Sinnliches Wissen

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Wie es in der klassischen Erklärung des schwarzen Feminismus, »Ein Schwarzes feministisches Statement« des Combahee River Collective, steht: »Wenn Schwarze Frauen frei wären, würde dies bedeuten, dass alle anderen auch frei sein müssten, da unsere Freiheit die Zerstörung aller Unterdrückungssysteme erfordert.«19

Schwarze Feministinnen haben auch von Anfang an ganz grundsätzlich verstanden, dass wir neue Wege finden müssen, um das in Begriffe zu fassen, was wir wissen. Wieder und wieder haben schwarze Feministinnen argumentiert, das herrschende System sei ein seelenloses, weshalb die Lösung eine Form des Wissens sei, die Dichtung und Kunst einbezieht, die Sprache der Liebe.

Dementsprechend weisen schwarze Feministinnen darauf hin, dass kreativer Ausdruck eine wesentliche Form der Wissensproduktion sei, da er helfe, emotionale Intelligenz zu entwickeln. Als Gruppe, der in der Geschichte der Zugang zu Bildung verwehrt wurde, überlebten schwarze Frauen, indem sie sich auf das tiefgründige, intuitive und poetische Wissen des kreativen Ausdrucks stützten, und zwar nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch, um kritische Einsichten zu erlangen.

Beispielsweise versteckte Miriam Makeba in ihrem Lied »Beware, Verwoerd« eine Antiapartheidsbotschaft im Refrain, der schwarze Menschen zum Widerstand gegen die Apartheid aufrief, indem er den weißen Militär Verwoerd vor einem schwarzen Aufstand warnte – eine Zeile, die später zum Protestslogan wurde. In »Four Women« betonte Nina Simone die einzelnen Namen »Aunt Sarah«, »Saffronia«, »Sweet Thing« und »Peaches«, um gegen eine Kultur vorzugehen, die schwarze Frauen auslöscht und sie zum Schweigen bringt. Beides ist schwarze feministische Wissensproduktion.

Wenn Beyoncé sich auf ihrem Album Lemonade darüber ausließ, sie sei keine »average bitch«, und wenn ihr Liebhaber sie nicht genügend wertschätze, werde sie bald weitergehen zum »next dick«, dann war das eine schwarze feministische Botschaft, dass Frauen kein schlechtes Benehmen von Männern akzeptieren sollten.

Als Sansibar 1897 die Sklaverei abschaffte, begannen die zuvor versklavten Frauen eine Mode, die sie kanga nannten. Sie nähten die Tücher zusammen, die von portugiesischen Händlern in die Häfen Sansibars gebracht wurden, und verwendeten sie, um damit ihre Freiheit zum Ausdruck zu bringen. Diese Wissenspraxis trug dazu bei, die historische Trennung nicht nur zwischen Sklav:innen und freien Menschen, sondern auch zwischen Araber:innen und schwarzen Afrikaner:innen sowie zwischen Frauen und Männern zu überwinden.

Schwarze feministische Theorien, wie etwa die »Ethik der Fürsorge« der Soziologin Patricia Hill Collins, führen dieses Wissen näher aus. Hill Collins zufolge verleiht der psychologische Effekt einer geteilten Erfahrung von Klassismus, Sexismus und Rassismus dem Leben von schwarzen und afrikanischen Frauen auf der ganzen Welt eine einzigartige Veranlagung, die sie als eine Ethik der Fürsorge bezeichnet. Gegründet auf drei Säulen umfasst die Ethik der Fürsorge erstens den Wert, der auf individuellen Ausdruck gelegt wird, zweitens den Wert der Emotionen und drittens die Fähigkeit zur Empathie. Hill Collins argumentiert, dass afrikanische humanistische und feministische Prinzipien die Wissensformen schwarzer Frauen beeinflussen. Der Zugang sowohl zu afrozentrischen als auch zu feministischen Standpunkten unterscheidet den schwarzen Feminismus vom weißen Feminismus, nicht etwa, weil letzterer keinen Wert auf den kreativen Ausdruck von Frauen legte, sondern weil er ihn nicht als eine Form des Wissens anerkennt.

Man denke auch an Alice Walkers »Auf der Suche nach den Gärten unserer Mütter«, den Essay, in dem ein Garten zum Symbol für die Wissensproduktion wird. Walker führt an, schwarze Frauen seien nicht in der Lage gewesen, Wissen aufzuzeichnen, da man ihnen im Verlauf der Geschichte jene »Last aufgebürdet [hat], die sich alle anderen – alle anderen – zu tragen geweigert haben«.20 Als Folge, argumentiert Walker, haben sie Wissen durch Kreativität übermittelt – haben Quilts hergestellt, Geschichten erzählt und Gärten gepflegt. Über den Garten ihrer eigenen Mutter schreibt Walker: »[J]edes schäbige Haus, in dem wir zu wohnen gezwungen waren, […] [verwandelte meine Mutter i]n einen Garten, der so farbenprächtig war, so originell angelegt, so strotzend von Leben und Kreativität«.21 In dieser Form des Ausdrucks, argumentiert sie, wussten schwarze Mütter traditionell und intuitiv, wie sie ihren Töchtern Freiheiten beibringen konnten, auch wenn sie selbst nie das Glück hatten, diese zu genießen.

Bell hooks argumentiert in ihrem Essay »Theory as Liberatory Practice«, die theoretische »Arbeit von Women of Color und marginalisierten Gruppen weißer Frauen (zum Beispiel Lesben, Sexradikale)«22 sei die befreiendste Form von akademischem Wissen, da sie das Persönliche untermischt. In dem für sie so typischen klaren, mitfühlenden Stil, der geprägt ist von einer christlichen Erziehung und einer buddhistischen Praxis, fügt sie in ihrem Buch Teaching to Transgress hinzu, kreative Arbeit, geschaffen »aus einem Ort des Schmerzes und Kampfes heraus, […] wird im akademischen Umfeld oftmals nicht anerkannt«23, obwohl sie genau die Art von Wissen darstellt, die Menschen befreien kann.

In ihrer Nobelpreisrede von 1993 erzählte Toni Morrison die Geschichte von einer Gruppe Jugendlicher, die eine alte, blinde Hellseherin als Betrügerin entlarven wollten. »Alte Frau«, sagten sie, »in meiner Hand halte ich einen Vogel. Sag mir, ist er lebendig oder tot.« Die Frau blieb eine lange Weile stumm, bis die Jugendlichen frech über sie lachten. Dann sagte sie plötzlich: »Ich weiß nicht, ob der Vogel in deiner Hand tot oder lebendig ist, aber ich weiß, dass du ihn in Händen hältst. Du hast es in der Hand.«24 Wenn der Vogel für ein Narrativ steht, dann lautet die Botschaft der alten Frau, dass am Ende nicht zählt, was genau in diesem Augenblick die Geschichte ist. Es kommt darauf an, dass es in den Händen der Jugendlichen liegt, sie zu erzählen. »Unterdrückende Sprache ist nicht nur ein Zeichen von Gewalt, sie ist Gewalt. Sie repräsentiert nicht nur Grenzen des Wissens, sie setzt dem Wissen Grenzen«, fuhr Morrison fort. »Sexistische Sprache, rassistische Sprache, fundamentalistische Sprache – alle sind typische, maßregelnde Herrschaftssprachen, die keine neuen Gedanken aufnehmen, keinen Austausch neuer Ideen fördern können.«25 Kurz gesagt argumentierte Morrison, so wie auch ich, dass unsere Wahrnehmung des Wissens unsere Wirklichkeit formt.

Die Romanautorin und Feministin Chimamanda Ngozi Adichie bringt in ihrem TED-Talk »Die Gefahr einer einzigen Geschichte« eine ähnliche Botschaft zum Ausdruck. »Es gibt ein Wort«, sagt sie, »ein Igbo-Wort, an das ich immer denke, wenn ich über die Machtstruktur der Welt nachdenke. Es heißt ›nkali‹. Es ist ein Substantiv, das in etwa übersetzt werden kann als ›größer sein als ein anderer‹. Wie unsere Wirtschafts- und politischen Welten«, argumentiert Adichie, »definieren sich auch Geschichten durch das Prinzip von nkali. Wie sie erzählt werden, wer sie erzählt, wann sie erzählt werden, wie viele Geschichten erzählt werden, wird wirklich durch Macht bestimmt.«26

Auf den Begriff »sinnliches Wissen« kam ich bei einem Besuch der Singularity University im Ames Research Center der NASA im Silicon Valley, wo ich einen Vortrag halten sollte. Während einer meiner täglichen Schwimmrunden im Pool des Centers tauchte er auf. Ich schwimme grundsätzlich gern, aber in diesen Pool einzutauchen fühlte sich an, als würde ich mich in eine weiche blaue Samtdecke wickeln. Später begriff ich, dass der Pool für mich symbolisch Innerlichkeit repräsentierte, sowohl aufgrund seiner Lage im Inneren des Forschungszentrums als auch, weil er sich wie der sichere Hafen einer Gebärmutter anfühlte.

Zu jener Zeit arbeitete ich an einem Projekt mit dem Titel »Große Ideen verändern die Welt« für die Umweltschutzorganisation Friends of the Earth. Ich interessierte mich dafür, feministische Theorie mit Gedanken zu Technologie, Global Governance und Climate Engineering zu verbinden, und die Singularity University war ein spannender Ort, um meine kritischen Argumente zu schärfen.

Der Hauptredner bei der Veranstaltung war Ray Kurzweil, jener Futurist, der die Idee von der Singularität prägte – die Hypothese, dass Mensch und Maschine sich in der Zukunft annähern werden. Alle erwarteten Kurzweils Vortrag mit Spannung, mich eingeschlossen. Ich ging davon aus, dass er meine Recherche bereichern würde. Und da lag ich auch nicht falsch, denn seine Präsentation war faszinierend und erkenntnisreich. Er sprach überraschend bescheiden und leise, was ich erfrischend fand nach einem Tag voller Vorträge, die auf jene typisch amerikanisch-maskuline Weise abgehalten wurden, bei der die Redner wichtigtuerisch über die Bühne stolzieren.

Mehrere Diskussionen in jener Woche stimulierten und berührten mich auf diese Art. Ich war davon ausgegangen, meine Zeit dort mit roboterhaften Tech-Bros und Silicon-Valley-Fanatiker:innen zu verbringen. Stattdessen fand ich mich in Gesellschaft von Menschen wieder, die sich zum großen Teil mit ehrlicher Leidenschaft für Ideen interessierten, die etwas verändern könnten. Wir sprachen über die vier großen Technologien der Zukunft – Nanotechnologie, Biotechnologie, Informationstechnologie und Kognitionswissenschaft (die NBICs). Wir betrachteten die Schnittpunkte von Technologie und Bewusstsein und sahen uns einen unglaublichen Clip an, in dem ein kleines Mädchen ein Spielzeugauto mit ihren Gedanken kontrolliert. Zwischen den Diskussionen gab es Yogakurse und gesunde Mahlzeiten. Kurz gesagt, die Reise hatte sich gelohnt.

 

Der Besuch bot mir jedoch auch einen besorgniserregenden Blick in eine Zukunft, die utopisch sein könnte – in der die Probleme des Gesundheitswesens, Armut, soziale Ungleichheit und die Klimakrise gelöst wären –, die unsere gegenwärtige Denkweise jedoch niemals verwirklichen würde.

Ich erinnere mich an ein beunruhigendes Gespräch mit einer Gruppe von Leuten, allesamt wohlhabend, weiß und männlich, die in aller Ernsthaftigkeit erwarteten, dank lebensverlängernder Technologien (Reverse Aging, epigenetische Verjüngung, Anti-Aging-Nahrungsergänzungen, und so weiter) mindestens hundertfünfzig zu werden. Sie waren etwa in meinem Alter, sprachen jedoch mit der Gewissheit, noch ein weiteres Jahrhundert zu leben. Ich konnte das Entsetzen nicht verbergen, das ich verspürte, als diese sowohl durch ihre Race als auch durch ihre Klasse privilegierten Männer aufgeregt über ihre Zukunft sprachen. Es war keine Zukunft, von der ich oder die meisten Menschen auf unserem Planeten auch nur träumen können.

Dabei hatte ich keine moralischen Bedenken gegenüber lebensverlängernden Technologien an sich. Ich bin nicht dagegen, zu erforschen, wie die Wissenschaft das Leben verbessern und verlängern kann. Aber ich bin dagegen, neue Technologien gedankenlos in die falsche Richtung zu entwickeln. Ich bin dagegen, Menschen dazu zu ermutigen, sich zu verhalten, als lebten sie auf einer einsamen Insel, wo ihre Entscheidungen keinerlei Auswirkungen auf andere haben. Ich bin gegen die unfassbare Ungleichheit zwischen jenen, die schon Glück haben, wenn sie eine Handvoll Jahrzehnte überleben, und jenen, die bereits planen, bis weit in ihr zweites Jahrhundert hinein am Leben zu bleiben. Ich bin gegen die immer engeren Beziehungen zwischen wissenschaftlicher Forschung und profit-orientierten Unternehmen, die so viele Aspekte im Leben der Menschen kontrollieren können. Es ist kein Zufall, dass einige der bedeutendsten Investoren in lebensverlängernde Technologien die Gründer von Unternehmen wie Google, PayPal und AstraZeneca sind.

Wissenschaft ist selbstverständlich der verlässlichste Weg, um Hypothesen zu überprüfen. Wissenschaft wurde jedoch auch benutzt, um Verbrechen zu rechtfertigen – vom transatlantischen Sklav:innenhandel bis zum Holocaust oder dem Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben. Die Welt der Wissenschaft ist noch immer voller Rassisten und Sexisten, die »Wissenschaft« benutzen, um ihre Vorurteile zu bestätigen. Kaum ein Monat vergeht ohne irgendeinen neuen Skandal im Zusammenhang mit einem Missbrauch der wissenschaftlichen Methode. Ich muss etwa an Satoshi Kanazawa denken, einen Evolutionsbiologen an der London School of Economics, der 2011 einen »wissenschaftlichen« Artikel veröffentlichte, in dem er behauptete: »Schwarze Frauen sind weniger attraktiv als andere Frauen.« Mich überkommt ein unwirkliches Gefühl, wenn ich daran denke, dass die seriöse Plattform Psychology Today diese beleidigenden Worte auf ihrem Blog veröffentlichte. Am meisten beunruhigt mich dabei gar nicht Kanazawas Rassismus, der so transparent wie trivial ist, sondern dass seine Worte in unserer Zeit noch immer ernst genommen werden konnten. Wie der Anthropologe Jonathan Marks in seiner Streitschrift Is Science Racist? ausführt: »Nahezulegen, eine wissenschaftliche Studie über Race könne sich irgendwie gegen Kultur oder Politik abschirmen oder immunisieren, ist selbst eine zutiefst politische Heuchelei.«27

Zu argumentieren, wissenschaftliche Ergebnisse sollten ebenso kritisch betrachtet werden, wie man etwa Literaturkritik oder Kunstkritik betreiben mag, birgt die Gefahr, als wissenschaftsfeindlich oder antiintellektuell bezeichnet zu werden. Wissenschaft ist die Religion des modernen Europatriarchats, und wie jeder Glaube geht auch dieser davon aus, unstrittig zu sein. Eine inhärente Neutralität in der wissenschaftlichen Wissensproduktion infrage zu stellen, hat Auswirkungen. Es als schwarze Frau zu tun, noch dazu in einem Kapitel über das Wissen, lädt zu Anschuldigungen ein, bestenfalls uninformiert zu sein. Und ja, ich bin mir meiner begrenzten Einsichten in die akademischen Debatten zur Erkenntnistheorie, also der Erforschung des Wissens, bewusst. Diese Diskussionen werden in einer abstrakten Sprache geführt, mit der weder ich noch, wie ich mir vorstelle, die meisten meiner Leser:innen ausreichend vertraut sind. Ich kann jedoch mit Sicherheit sagen, dass mit Ausnahme der feministischen und postkolonialen Wissenschaften, die die Wissensproduktion grundlegend verändert haben, die Debatte sich noch immer überwiegend auf Philosophen der Aufklärung beruft, die das europatriarchalische Wissen etablierten, indem sie dem Gebiet der Wissenschaft ihre Vorurteile einschrieben. Die Welt leidet aufgrund der Vorurteile des Wissens. Die noch tiefere Ursache für Ungleichheit ist allerdings, dass unsere Konzeptualisierung von Wissen uns nur durch Vorurteile erlaubt, Zugang zu ihm zu finden.

Mein Besuch im NASA-Forschungszentrum war auch nicht das einzige Mal, dass mir ein Mangel an Rücksichtnahme, Empathie und Sensibilität gegenüber der Zukunft der Menschheit schlaflose Nächte bereitete. Meine gesamte Arbeit entspringt der Verzweiflung über die Unterdrückung von Frauen und die daraus resultierende Diskreditierung von Eigenschaften, die als weiblich angesehen werden, wie etwa die oben genannten, obwohl sie von grundlegender Bedeutung sind für erfolgreiche Bildung, Politik, Kultur, Wirtschaft, soziale Beziehungen und Wissenschaft.

Die Erfahrung verdeutlichte für mich jedoch die Dringlichkeit, europatriarchalische Vorurteile gerade auch auf dem Gebiet der Wissenschaft zu untersuchen, da die neuen Technologien dieselben alten Denkmodelle reproduzieren. Ich meine nicht nur, wie das Wissen geprägt wird von Gender, Race, Klasse, und so weiter, sondern auch, welche moralischen und ethischen Fragen die wissenschaftliche Methode untermauern. Welche Weltsicht hat uns zu unserer gegenwärtigen Gesellschaft geführt? Und wie können wir sie verändern? Denn wenn die Wissensproduktion in der Gegenwart unethisch ist, dann wird auch das produzierte Wissen in der Zukunft unethisch sein.

Dass die Wissenschaft trotz entscheidender Beweise für das Gegenteil ihre umfassende Reputation als von Natur aus objektiv aufrechterhalten kann, reicht zurück bis zu der Wahrnehmung von Wissen als etwas zu Erwerbendem, geprägt von frühen Europatriarchen wie Francis Bacon. Nur wenige Menschen stellen dieses besondere Element der voreingenommenen Wissensproduktion infrage, dabei ist es die Wurzel, die den Status quo am Leben erhält. Denn wenn man sich Wissen als etwas zu Erwerbendes vorstellt, muss man es sich zunächst als Res extensa vorstellen, etwas von einem selbst Abgetrenntes. Schließlich kann man nicht erwerben, was man bereits besitzt. Diese Unterscheidung wiederum erfordert, dass man Wissen als etwas wahrnimmt, das sich von selbst manifestiert, was bedeutet, dass man Wissen als neutral ansehen muss. Weiterhin muss man das Wissen, um es als neutral anzusehen, von den Denkmustern und gesellschaftlichen Bedingungen abtrennen, die es erzeugt haben. Um den Glauben an diesen Prozess aufrechtzuerhalten, muss man propagieren, die gültigste Form des Wissens sei jene, die sich messen lässt. Letztlich funktioniert auf diese Weise der Prozess des europatriarchalischen Wissens. Wissen um jeden Preis zu erwerben, entfernt es aus seinem Kontext und befördert Vorurteile.

Als ich sechs Jahre alt war, veröffentlichte Audre Lorde ihren vielbeachteten Essay »Du kannst nicht das Haus des Herren mit dem Handwerkszeug des Herren abreißen«. Ich las ihn natürlich erst viel später, an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich eine Karriere im Marketing hinter mir gelassen und einen feministischen Blog mit dem Titel MsAfropolitan gestartet hatte, der nun rasant wuchs. Ich wollte einen Master in Gender Studies machen, um meine Texte von jenem für scharfe Beobachtungen erforderlichen Verständnis zu erfüllen. Ich entschied mich für die School of Oriental and African Studies, wo ich mich auf schwarze und afrikanische feministische Perspektiven auf Gender konzentrieren konnte. Zur Vorbereitung las ich viel Sachliteratur von schwarzen Feministinnen, darunter auch Lordes Sister Outsider, das mich zutiefst berührte. Wenn sie sagte: »Du kannst nicht das Haus des Herren mit dem Handwerkszeug des Herren abreißen«, war es, als spräche sie direkt zu mir. Ich wollte sie fragen: »Mit welchem Handwerkszeug denn dann?«

Ich war nicht die Einzige, die sich über diese Frage den Kopf zerbrach. Seit der Veröffentlichung des Textes im Jahr 1984 wollten viele Menschen wissen, welches Handwerkszeug Lorde genau meinte. In Kommentaren, Essays, Workshops, Dissertationen, Protestslogans, Panels, und so weiter stellten alle dieselbe Frage: welches Handwerkszeug? Alle Menschen mit einem starken Interesse an der Befreiung von Frauen, Nichtweißen, Armen, indigenen Menschen und der Umwelt, alle, die sich an gegenkulturellem Denken beteiligen, sehnen sich danach, das Handwerkszeug des Herren zu identifizieren.

Die meisten Analysen kommen zu dem Schluss, das Handwerkszeug des Herren seien Systeme wie der Kapitalismus, der Kolonialismus oder das Denken der Aufklärung. Eine Studie, auf die ich gestoßen bin, argumentierte überzeugend, Gesetze, die das Saatgut regulieren, seien ein Handwerkszeug des Herren. Andere vertreten (etwas konservativer) die Ansicht, das Handwerkszeug des Herren seien Hilfsmittel wie Gerissenheit, Taktik und Hinterhältigkeit. Für solche Gesprächspartner:innen ist »ein Werkzeug ein Werkzeug«, und gäbe es denn einen besseren Weg, das Haus des Herren zu zerstören, als mit dessen eigenen Mitteln?

Die Diskussionen sind endlos, übersehen aber ein wesentliches Element: Um zu entscheiden, welche Werkzeuge wir verwerfen sollten, müssen wir uns auf das Objekt konzentrieren, das diese erbaut haben – das Haus des Herren. So viel Betonung liegt auf dem Wort Handwerkszeug, dass wir die Bedeutung des Wortes Haus übersehen haben.

Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das metaphorische Haus des Herren verlagern, werden wir sehen, dass es eine Täuschung ist. Es ist ein Gefängnis, das aussehen soll wie ein Zuhause, ein Kerker, der sich als Palast tarnt, ein trauriger Ort, der vorgibt, ein glücklicher zu sein. Sogar das Wort Haus, wie wir es heute verstehen, bezeichnet nicht länger einen Ort der Geborgenheit und Wärme, sondern einen des Marktwerts, der Privatisierung und der Erweiterung des Egos.

Du kannst im Haus des Herren Bilder aufhängen. Du kannst seine Mauern mit Slogans über Freiheit besprühen. Du kannst in seinem Garten Altäre für die Gleichberechtigung aufstellen. Dennoch wird das Haus des Herren weiterhin ein Gefängnis für alle sein, mit Ausnahme des Herren selbst. Welchen Preis müssen wir dafür zahlen, im metaphorischen Haus des Herren zu bleiben? Warum sollten wir für einen Platz an seinem Tisch kämpfen? Weshalb feiern wir unkritisch Blackface-Positionen in imperialistischen Strukturen oder »Woman-face«-Patriarchen? Wir können nur frei sein, wenn wir das Haus des Herren verlassen.

Ich will damit nicht sagen, dass wir bei den Feen im Wald leben sollen, sondern dass wir die Wände des Hauses abreißen müssen, um hineinblicken zu können. Die Illusion des Hauses des Herren zu durchschauen bedeutet zugleich, es abzureißen, denn nur, wenn wir die Realität klar erkennen, können wir sie verändern. Sinnliches Wissen hilft uns, die Wirklichkeit deutlich, vollkommen und mit all unseren Fähigkeiten zu sehen.

Was das Handwerkszeug des Herren angeht, all dies hier gehört nicht dazu: Die Werkzeuge des Herren sind nicht Poesie, Verspieltheit, Eros, Grenzenlosigkeit, Gewissenhaftigkeit, Dialog, Intuition, Lebensfreude, Stille, Wärme, Leidenschaft, Schönheit, Mitgefühl, Geheimnis, Weisheit, Ehrlichkeit, Weiblichkeit, Innerlichkeit, Sinnlichkeit, ogbon-inu.

Afrikanische Wissenssysteme sind schon seit Langem eine Fundgrube für Narrative, die feministische Vorstellungen von Wissen prägen. Mit den ältesten Zivilisationen der Welt verfügt Afrika auch über einige der ältesten Patriarchate, weshalb wir auf dem afrikanischen Kontinent ebenfalls einige der ältesten protofeministischen Narrative finden.

In der traditionellen afrikanischen Gesellschaft waren Frauen keine ans Haus gebundenen Ehefrauen. Sie waren Händlerinnen, Politikerinnen, Bäuerinnen, Künstlerinnen und Schamaninnen. Sie waren Göttinnen, Hexen, Prophetinnen, Königinnenmütter, Regenköniginnen, Pharaoninnen und Geistermedien.

 

In den afrikanischen Schöpfungsmythen gibt es keinen übergeordneten höchsten männlichen Gott. Wenn überhaupt, weisen historische Spuren darauf hin, dass einst alle Afrikaner:innen eine Muttergöttin verehrten. Das soll nicht heißen, dass im Pantheon der Göttinnen und Götter stets Harmonie zwischen den Geschlechtern herrschte. Wohl kaum! Unter den Gött:innen sorgen die Geschlechter genau wie bei den Menschen für einigen Wirbel, und zwar gerade, um uns vorzuführen, was passieren kann, wenn wir Harmonie nicht zumindest anstreben.

Überdies sind die zugrundeliegenden Mythen egalitär in Bezug auf die Natur und andere Spezies. Wie viele ihrer Pendants in anderen afrikanischen religiösen Systemen (die Erdgöttin Asase Yaa in Ghana, Dzivaguru in Simbabwe, Mamlambo in Südafrika) sind die Yoruba-Gött:innen anthropomorphe Naturgewalten. Daher behandelt ein Mensch, der sich mit afrikanischer Spiritualität beschäftigt, die Natur mitfühlend. Ähnlich werden auch Tiere nicht als den Menschen unterlegen angesehen, da wir alle auf gleiche Weise vom Leben abhängen. In den afrikanischen Mythen sind Tiere Gefährt:innen, die sogar gelegentlich Menschen heiraten und mit ihnen Kinder zeugen können, die Mensch und Tier zugleich sind. Tiere sind auch Lehrer:innen, jedes mit einer besonderen Lektion, die es uns beibringen kann. Die Schildkröte etwa führt vor, wie man sich vor unehrlichem und boshaftem Verhalten in Acht nimmt, da sie dieses selbst an den Tag legt. Anansi, die Spinne aus der gleichnamigen ghanaischen Geschichte, lehrt auf ähnliche Weise etwas über Dummheit, indem sie selbst Dummheiten macht. Doch nicht nur in Mythen teilen sich Afrikaner:innen ihren Lebensraum mit den Tieren. Die Massai, die nur sehr selten Fleisch essen, leben seit Jahrhunderten mit wilden Tieren zusammen – Giraffen, Zebras, Löwen, Leoparden und Hyänen –, ohne sich vor ihnen zu fürchten. Im Gegensatz zum europatriarchalischen Wissen betonen historische afrikanische – wie auch andere indigene – Wissenssysteme den Wert von Harmonie nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit der Natur und anderen fühlenden Wesen. Afrikanische Philosophie ist eine Philosophie des »Interseins«.

Anders als manche organisierten Religionen kennen afrikanische spirituelle Philosophien weder Himmel noch Hölle, da sie im Allgemeinen nicht daran glauben, dass etwas wie der Tod existiert. Die Seelen der Verstorbenen werden nicht von einem manichäischen Teufel in der Hölle für ihre Sünden bestraft. Afrikanischer Spiritualität zufolge »leben« die Toten in wiedergeborener Form oder auf nicht-physikalischen Ebenen des Kosmos. Laut der Yoruba-Kultur hat die menschliche Seele drei Ebenen: Kraft oder Atem, Schatten und Geist (emi, ojiji und ori). Die Zulu haben eine ähnliche Triade: idlozi (Schutzgeist), umoya (Atem) und isithunzi (Schatten), und für die Igbo besteht die menschliche Seele aus uwa (sichtbare Welt) und ani mmo (geistige Welt). Für die alten Ägypter:innen waren es ba, ka und akh, Komponenten der Seele, die jeweils die Lebenskraft, die Geisteskraft sowie die Einheit der beiden repräsentieren, die über diese Welt hinausgeht und bis in die nächste reicht. Daraus folgend ist Wissen nicht etwas, das man während des Lebens erwerben und horten muss, da Weisheit und Existenz endlos und unsterblich sind.

Bezeichnenderweise unterstützen afrikanische Philosophien kreativen Ausdruck (Kunst, Tanz, Rituale, Bildhauerei, und so fort) als höchste Form des Wissens. Rituale spiegeln nicht nur Spiritualität wider, sondern auch das Teilen von Wissen. Gottheiten sind nicht einfach göttliche Energien, sondern repräsentieren auch die Philosophie. Jede Göttin und jeder Gott ist die Ausformulierung eines Konzepts. So ist etwa Shango, die spirituelle Verkörperung des Donners, auch eine historische Lesart einer afrikanischen Philosophie der sozialen Gerechtigkeit. Oya, Göttin der Tornados und Beschützerin der Frauen, bietet eine Interpretation des Feminismus im antiken Afrika.

In ihrem letzten Buch Socrates and Òrúnmìlà: The Two Patrons of Classical Philosophy aus dem Jahr 2014 zog die verstorbene nigerianische feministische Philosophin Professor Sophie Bosede Oluwole einen bahnbrechenden Vergleich zwischen Sokrates, dem Begründer der westlichen Philosophie, und Orunmila, dem Verfasser der Wissenssammlung der Yoruba, die bekannt ist als Ifa. Der Ifa-Textkorpus, der mittlerweile größtenteils auch in schriftlicher Form existiert, ist ein geomantisches System aus 256 Zeichen, zu denen Tausende Verse gehören. Er wurde über Jahrtausende im Gedächtnis der traditionellen Yoruba-Philosoph:innen namens Mamalawos und Babalawos (Mütter beziehungsweise Väter des esoterischen Wissens) aufbewahrt, die das Ifa vierzehn Jahre lang studieren mussten, ehe sie seine Weisheit weitergeben durften.

Oluwole fragte sich, weshalb Sokrates, der keine schriftlichen Werke hervorgebracht hat, als Vater der westlichen Philosophie gelten darf, nicht jedoch Orunmila, der ebenfalls seine Ideen an seine Schüler:innen weitergab, ohne sie niederzuschreiben. Wo Sokrates den berühmten Satz sagte: »Ein unerforschtes Leben ist nicht lebenswert«, erklärte Orunmila: »Ein Sprichwort ist ein konzeptuelles Analysewerkzeug.« Wo Sokrates sagte: »Die höchste Wahrheit ist die ewige und unveränderliche«, bemerkte Orunmila: »Wahrheit ist das Wort, das niemals korrumpiert werden kann.« Wo Sokrates sagte: »Gott allein ist weise«, sprach auch Orunmila in folgender Aussage die Grenzen des menschlichen Wissens an: »Kein kluger Mensch kennt die Anzahl der Sandkörner.« Oluwole drängte die Afrikaner:innen dazu, sich ihr philosophisches Erbe zurückzuholen, und argumentierte, der Wissensfundus, den sie in der Yoruba-Tradition entdeckt habe, sei so reich und komplex wie jeder, der sich im Westen finden lässt.

Ich stehe einigen Elementen des afrikanischen spirituellen Lebens ebenso kritisch gegenüber wie allen anderen Formen von Religion. Besonders kritisch bin ich gegenüber der patriarchalischen, autoritären und gerontokratischen (Herrschaft der Ältesten) Denkweise in vielen afrikanischen Philosophietraditionen. Selbst wenn Frauen im antiken Afrika spirituelle Macht besaßen, wurde die Misogynie nicht von den Europäern importiert. Aus Europa kam vielleicht die Misogynie, wie wir sie kennen – die sexuelle Objektifizierung von Frauen, und so weiter. Aber es gibt zu viele historische Belege für Misogynie als Modus Operandi im präkolonialen Afrika, um sie allein mit der Kolonisation in Verbindung zu bringen. Tatsächlich war die spirituelle Macht, über die Frauen im präkolonialen Afrika verfügten, oftmals eine Gegenreaktion auf die patriarchalische Unterdrückung. Auch wenn einige Frauen Zugang zu Macht hatten, war das »Subjekt« in der afrikanischen Gesellschaft ebenfalls männlich.

Außerdem bin ich gegen alle Formen des abergläubischen Denkens als Wissensmethode, da diese sich auf Angst gründen. Die fatalistische Vorstellung, Zeichen und Symbole könnten den Ausgang des eigenen Lebens bestimmen, lenkt davon ab, die Verantwortung zu übernehmen für das eigene Wissen und die eigene Fähigkeit, Lebenserfahrungen zu gestalten.

Europatriarchalisches Wissen mag das größte Hindernis für das Wohlergehen des Planeten und seiner Bewohner:innen darstellen, aber es ist nicht das einzige. Ebenso wenig ist europatriarchalisches Wissen gleichbedeutend mit weißen Männern. Man könnte sagen, romantische Philosophen, Dichter und Künstler wie Ralph Waldo Emerson, D. H. Lawrence und Caspar David Friedrich beförderten etwas ähnliches zu dem, was ich als sinnliches Wissen bezeichne, zumindest was den poetischen und den emotionalen Blickwinkel angeht (sicherlich nicht den afrozentrischen schwarzen feministischen). Nehmen wir als Beispiel Kreidefelsen auf Rügen, von Friedrich gemalt als eine emotionale Reaktion auf die natürliche Welt. Auf dem Gemälde sehen wir Friedrich und seine frischgebackene Ehefrau eine wundervolle Aussicht auf die Kreidefelsen genießen, die heute im deutschen Nationalpark Jasmund liegen. Das Werk evoziert in seinen Betrachter:innen eine beseligende Würdigung der Schönheit der Natur.

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