auto aus und Meike bemühte sich zu lächeln. »Also gut. Fangen wir einfach mal an und warten ab, wie es läuft. Vielleicht habe ich ja auch schon nächste Woche gewonnen, weil deine Schwiegermutter einsieht, dass sie sich danebenbenommen hat, und sich bessert.«

»Schön wär´s«, seufzte Friederike und sah über den Zaun zu den spielenden Kindern.

Wo war Bruno? Sie konnte seinen blau-weißen Schneeanzug und die dicke, selbst gestrickte Bommelmütze nirgends entdecken, und sofort befiel sie wieder Panik.

Die Wochenendumgangsregelung mit Brunos Vater sah vor, dass dieser Bruno an jedem zweiten Wochenende freitags aus dem Kindergarten abholte und ihn montags dort wieder ablieferte. So liefen sie sich nicht über den Weg, was angesichts der unschönen Trennung vor fast drei Jahren durchaus von Vorteil war. Allerdings war es auch nicht möglich, Details oder Planänderungen abzusprechen. Die Kommunikation funktionierte ausschließlich über knappe SMS-Mitteilungen. Schon einmal kurz nach der Trennung hatte Friederikes Ex-Mann Bruno montags nicht wie vereinbart zum Kindergarten, sondern zu seiner Mutter gebracht, was in einem längeren Rechtsstreit endete.

Seitdem hatte es keine größeren Zwischenfälle mehr gegeben. Dennoch näherte sich Friederike nach den Wochenenden, die Bruno bei seinem Vater verbrachte, mit Herzklopfen dem Kindergarten und war jedes Mal aufs Neue erleichtert, wenn sie Bruno in ihre Arme schließen konnte.

Dieses Mal war sie noch nervöser wegen der Neuigkeiten, die sie ihrem Sohn überbringen wollte. Sie war sich nicht sicher, wie Bruno darauf reagierte, dass Vincent und sie heiraten wollten. Er erzählte nicht besonders viel über die Zeit bei seinem Vater, schien sich mit Vincent aber immer recht wohl zu fühlen.

Nun, sie würde wohl Brunos Reaktion auf das bevorstehende Gespräch abwarten müssen. Aber zuerst einmal musste sie ihn finden. Panik breitete sich in ihr aus und hektisch suchte sie nach ihrem Handy, um zu prüfen, ob vielleicht eine erklärende SMS angekommen sei.

»Da ist er doch«, rief Meike und zeigte auf eine Gruppe von Kindern, die sich bemühte, einen Schneemann zu bauen. Es lag noch nicht sonderlich viel Schnee, und so bestanden die fleißig aufgerollten Schneekugeln zu einem großen Teil aus Erde und braunem Gras. So sahen auch die Kinder aus.

»Wo denn?« fragte Friederike kopflos und musterte fieberhaft die fraglichen Kinder, bis sie ihn schließlich entdeckte. Sie hatte den Fehler gemacht, nach der Kleidung Ausschau zu halten und die darin steckenden Kinder zu ignorieren.

Eilig rannte sie auf Bruno zu. »Was hast du denn an?« fragte sie perplex und war hin- und hergerissen zwischen der Freude, ihren Sohn wiederzusehen, und der Verwunderung über dessen seltsame Aufmachung.

»Hat Papa dir das angezogen?« fragte sie ihren Sohn ungläubig, als sie ihn jetzt genauer betrachtete. Mochte die Kommunikation zwischen ihr und Brunos Vater auch gestört sein, für seinen Sohn würde er alles tun. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er Bruno in solche Sachen stecken würde.

Die Sachen waren durchaus hübsch und auch ordentlich, wenn man einmal von dem Schmutz absah, den die Bauarbeiten an dem dreckigen Schneemann darauf hinterlassen hatten. Ein Mädchen würde darin sicherlich ganz reizend aussehen. Bruno war allerdings ein Junge, und ein weißer Schneeoverall war für jemanden, der sich gerne einmal in Pfützen und Schlammlöcher warf, nicht geeignet. Die rosa Blumen und der Pelzbesatz machten es nicht besser. Auch Brunos neue Mütze war rosa, und Friederike stellte erleichtert fest, dass er wenigstens seine eigenen Stiefel trug.

»Das hat mir die Emily gegeben«, berichtete Bruno stolz.

»Was? Aber warum? Und..., und wo sind deine eigenen Sachen?« fragte Friederike fassungslos.

»Na, die hat jetzt die Emily an. Die haben ihr so gefallen, und da wollte sie sie haben.«

»Und…, du hast sie ihr einfach so gegeben?«

»Ja«, erwiderte Bruno weinerlich. »Weil sie doch gesagt hat, dass sie mich sonst nicht mehr heiratet.«

»Meine Güte«, murmelte Friederike und sah sich resigniert den Traum in schmutzig-rosa vor ihr an. »Und wo ist diese Emily?«

Ha. Auf einmal hatte sie selbst eine Schwiegertochter. Und was Vincents Mutter konnte, konnte sie schon lange. Dieses Mädchen sollte gleich merken, wie der Hase läuft.

»Die ist schon nach Haus gegangen.«

»Wie bitte? Hat ihre Mutter denn nicht gemerkt, dass sie die falschen Sachen anhat?«

»Die Emily wird immer von der Oma geholt, und die kennt die Sachen nicht so genau.«

Das durfte alles nicht wahr sein. Suchend schaute sich Friederike nach einer Erzieherin um und fand diese neben einem weiteren optimistischen Schneemannversuch.

»Das sind nicht Brunos Sachen. Passen Sie eigentlich auf, was die Kinder anziehen?«

Die Erzieherin blinzelte sie verärgert an. »Wissen Sie, wie viele Kinder wir anziehen müssen, wenn wir rausgehen? Wir haben genug mit den Kleinen zu tun, da müssen das die Großen selbständig erledigen. Außerdem kennen wir schließlich nicht den gesamten Kleiderschrankes jedes Kindes.«

»Das mag ja sein. Aber ist es Ihnen nicht seltsam vorgekommen, dass ein Junge von oben bis unten rosa aussieht?«

»Also, wissen Sie, da haben wir schon ganz andere Sachen erlebt. Wir sind schon froh, wenn die Kinder überhaupt etwas dabeihaben, das zum Wetter passt. Die Farbe ist da völlig unwichtig.«

Friederike gab auf und starrte die Erzieherin wütend an. Meike mischte sich ein. »Könnten Sie vielleicht morgen ein Auge darauf haben, dass die Sachen wieder zurückgetauscht werden? Und dass die Kinder dann ihre eigenen Sachen auch behalten?«

»Nun, ich bin morgen nicht da, aber ich werde einen Zettel für meine Kollegin schreiben«, bot die Erzieherin an und sprang zur Seite, um einem Schlitten auszuweichen.

»Ja, bitte tun Sie das«, sagte Meike und zog Friederike weg. An der anderen Hand hielt sie Jacob, der ebenfalls völlig verdreckt aussah, da er in einem Schlammloch Schneesuppe gekocht hatte.

Friederike ging erbost ins Gebäude, um Brunos Rucksack zu holen. »Jetzt kann ich sehen, wie ich diesen Anzug bis morgen sauber kriege. Wie kann man einem Kind nur einen weißen Schneeanzug anziehen, noch dazu im Kindergarten.«

»Die Emily macht sich nie schmutzig«, verkündete Bruno stolz.

»Na, dann kriegst du wenigstens euren eigenen Anzug sauber wieder zurück«, stellte Meike fest.

Friederike kam ein neuer Gedanke und vorsichtig öffnete sie Brunos rosa-schmutzigen Anzug. »Oh nein«, stöhnte sie. »Die haben auch die Pullover getauscht.«

»Nein«, teilte Bruno mit. »Der ist vom Dominik.«

**

Meike war wie immer mit Jacob den kurzen Weg zur Schule gelaufen, um dort Jule aus dem Schulhort abzuholen. Anschließend gingen sie zu dritt zurück zum Büro, wo Meikes Auto stand. Sie genoss diese kurze Zeit, in der sie mit den Kindern allein war. Inzwischen war es jedoch wieder empfindlich kalt geworden und Meike beeilte sich.

Vor der Schule traf sie Helena, deren Tochter mit Jule in die Klasse ging. Helena wohnte nur eine Straße weiter als Meike und die Mädchen spielten gelegentlich miteinander, wenn sie der Meinung waren, sich gerade einmal gut leiden zu können. Es verblüffte Meike immer wieder aufs Neue, in welch kurzer Zeit sich das ändern konnte.

Meike mochte Helena. Schon allein deshalb, weil diese nicht zu den Übermüttern gehörte, die mit ihrem Kind nachmittags den kompletten Unterrichtsstoff noch einmal durchgingen, täglich die Hefte und Stifte ihres Zöglings kontrollierten und euphorisch sämtliche Schulveranstaltungen mitorganisierten. Derartige Mütter machten Meike Angst und vermittelten ihr ein Gefühl der Unzulänglichkeit.

Helena hatte sogar drei Kinder, war aber so gescheit gewesen, nicht in die unmittelbare Nähe ihrer Schwiegereltern, sondern ins Haus ihrer eigenen Eltern einzuziehen. Diese hatten sich nach Helenas jahrzehntelanger Erfahrung als fürsorgliche und liebevolle Eltern bewährt. So wusste sie, worauf sie sich einließ, und ihr war jederzeit bereitwillige Hilfe gewiss. Sie hatte trotz ihrer Arbeit und der Kinder sogar noch Zeit für Sport und Hobbies.

 

So etwas gab es also auch.

Meike hingegen hatte sich vor Jacobs Geburt, als die Wohnung am anderen Ende der Stadt zu klein zu werden drohte, überreden lassen, das Nachbarhaus ihrer Schwiegereltern zu kaufen. Sie konnte sich im Nachhinein nicht mehr erklären, wie das passieren konnte. Vermutlich hatten die Schwangerschaftshormone ihren Verstand vernebelt.

Darüber hinaus war es ein sehr schönes Haus, an dem nur wenige Arbeiten notwendig waren, um einziehen zu können. Und schwangere Frauen sagen nicht nein, wenn sie ein neues Heim einrichten konnten.

Vielleicht hätte sie damals genauer darüber nachdenken sollen, weshalb sich der Vorbesitzer ihres neuen Hauses im Alter von gerade einmal neunundvierzig Jahren das Leben genommen hatte. Zumindest wurde gemunkelt, dass er das getan hatte. Genaueres wusste keiner.

Wundern würde das bei dieser Nachbarschaft jedenfalls niemanden. Doch jetzt war es zu spät, darüber nachzudenken.

Nach dem Austausch allgemeiner Informationen über die Schule und die Kinder sah Helena Meike unschlüssig an.

»Ich wollte schon seit ein paar Tagen mit dir reden, aber ich wusste nicht, wie«, bemerkte sie zögernd.

»Wieso? Was gibt es denn?« fragte Meike mit ungutem Gefühl. Eigentlich wollte sie es gar nicht wissen, was auch immer es war. Vermutlich nichts Gutes, so wie Helena sie ansah. Meike fand, dass sie für den Moment schon genug Probleme mit sich herumtrug.

»Meine Mutter hat sich in der vergangenen Woche mit deiner Schwiegermutter unterhalten.«

»Ach, ja?« erwiderte Meike schwach und fragte sich, was die alte Hexe nun schon wieder erzählt hatte.

»Äh, ja. Deine Schwiegermutter muss sich über dich ziemlich ausgelassen haben. Du würdest nicht putzen und miserabel kochen, und ihr Sohn und die Enkel bekämen überhaupt nichts Vernünftiges zu Essen, wenn sie nicht selbst ab und zu für diese kochen würde.«

»Oh«, stellte Meike erleichtert fest. »Also die alte Leier. Ich dachte schon, sie hat sich was Neues ausgedacht.«

Helena sah sie verblüfft an. »Äh..., das stört dich nicht? Ich meine, sie erzählt das bestimmt nicht nur meiner Mutter, sondern auch allen möglichen anderen Leuten. Ach ja, das hab ich ganz vergessen. Dein Mann ist übrigens total unglücklich.«

»Soso. Ist er das. Nun, im Moment könnte sie damit sogar recht haben. Hat sie auch erzählt, dass ich noch viel unglücklicher bin?«

»Nein, aber...«

»Sollte sie aber. Dann würde sie wenigstens mal zur Abwechslung die Wahrheit sagen.«

»Äh..., also ich wollte nur, dass du darüber Bescheid weißt«, sagte Helena unsicher.

»Schon gut. Vielen Dank. Aber glaube mir, du hast mir nichts Neues erzählt«, behauptete Meike. Das stimmte jedoch nicht ganz. Sie wusste zwar, dass ihre Schwiegermutter derartige Dinge innerhalb der Verwandtschaft verbreitete. Aber dass sie jetzt auch die Nachbarschaft damit belästigte, war ihr neu. Wer weiß. Vielleicht fühlte sich Gertrud dazu genötigt, nachdem ihre Geschichten bei den meisten Verwandten nicht den erhofften Erfolg erzielten, was wiederum daran lag, dass diese gelegentlich bei Meike vorbeischauten und sich dabei vom Gegenteil überzeugen konnten.

Doch wie mochte wohl die Nachbarschaft darauf reagieren? Das Wissen darüber war nicht eben zuträglich für Meikes derzeitige Verfassung. Andererseits war sie Helena dankbar, dass diese ihr davon erzählt hatte. Ebenso gut könnte sie es auch weiterverbreiten und hinter Meikes Rücken tuscheln.

»Ach, eins fällt mir noch ein«, meinte Helena gerade. «Deine Schwiegermutter ist außerdem der Meinung, dass du ihren Sohn nur ausnutzt und...«

Ein schriller Schrei von Jacob unterbrach weitere Ausführungen. Alarmiert drehte sich Meike um und erblickte ihren Sohn, der mit der Zunge am Laternenpfahl klebte und schrie, so gut das mit herausgestreckter Zunge eben ging.

»Was...«, begann sie fassungslos, brach jedoch ab, als ihr einfiel, was sie so alles über Dinge aus Metall bei Minustemperaturen gehört hatte.

Jule stand beeindruckt neben ihrem kleinen Bruder. »Hätte nie gedacht, dass das wirklich funktioniert.«

»Hast du etwa...« begann Meike, wandte sich dann jedoch wieder hilflos ihrem jetzt herzerweichend schluchzenden Sohn zu.

»Bei einer Bekannten hat warmes Wasser geholfen«, bemerkte Helena und fügte erklärend hinzu: »Ihr Kind hatte versucht, an einem Geländer zu lecken.«

Meike schaute sich hektisch um und sah gerade noch, wie die letzte Erzieherin davonfuhr. In der Schule würde sie somit wohl niemanden mehr finden, der lauwarmes Wasser besorgen konnte.

Beruhigend redete sie auf Jacob ein und baute darauf, dass es auch bei ihr selbst wirkte. Jule sah unsicher zwischen Meike und Jacob hin und her. Ihre Mundwinkel zuckten verräterisch, doch Meike erkannte dankbar, dass ihre Tochter inzwischen offensichtlich wusste, wann man sich das Lachen lieber verkniff, wenn man dem Zorn seiner Mutter entgehen wollte.

Helena war schon auf dem Weg zum nächsten Haus. »Ich versuch mal, Wasser aufzutreiben«, rief sie Meike zu, während diese ihre Augen schloss und sich verzweifelt fragte, was sie heute wohl noch alles erwartete.

**

Während Friederike ihren Sohn und die fremde Kleidung schrubbte, kreiselten ihre Gedanken unentwegt um das für nachher geplante Gespräch mit Bruno.

Wie würde er die Neuigkeiten aufnehmen?

Später stand sie in der Küche, kochte Brunos Lieblingsessen und war dankbar, dass ihr Sohn in dieser Hinsicht so wenig Kreativität wie die meisten Kinder bewies. Nudeln mit Tomatensoße erforderten keine sonderlich große Konzentration. Und das war gut so. Vincent müsste schon längst da sein. Er hatte versprochen, heute pünktlich nach Ladenschluss zu ihr zu kommen.

Theoretisch wohnte er hier. Doch praktisch hatte er noch immer im Haus seiner Eltern eine Wohnung, die er in Ausnahmefällen nutzte, wenn es einmal sehr spät im Geschäft wurde.

Er sprach schon länger davon, die Wohnung bei seinen Eltern aufzugeben. Aber er hatte es nie in die Realität umgesetzt. Schließlich drängte ihn nichts. Die Wohnung war praktisch kostenfrei, und sie beinhaltete das Rundum-Sorglos-Paket seiner Mutter, die sich darum riss, Vincents Wäsche waschen zu dürfen.

Spätestens mit der Hochzeit musste Friederike dem ein Ende bereiten. Doch sie war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie sich durchsetzen konnte.

Endlich hörte sie den Schlüssel in der Tür und rannte in den Flur.

»Na endlich. Du weißt doch, dass wir...«

»Hallo, meine Schöne«, sagte Vincent matt und zog seinen Mantel aus.

»Was ist los?« erkundigte sich Friederike.

»Frag nicht. Glaub mir. Du willst es lieber nicht wissen.«

»Deine Mutter?« fragte Friederike leise. Bitte bitte nicht.

»Hm-m. Aber egal. Jetzt bin ich hier. Das riecht gut, was gibt es denn?«

»Oh verdammt! Die Spaghettis!«

Friederike rannte zurück in die Küche.

Zehn Minuten später saßen sie am Tisch, stocherten in den weichen Nudeln herum und fragten sich, wie sie die heiklen Themen am besten anschneiden konnten.

Bruno war mit Essen beschäftigt.

»Mama? Das schmeckt gut«, behauptete er und schob sich eine große Portion in den Mund.

»Danke. Aber eigentlich sind die Nudeln zu weich. Hoffentlich...«

»Die Nudeln sind gut«, sagte Vincent beruhigend und sah ihr in die Augen. Friederike atmete tief durch.

Bruno schluckte. »Mama? Weißt Du was?« Die meisten seiner Sätze begannen so.

»Ja, mein Schatz?«

»Der Jacob hat heute erzählt, dass sie bald ein Baby bekommen.«

Vincent hustete und starrte Bruno an. Dann richtete er seinen Blick auf Friederike.

»Wirklich? Hat Meike dir davon was erzählt?«