Allgemeines Verwaltungsrecht

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2. Teil Gesetzmäßigkeit der Verwaltung › B. Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes

B. Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes

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Nach dem in Art. 20 Abs. 3 GG[1] verankerten Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes muss sich die Verwaltung – positiv gewendet – den Gesetzen (inkl. der Grundrechte, siehe Art. 1 Abs. 3 GG) entsprechend verhalten bzw. darf – negativ formuliert – „nicht gegen das Gesetz“ verstoßen. Hieraus wiederum ergibt sich zum einen die Handlungspflicht der Verwaltung, die bestehenden Gesetze anwenden zu müssen (Anwendungsgebot) und die Unterlassungspflicht, vom Inhalt der bestehenden Gesetze nicht abweichen zu dürfen, d.h. diese „richtig“ anwenden zu müssen (Abweichungsverbot).[2]

Beispiel[3]

Auf die Petition des Straßenanliegers A beim zuständigen Landtagsausschuss hin sprach dieser sich für eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h im Bereich einer bestimmten Straßenstrecke aus. Nachfolgend hat der Landtag diesen Beschluss bestätigt, woraufhin das Landesverkehrsministerium dem A mitteilte, dass – obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen des § 45 StVO nicht erfüllt seien – man sich dennoch der Maßgabe des Petitionsausschusses nicht verschließen wolle und daher die von diesem vorgeschlagene Geschwindigkeitsbeschränkung angeordnet werde. Der um die Vornahme einer entsprechenden Ausschilderung gebetene Landrat nahm diese sodann vor. Berufspendler B meint, dass die straßenverkehrsrechtliche Anordnung, die durch die Aufstellung des Verkehrszeichens 274 bekannt gegeben wurde, rechtswidrig sei. Stimmt das?

Ja. Die in § 45 StVO normierten gesetzlichen Voraussetzungen für eine Geschwindigkeitsbeschränkung liegen hier nicht vor. Dann aber durfte die gem. Art. 20 Abs. 3 GG an diese (bundes-)gesetzliche Vorschrift gebundene Behörde diese Rechtsfolge nicht anordnen. Abweichendes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Petitionsausschuss die Anordnung einer derartigen Beschränkung befürwortet und der Landtag diesen Beschluss bestätigt hat. Denn eine Petition (auf Bundesebene vgl. Art. 17 GG), die ein rechtlich nicht erlaubtes Ziel verfolgt, darf nicht befürwortet werden in dem Sinne, dass eine Umsetzung gegen geltendes Recht empfohlen wird. Vielmehr ist der Petent in einem solchen Fall über die Rechtslage aufzuklären. Ggf. kann aus Anlass der Petition auch gegenüber dem zuständigen Gesetzgeber die Empfehlung ausgesprochen werden, die Rechtslage für die Zukunft zu ändern. Doch darf in keinem Fall dem Begehren des Petenten wider geltendes Recht zur Durchsetzung verholfen werden. Entspricht aber die Umsetzung des Begehrens nicht dem geltenden Recht, so kann die Exekutive auch gegenüber dem Petitionsausschuss und dem Landtag nicht dazu verpflichtet sein, eine derartige Anordnung zu erlassen. Im Übrigen ist der Landtag aus Gründen der Gewaltenteilung (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) in Bezug auf Petitionen generell nur dazu befugt, Empfehlungen zu geben, nicht jedoch verbindliche Anweisungen für die Behandlung eines Einzelfalles. Andernfalls wären nämlich die Funktionsbereiche der übrigen Verfassungsorgane (hier: der Landesregierung) beeinträchtigt.

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Der Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes gilt ohne Ausnahme sowohl für belastende als auch für begünstigende Tätigkeiten der Exekutive und unabhängig davon, ob die Verwaltung in öffentlich- oder privatrechtlicher Form handelt. Soweit im konkreten Fall eine bestimmte Norm (Gesetz im formellen oder materiellen Sinn; Rn. 8) anwendbar ist, muss die Verwaltung daher die in ihr enthaltenen Vorgaben befolgen.[4]

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Die vom Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes vorausgesetzte grundsätzliche Anwendbarkeit einer Norm kann im Einzelfall allerdings zweifelhaft sein (näher Rn. 135 ff.; zur Wirksamkeit siehe Rn. 129 ff.). So bejaht die Rechtsprechung beispielsweise zwar die Geltung der Grundrechte (v.a. Art. 3 Abs. 1 GG) und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich des Verwaltungsprivatrechts, in dem ein Träger öffentlicher Verwaltung eine öffentliche Aufgabe (z.B. öffentlicher Personennahverkehr) in Privatrechtsform (z.B. AG, GmbH) wahrnimmt (Argument: „keine Flucht ins Privatrecht“; Rn. 53), verneinte sie aber mitunter – entgegen dem Schrifttum – unter Hinweis auf das Fehlen eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses bei der Vornahme von fiskalischen Hilfsgeschäften zur Bedarfsdeckung („Staat als Kunde“, z.B. Behörde kauft Büromaterial) oder der erwerbswirtschaftlichen Betätigung des Staates („Staat als Unternehmer“, z.B. Beteiligung an Unternehmen);[5] Entsprechendes galt für die Verwaltung von Vermögensgegenständen durch den „Staat als Eigentümer“ (z.B. Vermietung von öffentlichen [Werbe-]Flächen).[6] Diese ältere Judikatur der Instanzgerichte hat das BVerfG jedoch mit dem zutreffenden Hinweis darauf ausdrücklich zurückgewiesen, dass die Grundrechte nicht nur für bestimmte Bereiche, Funktionen oder Handlungsformen staatlicher Aufgabenwahrnehmung gelten, sondern die öffentliche Gewalt umfassend und insgesamt binden. Deren unmittelbare Bindung an die Grundrechte hängt weder von der Organisations-[7] noch von der Handlungsform[8] ab. „Für die früher verbreitete Auffassung, wonach die ,fiskalische‘, das heißt die privatrechtlich handelnde Verwaltung jenseits des sogenannten Verwaltungsprivatrechts grundsätzlich keiner Grundrechtsbindung unterliege, ist mit Blick auf Art. 1 Abs. 3 GG […] kein Raum.“[9]

Beispiel[10]

Die radikale Partei P unterhält bei der Stadtsparkasse S (Anstalt des öffentlichen Rechts gem. § 1 L-SpkG) ein Girokonto. Nach einem bundesweit ausgestrahlten Fernsehbericht über die Aktivitäten von P kündigt S unter Hinweis auf die ihrer Ansicht nach verfassungsfeindliche Zielsetzung von P die Geschäftsbeziehung mit dieser. Mit der Begründung, dass die Kündigung gesetzwidrig und damit unwirksam sei, klagt P gem. § 256 Abs. 1 ZPO vor dem zuständigen Zivilgericht auf Feststellung, dass der Girovertrag durch die Kündigung nicht beendet worden ist. Hat P in der Sache Erfolg?

Ja. Denn die Kündigung verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG und ist daher gem. § 134 BGB nichtig. Als Anstalt des öffentlichen Rechts (§ 1 L-SpkG) im Bereich staatlicher Daseinsvorsorge, nämlich der Versorgung mit geld- und kreditwirtschaftlichen Leistungen inkl. der Eröffnung der Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr, ist S Teil der vollziehenden Gewalt und damit gem. Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden. Dass S diese Aufgaben mit Mitteln des Privatrechts erfüllt und der Girovertrag zwischen den Parteien privatrechtlicher Natur ist, ändert nichts an der unmittelbaren Grundrechtsbindung von S. Vielmehr ist die öffentliche Hand auch dann unmittelbar an die Grundrechte gebunden, wenn sie öffentliche Aufgaben in privatrechtlichen Rechtsformen wahrnimmt. Die vorliegend mithin anwendbare Grundrechtsbestimmung des Art. 3 Abs. 1 GG ist in ihrer Ausprägung als Willkürverbot dann verletzt, wenn sich ein sachgerechter Grund für die betreffende Maßnahme der öffentlichen Gewalt nicht finden lässt. Als derartigen Sachgrund für die Kündigung hat S die verfassungsfeindliche Zielsetzung von P angeführt. Hierauf kann sich S wegen der Sperrwirkung des Art. 21 Abs. 4 GG allerdings nicht berufen. Nach dieser Vorschrift entscheidet über die Verfassungswidrigkeit einer Partei allein das BVerfG. Hierbei handelt es sich i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG um eine Privilegierung der politischen Parteien gegenüber allen anderen Vereinigungen und Verbänden (vgl. Art. 9 Abs. 2 GG). Bis zu einer entsprechenden Entscheidung des BVerfG kann niemand die Verfassungswidrigkeit einer Partei rechtlich geltend machen. Die Partei soll in ihren politischen Aktivitäten von jeder rechtlichen Behinderung frei sein, solange sie mit allgemein erlaubten Mitteln arbeitet. Die Kündigung stellt eine solche unzulässige rechtliche Behinderung dar. Sie greift zwar nicht unmittelbar in die politische Tätigkeit von P ein, beeinträchtigt aber deren Betätigungsfreiheit wesentlich. P ist bei ihrer Arbeit auf die Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr angewiesen. Anders kann sie Zahlungen von existenzieller Bedeutung, nämlich die staatliche Teilfinanzierung (§ 18 Abs. 1 S. 1 ParteiG), nicht entgegennehmen. Auch die Begleichung von Mieten, Telefongebühren oder von Rechnungen im Zusammenhang mit Parteiveranstaltungen ist in weitem Umfang ohne Girokonto praktisch nicht durchführbar.

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Abhängig von der jeweiligen Handlungsform der Verwaltung sowie der Schwere der Rechtsverletzung hat ein Verstoß gegen den Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes zumindest die Rechtswidrigkeit, ggf. aber sogar die Nichtigkeit der betreffenden Verwaltungsmaßnahme zur Folge (zum Verwaltungsakt: Rn. 212 ff., 246 f.; zum öffentlich-rechtlichen Vertrag: Rn. 112 ff.; zu Rechtsverordnungen und Satzungen: Rn. 132).

 

Hinweis

Namentlich die Prüfungspunkte „formelle Rechtmäßigkeit“ (Rn. 139 ff.) und „materielle Rechtmäßigkeit“ (Rn. 215 ff.) des Verwaltungsakts sind Ausfluss des Grundsatzes vom Vorrang des Gesetzes.


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Anmerkungen

[1]

In § 54 S. 1 VwVfG a.E. (Rn. 102) ist der Vorrang des Gesetzes einfachgesetzlich positiviert.

[2]

Detterbeck Jura 2002, S. 235; Gusy, JA 2002, 610 (611); Hölscheidt JA 2001, 409; Wehr JuS 1997, 231; Wienbracke Staatsorganisationsrecht, S. 10 f. m.w.N.

[3]

Nach VGH Kassel DAR 2016, 341.

[4]

Degenhart Staatsrecht I Rn. 310 f.; Detterbeck Jura 2002, S. 235 (236); Maurer/Waldhoff Allgemeines Verwaltungsrecht § 6 Rn. 2.

[5]

Zum Ganzen siehe Wienbracke Einführung in die Grundrechte Rn. 108 m.w.N.

[6]

Vgl. Erbguth StudZR 2011, 17 (27).

[7]

Hierzu siehe BVerfG NJW 2016, 3153 (3154) m.w.N.: „Die Wahl der Organisationsform hat keine Auswirkungen auf die Grundrechtsbindung des Staates oder anderer Träger öffentlicher Gewalt. Das gilt nicht nur dann, wenn sie ihre Aufgaben unmittelbar selbst oder mittelbar durch juristische Personen des öffentlichen Rechts erfüllen, sondern auch dann, wenn sie auf privatrechtliche Organisationsformen zurückgreifen. Das gilt auch für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen des Privatrechts, solange sie diese beherrschen. In diesen Fällen trifft die Grundrechtsbindung nicht nur die dahinterstehende Körperschaft des öffentlichen Rechts, sondern auch unmittelbar die juristische Person des Privatrechts selbst“.

[8]

Hierzu siehe BVerfG NJW 2016, 3153 (3154) m.w.N.: „Die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt gilt auch unabhängig von den gewählten Handlungsformen und den Zwecken, zu denen sie tätig wird. Sobald der Staat oder andere Träger öffentlicher Gewalt eine Aufgabe an sich ziehen, sind sie bei deren Wahrnehmung an die Grundrechte gebunden. Dies gilt auch, wenn sie insoweit auf das Zivilrecht zurückgreifen. Eine Flucht aus der Grundrechtsbindung in das Privatrecht mit der Folge, dass der Staat unter Freistellung von Art. 1 Abs. 3 GG als Privatrechtssubjekt zu begreifen wäre, ist ihm verstellt. Unerheblich ist auch, ob die für den Staat oder andere Träger öffentlicher Gewalt handelnde Einheit ,spezifische‘ Verwaltungsaufgaben wahrnimmt, ob sie erwerbswirtschaftlich oder zur reinen Bedarfsdeckung tätig wird (‚fiskalisches‘ Handeln) und welchen sonstigen Zweck sie verfolgt.“

[9]

Zum Ganzen: BVerfG BeckRS 2019, 2533.

[10]

Nach BGH NJW 2003, 1658. Vgl. auch BVerwG NVwZ 2018, 819; NJW 2019, 1317 und das Beispiel im Skript „Verwaltungsprozessrecht“ Rn. 95.

3. Teil Handlungsformen der Verwaltung

Inhaltsverzeichnis

A. Abgrenzung „öffentliches Recht“ und „Privatrecht“

B. Handlungsformen der Verwaltung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts

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In dem durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gezogenen Rahmen (Rn. 8 ff.) lassen sich eine Vielzahl von Handlungsformen der Verwaltung ausmachen. Diese stehen allerdings mitunter nicht allen Stellen der öffentlichen Verwaltung in gleichem Umfang zur Verfügung (z.B. Satzungen) bzw. können einige Aufgabenbereiche nicht in jeder Rechtsform wahrgenommen werden (z.B. keine Beamtenernennung durch Vertrag), während die Verwaltung in anderen Sachbereichen (z.B. öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Ausgestaltung des Nutzungsverhältnisses einer öffentlichen Einrichtung) über ein Wahlrecht bzgl. ihrer Handlungsform – und Organisationsform (Rn. 29 f. und Rn. 53) – verfügt. Auch variieren die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit einer Verwaltungsmaßnahme je nach gewählter Handlungsform (Rechtsverordnung: Art. 80 GG, Rn. 12; Verwaltungsakt: §§ 35 ff. VwVfG, Rn. 39 ff.; öffentlich-rechtlicher Vertrag: §§ 54 ff. VwVfG, Rn. 94 ff.).

3. Teil Handlungsformen der Verwaltung › A. Abgrenzung „öffentliches Recht“ und „Privatrecht“

A. Abgrenzung „öffentliches Recht“ und „Privatrecht“

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Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen öffentlich-rechtlichem Verwaltungshandeln einerseits und privatrechtlichem Handeln der Verwaltung andererseits.[1]

JURIQ–Klausurtipp

Die Abgrenzung des öffentlichen Rechts vom Privatrecht kann in der Klausurbearbeitung an mehreren Stellen zu diskutieren sein:


Anwendbarkeit des VwVfG, siehe § 1 Abs. 1 VwVfG (Rn. 152);
Vorliegen eines Verwaltungsakts, siehe § 35 S. 1 VwVfG (Rn. 45);
Vorliegen eines öffentlich-rechtlichen Vertrags, siehe § 54 VwVfG (Rn. 97 f.);
Verwaltungsvollstreckung, siehe § 1 Abs. 1 und vgl. § 6 VwVG (vgl. Rn. 335 ff.);

Die Zuordnung des konkret zu beurteilenden Verwaltungshandelns entweder zum öffentlichen Recht[4] oder zum Privatrecht wird sich in der Fallbearbeitung oftmals bereits aus dem eindeutig öffentlich-rechtlichen Charakter des Gesetzes (z.B. jeweiliges Landes-OBG/SOG bzw. PAG/PolG) ergeben, auf dem die betreffende Verwaltungsmaßnahme beruht. Auf die drei nachstehenden Abgrenzungstheorien braucht in derartigen Fallgestaltungen klassisch öffentlich-rechtlicher Eingriffsverwaltung nicht weiter eingegangen zu werden. Vielmehr werden diese Theorien nur dann einmal relevant, wenn wirkliche Zweifel am öffentlich- oder privatrechtlichen Charakter der einschlägigen Norm – sofern vorhanden – bestehen (z.B. § 70 GewO).

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die Subordinations- bzw. Subjektionstheorie besagt, dass Rechtssätze, die das Verhalten von Hoheitsträgern regeln, dann öffentlich-rechtlich sind, wenn sie ein Über- bzw. Unterordnungsverhältnis betreffen. Auch diese Theorie sieht sich allerdings Einwänden ausgesetzt: So kennt zum einen das öffentliche Recht durchaus nicht nur Über-/Unterordnungs-, sondern auch Gleichordnungsverhältnisse (z.B. öffentlich-rechtlicher Vertrag; Rn. 94 ff.), und sind zum anderen auch im Privatrecht Subordinationsverhältnisse anzutreffen (z.B. Arbeitsrecht, vgl. § 106 GewO). Ferner hilft diese Theorie namentlich im Organisationsrecht und im Bereich der Leistungsverwaltung nicht weiter;

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In der Rechtspraxis[8] werden diese drei Abgrenzungstheorien ungeachtet dogmatischer Einwände nicht exklusiv, sondern vielmehr nebeneinander angewandt, um die Rechtsnatur einer Vorschrift zu ermitteln.

JURIQ–Klausurtipp

Die drei vorgenannten Theorien wurden entwickelt, um eine Norm entweder dem öffentlichen Recht oder aber dem Privatrecht eindeutig zuordnen zu können. Diese Abgrenzungstheorien sind für die in der Fallbearbeitung zu begutachtende Maßnahme (z.B. im Rahmen von § 35 S. 1 VwVfG) bzw. Streitigkeit (z.B. im Rahmen von § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO) daher nur relevant, falls diese auch tatsächlich auf einer Norm beruht. Ist Letztere öffentlich-rechtlicher Natur, so ist es ebenfalls die auf ihr beruhende Maßnahme bzw. Streitigkeit.

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Ist im konkreten Fall dagegen keine Rechtsnorm einschlägig (so z.B. i.d.R. im Bereich der Leistungsverwaltung) oder stehen zwei sich gegenseitig ausschließende Normen des öffentlichen Rechts und des Privatrechts zur Verfügung, ist wie folgt zu verfahren:

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Handelt es sich bei der Organisationsform der tätig gewordenen Person um eine solche des Privatrechts (z.B. Stadtwerke GmbH), so steht die Rechtsnatur ihrer Handlung als privatrechtlich damit i.d.R. ebenfalls ohne weiteres fest. Denn mit Ausnahme von Beliehenen (Rn. 51) können natürliche und juristische Personen des Privatrechts nur privatrechtlich, nicht aber öffentlich-rechtlich handeln, vgl. etwa § 44 Abs. 3 S. 1 BHO: „Juristischen Personen des privaten Rechts kann […] die Befugnis verliehen werden, Verwaltungsaufgaben […] im eigenen Namen und in den Handlungsformen des öffentlichen Rechts wahrzunehmen“.

Beispiel[9]

Die kreisfreie Stadt S ist an der Städtischen Verkehrsgesellschaft mbH (SV GmbH) beteiligt. In deren Beförderungsbedingungen ist u.a. geregelt, dass ein Fahrgast ein erhöhtes Beförderungsentgelt in Höhe von 60 € zahlen muss, wenn er keinen gültigen Fahrausweis hat. Als Fahrgast F einen solchen bei einer routinemäßigen Kontrolle in einem von der SV GmbH betriebenen Busse nicht vorzeigen kann, erlässt diese kurze Zeit später einen mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehenen „Bescheid“, in dem F unter Anordnung der sofortigen Vollziehung zur Zahlung des erhöhten Beförderungsentgelts aufgefordert wird. Durfte die SV GmbH in dieser Weise handeln?

Nein. Bei dem „Bescheid“ handelt es sich (nur) der äußeren Form nach um einen Verwaltungsakt, d.h. eine öffentlich-rechtliche Maßnahme. Eine solche kann nach § 35 S. 1 VwVfG allerdings nur von einer Behörde erlassen werden. Behörde ist nach § 1 Abs. 4 VwVfG jede Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt. Als Privatrechtssubjekt ist die SV GmbH allerdings weder selbst Behörde noch sind im Sachverhalt Angaben dazu enthalten, dass die SV GmbH von S als Verwaltungshelfer beauftragt oder kraft Gesetzes als Beliehene mit eigenen Verwaltungszuständigkeiten betraut worden wäre. Als Nicht- bzw. Schein-Verwaltungsakt entbehrt der von der SV GmbH erlassene „Bescheid“ daher jeglicher formeller und materieller Wirkung (nullum). Vielmehr muss sie ihre Rechte gegenüber F privatrechtlich geltend machen.

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Vorbehaltlich entgegenstehender gesetzlicher Regelungen (z.B. § 50 Abs. 1 S. 1 BAföG: „Bescheid“) haben öffentlich-rechtlich organisierte Verwaltungsträger demgegenüber nach h.M. ein Wahlrecht, entweder als Hoheitsträger öffentlich-rechtlich oder als juristische Person privatrechtlich tätig zu werden.[10] Dabei erstreckt sich diese Wahlfreiheit im Grundsatz sowohl auf die Organisationsform der die Aufgabe erfüllenden Einrichtung (Rn. 53, z.B. rechtlich unselbständiger Regie- oder Eigenbetrieb [§ 114 GO NRW], rechtlich selbständige privatrechtliche Eigengesellschaft [vgl. § 108 GO NRW] oder Anstalt des öffentlichen Rechts [§ 114a GO NRW]) als auch auf die Ausgestaltung des Leistungs- bzw. Benutzungsverhältnisses (Rn. 22).

Doch ist der Rechtscharakter der jeweiligen Maßnahme auch insoweit nicht weiter zu problematisieren, als sich der Verwaltungsträger einer eindeutigen Handlungsform entweder des öffentlichen Rechts (z.B. „Verwaltungsakt“[11]) oder des Privatrechts (z.B. „Rechnung“; siehe Rn. 45 und Rn. 69) bedient hat.

Beispiel[12]

Hoheitsträger H hat auf privatrechtlicher Grundlage Räumlichkeiten zum Betrieb einer Gaststätte an Pächter P verpachtet.

Beabsichtigt H das Pachtverhältnis mit P zu beenden, so bedarf es hierzu einer privatrechtlichen Kündigung. Erlässt H gleichwohl eine für sofort vollziehbar erklärte und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehene „Verfügung“, in der P unter Androhung eines Zwangsgelds zur Räumung der Gaststätte verpflichtet wird, so hat H tatsächlich (rechtswidrig) in öffentlich-rechtlicher – statt (rechtmäßig) in privatrechtlicher – Form gehandelt.

Hinweis

Ob die von der Verwaltung gewählte Handlungsform rechtmäßig ist, d.h. ob die Verwaltung nach dem Gesetz auch so handeln durfte bzw. musste, wie sie tatsächlich gehandelt hat, ist im vorliegenden Zusammenhang ohne Bedeutung. Denn die Frage nach der Rechtsnatur einer Verwaltungsmaßnahme ist von derjenigen nach ihrer Rechtmäßigkeit streng zu trennen.[13]

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Sofern sich die Verwaltung im konkreten Fall auch nicht einer eindeutigen Handlungsform bedient haben sollte, ist das Rechtsregime anhand von Indizien wie dem Sachzusammenhang des Verwaltungshandelns und dessen Ziel und Zweck zu ermitteln:

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So erfolgt fiskalisches Handeln (Rn. 20) wie die Bedarfsdeckung des Staates (z.B. Einkauf von Büromaterialien), die Verwaltung staatlichen Vermögens (z.B. Verkauf ausrangierter Dienstfahrzeuge) sowie die staatliche Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr (z.B. unternehmerisches Auftreten des Staates als Anbieter am Güter- und Dienstleistungsmarkt) jeweils in privatrechtlicher Form.

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Namentlich im Rahmen der Leistungsverwaltung (z.B. Subventionsvergabe[14], Benutzung öffentlicher Anstalten und Einrichtungen[15]) ist nach der von H.P. Ipsen[16] entwickelten Zwei-Stufen-Theorie zwischen der stets als öffentlich-rechtlich zu qualifizierenden Bewilligung bzw. Zulassung auf der ersten Stufe (dem „Ob“) und der entweder öffentlich-rechtlich (Indiz: Benutzungsordnung als „Satzung“ ergangen, Erhebung einer Benutzungsgebühr) oder[17] privatrechtlich (Indiz: Benutzungsordnung als „Allgemeine Geschäftsbedingungen“ ergangen, Forderung eines Benutzungsentgelts) ausgestalteten Abwicklung auf der zweiten Stufe (dem „Wie“) zu unterscheiden.[18]


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Beispiel[19]

Auf Antrag des Ortsvereins der P-Partei hin überlässt der Oberbürgermeister der Stadt S der P-Partei mit Bescheid vom 14.12. die im Eigentum von S stehende Stadthalle für eine Wahlkampfveranstaltung. Im Gegenzug hierfür verpflichtet sich P im daraufhin mit S gem. §§ 535 ff. BGB geschlossenen Mietvertrag zur Zahlung einer Miete i.H.v. 5000 €.

Falls P gleichwohl der Zutritt zur Stadthalle verwehrt wird, ist für die diesbezügliche öffentlich-rechtliche Streitigkeit (auf der ersten Stufe hinsichtlich des „Ob“) der Verwaltungsrechtsweg gem. § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet. Falls P die 5000 € Miete nicht zahlt, muss sich S bzgl. dieser privatrechtlichen Streitigkeit (auf der zweiten Stufe bzgl. des „Wie“) gem. § 13 GVG an das zuständige Zivilgericht wenden.

Hinweis

Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Zwei-Stufen-Theorie ist die strukturelle Zweistufigkeit des betreffenden Vorgangs. Hieran fehlt es etwa bei der (privatrechtlichen) Vergabe öffentlicher Aufträge, so dass unterhalb der Schwellenwerte des § 2 VgV der Zivilrechtsweg eröffnet ist.[20]

Wird die öffentliche Einrichtung[21] (z.B. i.S.v. § 10 Abs. 2 S. 2 GemO BW, Art. 21 Abs. 1 S. 1 bay. GO, § 8 Abs. 2 GO NRW) von einer juristischen Person des Privatrechts betrieben (z.B. Stadthallen-GmbH), deren Anteile sich mehrheitlich in der Hand beispielsweise einer Gemeinde befinden, kann das Benutzungsverhältnis (zweite Stufe) nur privatrechtlich ausgestaltet sein (vgl. Rn. 29). Wird die Zulassung (erste Stufe) versagt, hat der Bürger einen dahingehenden Anspruch gegenüber der Gemeinde als Gesellschafterin, dass diese auf die privatrechtlich organisierte Gesellschaft so einwirkt, dass Letztere dem Bürger den Zugang zu der Einrichtung verschafft.[22] Entsprechendes gilt (z.B. über vertraglich begründete Mitwirkungs- oder Weisungsrechte), wenn die Gemeinde die Betriebsführung einem Privaten etwa im Rahmen eines privatrechtlichen Miet-, Pacht- oder Leiheverhältnisses überlässt.[23]

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Realakte wie die Dienstfahrten eines Beamten sind nach der Rechtsprechung[24] dann als öffentlich-rechtlich zu beurteilen, wenn sie zur Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben erfolgen (z.B. Bürgermeister fährt zu einer dienstlichen Besprechung). Erfolgt die Fahrt dagegen aus fiskalischen Gründen (z.B. Bürgermeister fährt zu einem Gewerbetreibenden, um mit diesem über den Verkauf seines Grundstücks an die Gemeinde zu verhandeln), so ist sie als privatrechtlich zu beurteilen. Entsprechendes gilt ebenfalls hinsichtlich des Anspruchs des Bürgers auf Widerruf bzw. Unterlassung ehrverletzender Äußerungen eines Beamten bzw. von Informationen, Warnungen etc. einer Behörde sowie hinsichtlich Ansprüchen des Staates gegenüber dem Bürger auf Rückzahlung von zu Unrecht gewährten Geldleistungen; wiederum ist jeweils der Zusammenhang des Tätigwerdens bzw. die Rechtsnatur des zugrundeliegenden Leistungsverhältnisses ausschlaggebend. Bei Streitigkeiten betreffend die wirtschaftliche Tätigkeit von Gemeinden ist zwischen dem – öffentlich-rechtlichen – „Ob“ (vgl. z.B. §§ 102 ff. GemO BW, Art. 86 ff. bay. GO, §§ 107 ff. GO NRW) und dem – privatrechtlichen – „Wie“ (siehe die Vorschriften des GWB und des UWG) des Wettbewerbs zu differenzieren.

Beispiel[25]

Auf der dem Haus des H gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich ein Schuppen, den die Stadt S als Standort einer Baukolonne nutzt. Die Aufgabe der dort tätigen Bediensteten besteht v.a. darin, die örtlichen Straßen und Wege in verkehrssicherem Zustand zu erhalten. Zu diesem Zweck werden im Schuppen u.a. Geräte umgerüstet sowie gereinigt, repariert und gewartet. Durch den hierdurch verursachten Lärm fühlt sich H gestört, weshalb er Klage gegen S auf Einstellung und künftige Unterlassung der Nutzung des Schuppens als Standort der Baukolonne vor dem Verwaltungsgericht erhebt. S meint, der Verwaltungsrechtsweg sei nicht eröffnet. Ist diese Auffassung zutreffend?

Nein. Mangels Sonderzuweisung ist für die Klage des H der Verwaltungsrechtsweg gem. § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet, weil es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art handelt. Der von H geltend gemachte Abwehranspruch ist öffentlich-rechtlicher Natur. Der (nachbarrechtliche) Abwehranspruch gegen die öffentliche Hand teilt die Rechtsnatur des „Eingriffs“, also die des Verwaltungshandelns, das die abzuwehrenden Immissionen verursacht. Er ist bürgerlich-rechtlich und gem. § 13 GVG vor dem Zivilgericht zu verfechten, wenn die öffentliche Hand als Fiskus „stört“. Hingegen unterfällt er als öffentlich-rechtlicher Abwehranspruch der verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit, wenn die störenden Beeinträchtigungen von (öffentlich-rechtlich organisierten) Anlagen oder Veranstaltungen des Staates in Ausübung (schlicht-)hoheitlicher Verwaltungstätigkeit ausgehen und zu diesen öffentlich-rechtlich bestimmten Maßnahmen in einem hinreichend engen inneren und äußeren Zusammenhang stehen. Letzteres ist hier der Fall. Die von H bekämpften Beeinträchtigungen werden durch die im Schuppen ausgeführten Tätigkeiten der Baukolonne verursacht. Da diese ihrer äußeren Erscheinungsform nach in dem Sinne „neutral“ sind, dass sie in gleicher Weise von Privaten durchgeführt werden können, lässt sich ihre Rechtsnatur nur aus dem Funktionszusammenhang, in dem sie stehen, bestimmen. Danach sind die hier streitigen Immissionen hoheitlich, weil die eigentliche Zielsetzung des sie verursachenden Verwaltungshandelns dem Gebiet hoheitlicher Betätigung der Staatsgewalt angehört. Die Haupttätigkeit der Baukolonne zielt nämlich auf die Wahrnehmung der S nach den Vorschriften des Gesetzes über die Reinigung öffentlicher Straßen, des (Landes-)Straßen- und Wegegesetzes sowie in ihrer Eigenschaft als Eigentümerin der städtischen Straßengrundstücke obliegenden Aufgaben, bei deren Erfüllung sie hoheitlich handelt. Die eigentlich störenden Verrichtungen stehen dazu in unmittelbarem, innerem und äußerem Zusammenhang, weil sie bloßen Hilfscharakter aufweisen. Sie dienen der Vorbereitung bzw. sind die Folge der eigentlichen Tätigkeiten der Baukolonne.