Die Partie. Thriller

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Die Partie. Thriller
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Mike Wächter

Die Partie. Thriller

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Titelei

Inhalt

Stadtplan

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Anmerkungen des Autors

KURFÜRSTENGLANZ UND KURPFUSCHERTUM

Impressum neobooks

Titelei


Inhalt

Ein Wahnsinniger veranstaltet eine mörderische Schachpartie – dafür dient ihm der schachbrettartige Grundriss der Mannheimer Innenstadt als Spielbrett. Die Hinweise, die die Polizei erhält, führen zurück in die Geschichte: Zum Kurfürsten Carl Theodor, der einst die Illuminaten verbieten ließ, und zu einer weiteren sonderbaren Geheimgesellschaft.

Kommissar Kimski, ehemaliger SEK-Beamter, lässt sich auf das tödliche Katz-und-Maus-Spiel ein. Beim Berechnen des jeweils nächsten Zuges hilft ihm die Journalistin Eva - die, wie sich herausstellt, Geschichte studiert hat. Schnell stellt sich heraus, dass die beiden ein Rennen gegen die Zeit bestehen müssen.

Über den Autor: Mike Wächter arbeitet als freiberuflicher Journalist und Schriftsteller und lebt in Süddeutschland. www.mikewaechter.de

Ebenfalls von Mike Wächter erschienen: Die Shakespeare-Lüge. Ein historischer Thriller

Kurzbeschreibung: England im Frühjahr 1610: Nach fünfundzwanzig Jahren kehrt der gefeierte Theaterautor William Shakespeare in sein Heimatstädtchen Stratford zurück. Seine Frau Anne und die Töchter Judith und Susanna, die er einst in der Provinz zurückließ, wissen nicht, wie ihnen geschieht.

Doch als ein Reisender den Heimgekehrten bezichtigt, ein Hochstapler zu sein, und ein Mordanschlag auf Shakespeare verübt wird, muss Anne das tödliche Geheimnis aufdecken, das ihren Mann umgibt.

Stadtplan


Der „schachbrettartige“ Grundriss der Mannheimer Innenstadt.

1

Samstag, 3.27 Uhr

Krähen. Ein halbes Dutzend. Sie saßen auf der Kuppel der Christuskirche und beobachteten den Nebel. Der Dunst lag dicht und düster über den menschenleeren Straßen. Allein der halbrunde Turm des Gotteshauses ragte verlassen aus den Nebelschwaden hervor. Der goldene Engel auf der obersten Spitze blies mit seiner Posaune in die kalte Nacht, um ihn herum lauerten die Krähen. Es war beinahe so, als wollten sie die Menschen täuschen und sie in dem Glauben lassen, es gäbe im Sommer keine Krähen in der Stadt. In Wirklichkeit wohnten sie das ganze Jahr hier.

Vereinzelt durchschnitt der Schein des Vollmonds den milchigen Brei mit seinen Strahlen und beleuchtete zwei schwarz gekleidete Gestalten. Als die beiden an der Kirche vorbeischritten, erhob sich eine der Krähen mit lautem Krächzen in die Luft. Der Vogel tauchte im Sturzflug in den Nebel ein, als wollte er den Menschen folgen. Doch knapp über ihren Köpfen zog er nach oben und schoss über sie hinweg in die Nacht.

Die Männer reagierten nicht. Um die Schultern trugen sie schwarze Umhänge, deren Säume bis fast auf den Boden hingen. Die Gesichter der Männer wurden von schwarzen Masken verdeckt. Historische Karnevalsmasken. Ebenfalls schwarz und mit Augenlöchern und geschwungenen Vogelschnäbeln. Wie Figuren aus einer vergangenen Zeit liefen sie an Jugendstilvillen und an Nachkriegsbauten vorbei, die sich beliebig aneinanderreihten, und tauchten dabei immer tiefer in die Mannheimer Oststadt ein. Nach ein paar Metern begegnete ihnen ein torkelnder Passant.

»Ja – haben wir denn schon Fasching«, lallte er und lachte. Er schüttelte den Kopf und bewegte die flache Hand vor seinem Gesicht hin und her, so wild, dass er das Gleichgewicht verlor und umfiel. Die Männer beachteten ihn nicht. Nachdem er sich einen Moment gesammelt hatte, richtete er sich auf und verschwand in der Nacht.

An einer Straßenecke blieben die Maskierten stehen. Der Größere griff mit seinen Samthandschuhen unter seinen Mantel und holte aus einer kleinen Sporttasche ein elektronisches Gerät hervor. Er betätigte den Einschaltknopf. Auf dem winzigen Monitor erschien ein undeutliches Bild. Schemenhaft war ein Raum zu erkennen, in dem sich ein breiter Treppenaufgang befand.

»Die Überwachungskamera vom Eingangsbereich. Wir müssen näher ran, um die Schlafzimmerkamera zu empfangen.«

Sie überquerten die Straße und stellten sich direkt unter das Schlafzimmerfenster einer Gründerzeitvilla. Jetzt war das Bild deutlich. Es zeigte ein anderes Zimmer. Ein Mann lag einsam in einem Bett und schlief.

»Ich hatte recht. Er ist alleine.«

Der Kleinere lachte leise. Er starrte das Monitor-Babyfon an. Er hielt nicht viel von den technischen Schöpfungen der Neuzeit. Aber wenn es seiner Sache dienlich war.

Der Größere steckte das Gerät wieder ein. Sie schritten durch das eiserne Eingangstor, das ihnen mit einem schwachen Quietschen den Weg in den Vorgarten freigab. Als sie die zehn großen Stufen zum Eingangsportal hochstiegen, zog der Größere sein rechtes Bein nach, was wenig zu seiner sonst athletischen Erscheinung passte. Der Kleinere klingelte.

»Sind Sie sicher, dass er uns einfach so öffnen wird?«

»Sicherlich.« Der Antwortende räusperte sich. Dann fügte er in bedauerndem Ton hinzu: »Die Auffassungsgabe des Menschen ist sehr beschränkt.«

Erneut drückte sein rechter Finger den Klingelknopf. Der Hall des Glockentons drang bis vor die Haustür. Der Größere griff in seine Tasche und holte das Funksprechgerät wieder hervor.

 

»Jetzt ist er aufgewacht. Sehen Sie, er sieht um sich, fragt sich, wo er ist – nun kommt er zu sich und steht auf.«

Mittlerweile klingelte der Kleinere zum siebten Mal. Der Größere schaltete den Monitor aus, steckte ihn zurück in die Tasche und holte stattdessen ein kurzes Stück Seil hervor, nicht länger als 50 Zentimeter. Er wickelte sich ein Ende um die rechte Hand. Als Nächstes griff er nach einem Bolzenschneider, umklammerte den Griff und verschränkte beide Hände hinter dem Rücken. In der Eingangshalle des Hauses ging das Licht an, wie man durch die Milchglasscheiben sehen konnte. Schritte ertönten und näherten sich. Die Tür wurde nur einen Spaltbreit geöffnet. Der Größere blickte auf die Türkette.

Der zerzauste Kopf eines Mannes mittleren Alters tauchte hinter der Kette auf.

»Herr Oberbürgermeister, ich wünsche Ihnen einen schönen guten Abend.« Der Kleinere übernahm das Reden. »Wir möchten ...«

»Guten Abend? Es ist drei Uhr in der Nacht!«

Der Oberbürgermeister machte die Augen nun etwas weiter auf und erschrak, als er die seltsame Aufmachung der beiden ungebetenen Gäste sah.

»Es ist drei Uhr und 31 Minuten, um genau zu sein. Und nun lassen Sie uns bitte herein.« Der Tonfall des Kleineren klang zugleich förmlich und fordernd.

»Herein?«

»Werden Sie nicht unhöflich.«

»Ich denke, Sie sollten umgehend von meiner Treppe verschwinden, bevor ich die Polizei rufe«, sagte der Oberbürgermeister. Mit einer Hand griff er zur Tür, um sie zuzuschlagen.

»Bitte, so lassen Sie uns doch vernünftig miteinander reden«, sagte der Kleinere und schob seinen Fuß in den Türspalt. Ein dumpfer Schlag ertönte, als das Holz gegen den Stiefel knallte.

»Lassen Sie das!«

Langsam wachte der Oberbürgermeister auf.

Der Kleinere nickte dem Größeren zu. Dieser hatte den Bolzenschneider bereits hinter seinem Rücken hervorgeholt.

»Ich habe Sie gewarnt! Ich rufe die Polizei!« Der Bürgermeister trat von der Tür zurück.

Die Kette hielt dem Biss der Zange nicht stand. Der große Mann stürmte in die Eingangshalle. Der Kleinere trat nach ihm ein, schloss bedächtig die Tür und wartete. Sein Begleiter stand in der Mitte des Raumes und sah sich um. Wohin war der Hausherr verschwunden? Geradeaus führte eine breite Treppe ins Obergeschoss, zur Linken befand sich eine verschlossene Tür und zur Rechten stand ein Zimmer offen, allerdings unbeleuchtet. Der große Mann entschied sich, nach oben zu gehen.


Er stand in der Dunkelheit und atmete schwer. Vorsichtig tastete er nach dem Telefonapparat. Er war ins Arbeitszimmer im Erdgeschoss geflüchtet. Nur wenig Licht fiel durch den kleinen offenen Spalt der Tür in den Raum, aber es reichte, um den Hörer zu finden. Mit verschwitzten Fingern drückte er die Tasten, von denen er hoffte, dass es die richtigen waren. Dann hörte er das Freizeichen.

»Polizeinotruf.«

»Hallo ... ich werde gerade überfallen!«

»Einen Einbruch meinen Sie?«

»Genau! Hier in meinem Haus ...«

»Ich notiere.«

»Jetzt hören Sie doch!«

»Idiot! Er ist hier unten und telefoniert.«

Die Stimme aus der Eingangshalle ließ sein Blut gefrieren. Als Nächstes hörte er Schritte auf der Treppe.

»Ich … In meinem Haus ...« Er fuhr zusammen, als er den großen Mann in das Zimmer stürmen sah. »Kommen Sie schnell!«

»Aber sagen Sie mir erst einmal, wohin wir kommen sollen. Hallo! Hallo?«

Eine Schlinge legte sich um seinen Hals. Er wollte noch etwas sagen, doch die Worte erstarben in seinem Hals. Ihm wurde schwarz vor Augen. Mit Gewalt wurde er von dem Schreibtisch weggezogen, auf den das Telefon gefallen war.

»Hallo? Hallo?«

Die Stimme aus dem Hörer war kaum noch zu hören. Der kleine Mann betrat den Raum, schaltete das Licht ein, lief zu dem Tisch und legte den Hörer auf.

»Du kannst ihn jetzt wieder atmen lassen.«

Der Größere lockerte seinen Griff. Der Oberbürgermeister fiel auf die Knie und schnappte nach Luft. Ein stechender Schmerz beeinträchtigte seine Wahrnehmung. Während er langsam wieder zu sich kam, spürte er, wie ihm die Hände hinter dem Rücken gefesselt wurden.

»Was wollen Sie von mir?« Die Angst ließ seine Stimme zittern.

»Was meinen Sie? Glauben Sie etwa, wir wollten Ihnen etwas antun?«

»Die Polizei ... sie wird sofort hier sein, und dann ...«

»Das glaube ich nicht.« Der Mann tippte auf den eingehängten Telefonhörer. »Die Alarmanlage wurde ebenfalls nicht ausgelöst, da Sie uns ja persönlich die Tür geöffnet haben. Erinnern Sie sich?«

Der Große zog einen weiteren Umhang aus seiner Sporttasche. Er warf ihn dem Bürgermeister über und schloss eine Schnalle am Kragen. Als Nächstes holte er eine Faschingsmaske hervor. Er setzte an, sie dem Gefangenen umzubinden.

»Moment!«, unterbrach der Kleine. »Er muss doch noch zum Schlafen gebracht werden.«

Der Große legte die Maske zur Seite, packte den Oberbürgermeister mit seinen Pranken an beiden Armen und hielt ihn fest. Der Kleinere fischte ein kleines braunes Medikamentenfläschchen und ein seidenes Taschentuch aus seiner Hosentasche, lief auf den Gefesselten zu und tröpfelte etwas von der Flüssigkeit auf das Tuch. Er drückte es seinem Opfer ins Gesicht. Der Oberbürgermeister bäumte sich ein letztes Mal auf und zappelte, bis sein Kopf schlaff herunterhing. Sein Körper sackte in sich zusammen, doch der große Mann hielt ihn fest. Der Kleine steckte die Utensilien weg, nahm die Maske und band sie dem Schlafenden um.

Nun hakten die beiden Männer den Entführten jeweils unter einem Arm unter und trugen ihn wie einen Betrunkenen fort. Sie löschten das Licht, traten durch die Haustür und verschlossen diese ordentlich. Auf dem Sims des Vordachs saß eine Krähe, bewegungslos wie eine Statue, und beobachtete die drei Männer, als sie im Nebel verschwanden.

2


Montag, 16.21 Uhr

Kimski sitzt auf einer Kloschüssel und schwitzt. Er reißt einen Fetzen Klopapier von der Rolle und tupft sich die Stirn ab. Dann greift er in die Innentasche seines Leinenjacketts und zieht einen Kugelschreiber hervor. Noch einmal trennt er einen Streifen Klopapier ab und presst ihn an die kahle Wand.

ICH KÜNDIGE!, kritzelt er in großen Lettern auf das Papier. Er erhebt sich und zieht die Hose hoch. Mit beiden Händen hält er den beschmierten Fetzen vor sein Gesicht und sieht ihn an.

»Nein, so geht das nicht«, sagt er leise, zerknüllt den Zettel und wirft ihn in die Toilette. Er spült und verlässt die Kabine. Kaum hat er die Tür hinter sich geschlossen, dreht er sich um und tritt dagegen.

»Mist!«

Die Tür donnert gegen die Verankerung der Innenwand und federt zurück. Kimski macht einen Schritt vor und trennt noch mehr Klopapier ab. Diesmal fünf Blatt an einem Stück. Er stopft den Streifen in die Außentasche seines Jacketts. Er läuft zu einem der Waschbecken und öffnet den Hahn. Das kühle Nass läuft über seine verschwitzten Hände. Als er in den Spiegel sieht, erblickt er dort, wo sich normalerweise sein Kopf befindet, eine Tomate. Keine vollreife Tomate, zugegeben, die Rotfärbung seines Gesichts deutet noch nicht darauf hin, dass er reif zur Ernte ist – aber immerhin, knallorange. Er hält beide Hände aneinander und bildet so eine Kuhle, in der sich das Wasser sammelt. Er hebt die Arme und klatscht die Flüssigkeit in sein Gesicht. Wenn das Wasser beim Auftreffen auf die Haut laut zischend verdampfen würde – es würde ihn nicht wundern. Doch es passiert nichts.

Mein Leben ist ein Trauerspiel kurz vor dem letzten Akt, denkt er – eine Sackgasse, in die er seit Jahren gefahren ist, ohne die Wand zu bemerken, auf die er unausweichlich zusteuert; und dieser furchtbare Sommer hilft beim besten Willen nicht, seine Laune zu verbessern. Temperaturen über 35 Grad sind in dieser Stadt nichts Seltenes. Aber dieser sonderbare Wetterumschwung am Wochenende. Erst der Kaltlufteinbruch und danach diese widerliche Nebelbrühe. Seit heute Morgen kam der Sommer wieder mit voller Macht zurück. Sein Kreislauf fühlt sich bereits den ganzen Tag an wie zertretener Wackelpudding. Was wohl aus ihm geworden wäre, wenn er einen Konservativen als Vater gehabt hätte und keinen Revolutionär? Einen kraftvollen Kapitalisten anstatt eines soften Achtundsechzigers? Wäre er dann, um gegen ihn zu rebellieren, nicht Polizist geworden, sondern Langzeitstudent? Er schüttelt den Kopf und holt das Klopapier hervor.

Was wird er machen, wenn er seinen Beamtenposten aufgibt? Was soll er arbeiten? Wie soll er an Geld kommen? Sein Vater erlitt vor zwei Jahren einen Schlaganfall, ist halbseitig gelähmt und lebt seither in einem Pflegeheim. Seit die Kapitalreserven seines Vaters aufgebraucht sind, hat das Sozialamt Kimski als nächstem Verwandten zu monatlichen Zahlungen von mehr als 1.000 Euro herangezogen, damit die Pflegekosten gedeckt werden können.

Sehr geehrter Herr Pflüger, schreibt Kimski und fragt sich drei Sekunden später, ob es nicht hätte lauten müssen Sehr geehrter Kriminalrat Pflüger. Wie zum Kuckuck formuliert man eine vorschriftsmäßige Kündigung? Er hat 37 Jahre Lebenserfahrung, aber was formelle Schreiben betrifft, hat er immer noch den Wissensstand eines Schülers kurz vor dem ersten Besuch beim Berufsberater.

... hiermit kündige ich mein Arbeitsverhältnis ...

Arbeitsverhältnis? Er kratzt sich am Kopf. Als Beamter muss er vermutlich eine andere Formulierung benutzen. Egal.

... hiermit kündige ich mein Arbeitsverhältnis zum nächstmöglichen Termin. Mit freundlichen Grüßen, L. Kimski

Eigentlich nicht übel, denkt er und schiebt den Zettel zurück in die Tasche. Er sieht auf seine Armbanduhr. In wenigen Minuten hat er Feierabend. Also kann er sich wieder ins Büro trauen. Er legt die rechte Hand auf seine Brusttasche. Das beruhigt ihn. Auch wenn er die Kündigung, die sich in der Tasche befindet, doch nie abschicken wird.

Er ist, nur um seinen Erzeuger zu ärgern, zur Polizei gegangen – und jetzt hindert die Krankheit des Familienoberhauptes ihn daran, wieder aus dem Klub auszutreten. Noch einmal sieht er auf die Uhr. Er macht drei Schritte zur Tür und greift nach der Klinke. Er hält inne, dreht sich ein letztes Mal um und packt mit seinen kräftigen Händen den Seifenspender. Die Konstruktion gibt innerhalb des Bruchteils einer Sekunde nach, als er daran zerrt. Die Schrauben bröseln aus der Wand. Ein Knirschen. Dann ein Knall. Das Plastikgehäuse zersplittert, als Kimski den Kasten auf den Boden schleudert. Die Flüssigseife verteilt sich als grüne Brühe auf den Fliesen. Er wendet sich ab und sieht nicht mehr zurück.

Als er sein Büro betritt, sieht er die Journalistin schweigend an und setzt sich auf seinen Stuhl. Zwei der vier Schreibtische im Raum sind nicht besetzt, nur Meier sitzt auf der anderen Seite am Fenster und tippt an seinem Computer. Kimski gießt sich ein Glas stilles Wasser ein. Die Flüssigkeit befeuchtet seinen trockenen Hals und seine Stimmbänder.

»Ich fürchte, das war es für heute. Wir machen in ein paar Minuten Feierabend. Tut mir leid, dass ich Ihnen nichts Aufregenderes bieten konnte.«

Die Reporterin sitzt auf einem Holzstuhl vor seinem Schreibtisch, der wahrscheinlich genauso alt ist wie sie selbst. Kimski schätzt sie auf Anfang dreißig. Sie sieht ihn aus großen braunen Augen an und lächelt. Er beobachtet sie. Schließlich ertappt er sich dabei, wie er ihren Körper mustert. Sofort ermahnt er sich wegzusehen. Was kann er dafür, dass die Mädchen im Sommer immer in kurzen, luftigen Kleidchen umherspazieren.

Noch einmal greift er zu seinem Taschentuch und tupft sich die Stirn ab. Niedlich ist sie, das muss er zugeben. Schulterlange braune Haare und eine feine aristokratische Nase. Außerdem strahlt sie eine unangestrengte Fröhlichkeit und Selbstsicherheit aus. Das komplette Gegenteil zu einem raubeinigen, einzelgängerischen, in Selbstmitleid badenden Draufgänger wie ihm.

»Das macht nichts, Herr Kommissar.«

»Wie bitte?«

Er ist in Gedanken versunken und hat vergessen, was er zu ihr gesagt hatte.

»Dass Sie mir keine aufregenderen Geschichten bieten konnten. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich einen Artikel über den echten Alltag der Mordkommission schreiben soll.«

»Tippen und telefonieren, das ist unser Alltag, Sie haben es ja gesehen.«

 

Zumindest ist das mein Alltag, denkt er. Für die Kollegen bin ich gerade gut genug, um den Märchenonkel für Presseleute zu spielen.

»Doch nicht so spannend, wie es beim Tatort aussieht. Aber, worüber wir noch nicht gesprochen haben – man hat mir gesagt, Sie wären, bevor Sie in Mannheim in diesem Dezernat angefangen haben, ähm ...« Sie blickt auf ihren Notizblock. »Dezernat 11 – Tötungsfälle, Vermisstenfälle und Brand- und Sprengstoffdelikte, nicht wahr?«

Er nickt.

»Also bevor Sie hier als Kommissar angefangen haben, sollen Sie Gruppenleiter beim SEK gewesen sein?«

Er bringt ein knappes Ja hervor und tastet auf seinem Schreibtisch nach irgendetwas, an dem er sich festhalten kann.

»Also kann man von einer Spezialeinheit einfach so in ein Kommissariat wechseln?«

Wenn man Mist gebaut hat, dann schon, denkt Kimski.

»Doch, das geht. Die meisten Kollegen sind ab vierzig, fünfundvierzig Jahren nicht mehr in der Lage, die hohen Anforderungen im Training zu erfüllen, und gehen wieder dorthin zurück, wo sie hergekommen sind.«

Oder bleiben beim SEK und übernehmen die Führungsposten, denkt er. Wäre sicher besser für ihn gewesen. Die neuen Kollegen im Kommissariat haben ihn nicht gerade herzlich empfangen. Nur weil er einen schwarzen Gürtel hat, sich von Helikoptern abseilen kann und ein Ziel auf ein paar hundert Meter Entfernung treffen kann, braucht niemand vor ihm Angst zu haben. Der Einzige, mit dem er sich versteht, ist Meier.

»Außerdem habe ich neue Herausforderungen gesucht.«

»Dabei sehen Sie noch ziemlich fit aus. Wie alt sind Sie?«

»Siebenunddreißig.«

»Dann hätten Sie noch ein paar Jahre weitermachen können?«

Er antwortet nicht.

»Ihr Kollege, der mich an Sie vermittelt hat, meinte zu mir, Sie seien vorher schon Kommissar gewesen, also bevor Sie zum Spezialeinsatzkommando gegangen sind.«

»Ja.«

»In Mannheim? Und danach ...« Sie blättert zurück zur ersten Seite ihres Notizblocks und liest die Aufzeichnungen. »Danach sind Sie zum SEK in Göppingen gegangen?«

»Richtig.«

Er greift nach seiner leeren Kaffeetasse und hält sie fest gedrückt.

»Haben Sie denn nie das Gefühl gehabt, Sie würden sich im Kreis drehen?«

Kimski verstärkt den Druck auf die Tasse. Seine Knöchel verfärben sich rot.

»Ich war 26 Jahre alt, als ich mich für die SEK-Stelle beworben habe, ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits ein paar Jahre als Kriminalkommissar im Büro gesessen und mir wurde klar, dass das eigentlich nicht das war, was ich wollte. Ich war noch jung, ich war körperlich in bester Verfassung, und die SEK-Leitung suchte händeringend nach Bewerbern aus dem gehobenen Polizeidienst.«

»Und jetzt sind Sie wieder hier?«

Schweigen.

Nach einem kurzen Moment sieht er auf. »Jetzt bin ich hier und halte den Laden auf Trab.«

Er sieht zur Uhr an der Wand. »Und nun mache ich Feierabend. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr bieten konnte.«

Er erhebt sich und deutet vorsichtig zur Tür. Die Reporterin richtet sich ebenfalls auf und steht in der vollen Pracht ihres luftigen Sommerkleids vor ihm. Er streckt ihr die rechte Hand hin.

»Vielleicht können wir noch einen zweiten Interviewtermin vereinbaren? Ginge das?«

In diesem Moment springt die Tür des Büros auf.

»Hey Meier, wir haben gerade einen Anruf von einem Notarzt reinbekommen. Eine Leiche mit unklarer Todesursache.« Kriminalrat Pflüger ist in den Raum getreten und wirft Kommissar Meier einen Zettel auf den Tisch. »Du müsstest dir das mal ansehen. Hier sind die Adresse und der Name.«

»Soll ich Kimski mitnehmen?«

Pflüger entgegnet nichts.

»Alleine kann ich nicht gehen, wegen der Dienstvorschriften«, ergänzt Meier. »Und die anderen sind alle im Einsatz.«

»Klar«, sagt Pflüger schließlich. »Ihr beiden kriegt das schon hin. Ist bestimmt nur eine tote Oma.« Er dreht sich um und verschwindet so schnell, wie er aufgetaucht ist.

»Immer wenn wir gerade Feierabend haben«, sagt Meier. Er läuft zu Kimski, schlägt ihm auf die Schulter und lächelt ihn an.

»Tja«, sagt Kimski und zuckt mit den Schultern.

»Komm schon, SEK-Mann«, ruft Meier, der bereits in der Tür steht. »Bringen wir es möglichst schnell hinter uns.«

»Darf ich mitkommen?«, fragt die Reporterin. »Dann kann ich Sie vielleicht doch noch in Aktion erleben.«

»Klar«, antwortet Meier, schneller, als Kimski nein sagen kann, und poltert hinaus, »warum nicht?«


Der Wagen ruckelt durch die Breite Straße. Kimski zündet sich eine Zigarette an. Auf der Rückbank sitzt die Reporterin.

»Haben Sie dahinten genug Platz, Frau Del Monte?«, fragt Meier, der am Steuer sitzt.

»Alles bestens, und nennen Sie mich einfach Eva.«

»Geht klar, Eva. Hab schon mitgekriegt, dass Sie ziemlich neugierig sind. Also, wenn Sie noch Fragen haben, nur zu.«

»Ist das Ihr Dienstfahrzeug?«

»Leider ja. Wir von der Mordkommission müssen immer in Zivilfahrzeugen rumgurken. Sind halt nicht die neusten Wagen, wie Sie sehen.«

»Und der Einsatzort, an den wir gerade fahren? Wissen Sie schon, worum es geht?«

»Nein, nicht genau. Wahrscheinlich ist auch gar kein Mord oder so was passiert. Aber das gehört halt auch zu unseren Aufgaben. Wenn irgendwo ein Toter in seiner Wohnung gefunden wird, weil die Nachbarn sich über den Geruch beschweren oder weil die Maden unter der Tür durchgekommen sind oder was weiß ich – na, jedenfalls, immer dann, wenn der Notarzt sich nicht ganz sicher ist, woran einer gestorben ist, dann müssen wir dahin und uns die Sache angucken. Meistens stellt sich heraus, dass doch alles normal war mit dem Tod und so weiter. Das ist ehrlich gesagt der Hauptteil unserer sogenannten Tatortarbeit.«

Eva schreibt mit.

»Mist! Hier kann ich ja gar nicht links abbiegen!«

»Wohin wollen wir denn eigentlich?«, fragt Eva.

»D 2, Haus Nummer 12.«

»Kein Problem, fahren Sie einfach die nächste Möglichkeit rechts und dann wieder rechts, hinter dem Stadthaus vorbei und dann immer geradeaus.«

Zwei Minuten später parkt der Wagen vor dem Quadrat D2. Kimski drückt seinen Zigarettenstummel in den Aschenbecher.

»Sie finden sich gut zurecht in den Quadraten, was?«

»Ach, eigentlich ist die Nummerierung in der Mannheimer Innenstadt gar nicht so kompliziert, wie man immer sagt. Sie zählen einfach vom Schloss aus, zuerst auf der linken Seite, die Buchstaben A bis K ab und dann auf der rechten Seite L bis U. Dazu von der Breiten Straße ausgehend jeweils die Ziffern eins bis maximal sieben und dann haben Sie es.«

»Was Sie alles wissen«, stellt Meier bewundernd fest.

»Ich habe Geschichte studiert. In Mannheim.«

»Spannend«, sagt Meier. »Dann können Sie vielleicht auch erklären, wozu das eigentlich gut sein soll mit den Quadraten. Hab ich nie verstanden.«

»Na ja, Mannheim wurde ja erst 1607 als Stadt gegründet und komplett auf dem Reißbrett entworfen. Damals waren die Städteplaner den Idealen der Renaissance verpflichtet, suchten also nach einem möglichst schlichten Stil und zogen die Straßenlinien auf dem Stadtplan wie in einem Schachbrett. Später sagte man sich, wenn die Stadt schon aussieht wie ein Schachspiel, warum nicht gleich die Straßennamen gegen Ziffern und Nummern für die einzelnen Häuserblocks austauschen. Und so kommen wir zu unserer Straßennummerierung, die einmalig ist auf der Welt.«

»Einmalig ja. Aber es versteht halt keiner.« Meier lacht.

Kimski sieht in den Rückspiegel und starrt Eva an. Sie erwidert seinen Blick. Dann steigen sie aus. Kimski stellt sich vor Eva.

»Ich darf Sie darauf hinweisen, dass Sie sich erst einmal im Hintergrund halten müssen, bis wir die Lage in der Wohnung überprüft haben. Am besten warten Sie im Flur, bis ich Sie hereinbitte.«

»Kein Problem.«

»Falls ich Sie hereinbitte«, ergänzt Kimski und vergräbt die Hände in den Hosentaschen seines weißen Leinenanzugs. Er kommt nicht darum herum, bei diesem Wetter lange Hosen und ein Jackett zu tragen – kurze Hosen sind für Beamte nicht gestattet, und das Jackett ist nötig, um die Dienstwaffe darunter zu verbergen. Ein paar Mal haben die Kollegen im Revier ihn wegen seines Anzugs bereits aufgezogen.

Na, machst du wieder einen auf Miami Vice, Kimski, hat Kommissar Vollmer ihn heute Morgen gefragt. Nur, ob du in dem Fummel so smart aussiehst wie Don Johnson, ist die Frage.

Als sie an der Haustür ankommen, hält Kimski inne und sieht sich um. »Sag mal, Meier, hast du eigentlich irgendwo einen Notarztwagen gesehen?«

»Nee. Aber die kommen doch auch oft mit dem Taxi.«

»Wo ist dann das Taxi? Normalerweise müssen die Taxifahrer auf den Notarzt warten, wenn sie ihn fahren.«

Sie steigen hinauf in den ersten Stock. Als sie zur Wohnung kommen, sehen sie, dass die Tür hier ebenfalls nur angelehnt ist.

»Sind wir hier richtig?«

Meier zieht den Zettel aus der Tasche, den er von Pflüger erhalten hat, und nickt.

»Sie warten hier«, betont Kimski noch einmal, als er die Tür aufschiebt und weiterläuft. Meier folgt ihm, Eva bleibt stehen.

Der Mief, der Kimski entgegenstößt, ist schwer und modrig. Die Luft ist abgestanden und riecht nach fauligem Holz. Nur wenig Licht fällt in das Ein-Zimmer-Apartment, dunkle Gardinen an den Fenstern lassen kaum Tageslicht in den kleinen Raum. Als Kimski den ersten Schritt machen will, bleibt er mit seinen Füßen an etwas hängen.

»Was ist das denn?«

Sie schließen die Tür hinter sich. Kimski drückt den Lichtschalter. Ohne Erfolg. Seine Augen gewöhnen sich nur langsam an das Halbdunkel. Doch auch als er klarer sehen kann, ist weder ein Notarzt noch eine Leiche zu sehen. Stattdessen ist der gesamte Fußboden mit unzähligen Büchern übersät. Kimski bückt sich und hebt eines auf. Es sieht aus wie ein antiquarisches Buch, mit ledernem Einband und braunem Buchrücken. Den Titel in Frakturschrift kann er nicht genau erkennen. Er legt das Buch wieder auf den Boden und sieht auf. Die Wände sind kahl. Die vergilbte Tapete hängt in Fetzen herab. Von der Decke baumelt nur ein loses Elektrokabel herunter. An einer der Wände steht ein großer Eichenholzschrank.

»Irgendwas stimmt hier nicht.«

Er greift zu seinem Taschentuch und tupft seine Stirn ab. Wieder diese unerträgliche Hitze.

»Ich sehe im Bad und in der Küche nach«, sagt Meier und verschwindet im Nebenzimmer.

Ein unbehagliches Gefühl beschleicht Kimski. Er zieht seine Pistole und hält sie mit beiden Händen umschlossen. Er sieht sich um. Außer dem Schrank gibt es keine Möbel in der Wohnung. Nur einen kleinen hölzernen Beistelltisch in einer Ecke am Fenster. Darauf steht ein Schachbrett, und da ist auch noch etwas anderes. Kimski setzt sich in Bewegung, um sich den Tisch näher anzusehen, aber er hat Schwierigkeiten, sich seinen Weg durch die Bücher zu bahnen, die an manchen Stellen bis auf Kniehöhe aufgetürmt sind.

»Die Küche ist sauber, da ist nichts, nicht mal Geschirr oder ein Stuhl oder so was. Nur ein alter rostiger Gasherd, aber der sieht so aus, als wäre er schon lange nicht mehr benutzt worden«, bemerkt Meier, der aus dem Nebenraum zurückkommt. »Dann sehe ich mal nach, was im Badezimmer ist.«

Er öffnet die Tür und verschwindet aus Kimskis Blickfeld.

»Hier ist auch niemand«, ruft er aus dem Bad. »Gar nichts. Nur ein einsames Buch auf dem Klodeckel.«

Kimski ist bei dem Tisch angekommen. Er sieht auf die Tischplatte. Die Figuren auf dem Schachbrett sind so aufgestellt, als wäre jemand mitten in einem Spiel gewesen und hätte es dann unterbrochen und stehen lassen. Links neben dem Brett liegt ein gelblicher Zettel. Bei näherer Betrachtung kann Kimski darauf einen historischen Plan Mannheims erkennen, mit der zackigen Stadtmauer, so wie er ihn aus dem Geschichtsunterricht in der Grundschule kennt.