Kommunikations- und Mediengeschichte

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3.ZUNEHMENDE KOMMUNIKATION ÜBER DISTANZ

Wie in Kapitel 1 kurz skizziert, erfolgte die Lösung des oben angesprochenen Problems, dass Versammlungskommunikation in anwachsenden und differenzierten Gesellschaften an Grenzen stieß, in mehreren Schritten, an deren vorläufigem Ende die sog. ›Massenmedien‹ und der Journalismus stehen. Das folgende Kapitel (3.1) beleuchtet wichtige Voraussetzungen und die ersten Entwicklungsschritte zur Kommunikation über Distanz als zentraler Form gesellschaftlicher Kommunikation. Nachfolgend wird in Kapitel 3.2 das Aufkommen von periodischen, allgemein zugänglichen Zeitungen thematisiert.

3.1Voraussetzungen und wachsende Bedeutung für Kommunikation über Distanz

Größere und stärker ausdifferenzierte Gesellschaften bildeten sich erstmals mit den städtischen Hochkulturen ab dem 6. Jahrtausend v. Chr. Nach Harald Haarmann (2011) entstand eine erste solche Hochkultur um 5500 v. Chr. im Donautal, nach einer Fluchtbewegung infolge einer Flutkatastrophe am Schwarzen Meer.25 Solche Großsiedlungen weisen nach Haarmann (2017: 17-19) folgende typische Merkmale auf:

1.städtische Ausmaße,

2.Ackerbau und Vorratswirtschaft,

3.Netzwerk spezialisierter Handwerksberufe,

4.Metallverarbeitung,

5.differenziertes Repertoire an Kultursymbolen,

6.Schrift.

Die in diesen Gesellschaften entwickelte Schrift war eine wichtige Voraussetzung für die zunehmende Bedeutung von Kommunikation über Distanz und die folgenden Entwicklungen. Denn mit ihrer Hilfe konnte erstmals gesprochene Sprache detailgetreu fixiert und übermittelt werden (vgl. FISCHER 2004: 11; SCHMANDT-BESSERAT 1996: 1), was mit den bis dahin genutzten Medien wie z. B. Trommeln oder auch Boten, die mündlich Mitteilungen überbrachten, nur eingeschränkt möglich war. Allerdings wurde in der Donauzivilisation die Schrift vermutlich nur in religiösen Zusammenhängen verwendet, ähnlich wie später, seit ca. 1500 oder 1200 v. Chr., in Altchina (vgl. HAARMANN 2017: 21-23). In der fruchtbaren Euphratebene (Mesopotamien oder Sumer) sowie in Ägypten folgten ab dem 5. bzw. 4. Jahrtausend v. Chr. weitere städtische Hochkulturen. Dort hatte die Schrift nicht nur religiöse Funktionen, sondern diente insbesondere dem Handel und der Buchhaltung (siehe Abb. 2):26 »Der frühe Schriftgebrauch Sumers war das Monopol der Tempeladministration, die unmittelbaren Nutzen aus der neuen Technologie zog, indem das Steuerwesen mittels der Schrift zu einem effektiven Instrument staatlicher Kontrolle über die Untertanen ausgestaltet wurde« (ebd.: 30; vgl. auch POE 2011: 71-77).27 Die Schrift blieb somit zunächst Eliten vorbehalten, und sie stellte einen erheblichen Machtfaktor dar. Zugleich trug sie dazu bei, dass Gesellschaften weiter wachsen und sich stärker ausdifferenzieren konnten (vgl. GOODY 1997: 26; mit Beispielen aus dem Römischen Reich und Ägypten vgl. auch WARD-PERKINS 2007: 165-171). Insbesondere diente der Schriftgebrauch der Speicherung von Informationen, also der Überwindung zeitlicher Distanzen. Zwar wurde die Schrift teilweise auch schon zur Fernkommunikation, also zur Überwindung räumlicher Distanzen eingesetzt (z. B. zwischen Machtzentrum und dezentralen Verwaltungseinheiten; vgl. GOODY 1997: 26), jedoch nur in sehr kleinen gesellschaftlichen Bereichen und keinesfalls für die gesellschaftliche Kommunikation im Allgemeinen. Dies hing auch mit den nicht vorhandenen Schreib- und Lesefähigkeiten der breiteren Bevölkerung zusammen: Im Alten Ägyptischen Reich (ab dem 3. Jahrtausend v. Chr.) z. B. konnte vermutlich nur »maximal 1 % der Bevölkerung lesen und schreiben« (HIEBEL et al. 1999: 44). Mit Blick auf den erwähnten Machtfaktor der Schrift lag dies durchaus in der Absicht der Obrigkeiten.

ABBILDUNG 2

Tontäfelchen mit sumerischer Schrift (um 3200-3000 v. Chr.)

Für einen breiteren Einsatz von Schrift mussten, neben der Schreib- und Lesefähigkeit weiterer Schichten, geeignete und effiziente Beschreibstoffe vorhanden sein, was im Alten Ägypten mit dem Papyrus zumindest teilweise der Fall war (vgl. FISCHER 2004: 46f.). Insbesondere kann als solches aber das Papier gelten, zumal dieses auch »weitaus billiger« (MITTERAUER 2004: 257) war als das aus Tierhäuten hergestellte Pergament. Papier wurde seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. in China hergestellt (vgl. HIEBEL et al. 1999: 55; FISCHER 2004: 104) und im 8. Jahrhundert n. Chr. von den Arabern in Ägypten eingeführt, wo es den Papyrus verdrängte. Den Europäern gelang es erst im 12. Jahrhundert, »sich das bis dahin sorgsam gehütete Geheimwissen der Araber anzueignen« und im 13. Jahrhundert eine eigene Papierindustrie aufzubauen, zunächst in Italien (HAARMANN 2017: 67). Die erste Papiermühle im deutschsprachigen Raum wurde 1390 in Nürnberg in Betrieb genommen (vgl. WILKE 2008: 46; MITTERAUER 2004: 257), in der Schweiz entstand die erste 1411 in Marly bei Freiburg/Fribourg (vgl. VUARNOZ 1963: 78). Mit der Verbreitung von Papiermühlen stieg die Produktion deutlich, womit eine wichtige »Grundlage für vermehrte Schriftlichkeit – vor allem in der Verwaltung sowie im Rechtsleben und im Handelsverkehr« – geschaffen war (MITTERAUER 2004: 258).28

Um schriftliche Nachrichten regelmäßig austauschen zu können, war daneben die Etablierung von Botensystemen notwendig. Vermutlich gab es bereits um 2000 v. Chr. »ein postähnliches System in Ägypten« (HIEBEL et al. 1999: 46). Gesichert ist dies erst für das antike Persien, das ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. über ein staatliches Postsystem verfügte. Ebenso gab es im Islamischen Reich des 9. Jahrhunderts eine nicht-öffentliche, staatliche Kalifen-Post (vgl. WEINTRITT 2008: 187f.). Was das Gebiet des heutigen Europas betrifft, sieht Riepl (2014: 93f., Hervorh. i. O.) den Übergang vom Prinzip der Versammlung zu jenem der Versendung mit dem Anwachsen des antiken Römischen Reichs gegeben, während in »den ältesten Zeiten Roms, als der Staat noch mit der Gemeinde zusammenfiel, im eigentlichen Stadtstaat, […] wie unter den Verhältnissen der griechischen Kleinstaaterei, […] die gesamte politische Bürgerschaft zur Versammlung zusammenzurufen« noch unproblematisch gewesen sei. Riepl nennt hier keinen genauen Zeitraum, aber spätestens ab dem 4. Jahrhundert v. Chr., mit der Expansion Roms, dürfte sich dies geändert haben: Im letzten vorchristlichen Jahrhundert führte der römische Kaiser Augustus den sog. ›Cursus publicus‹ ein, eine Stafettenpost mit Relaisstationen entlang des römischen Fernstraßennetzes, die im 4. Jahrhundert n. Chr. eine Gesamtlänge von 120.000 Kilometern aufwies (vgl. BONJOUR 1949: 10). Hiebel et al. (1999: 51) dagegen sehen bereits im Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. eine deutliche Zunahme von Kommunikation »über große räumliche und zeitliche Distanzen hinweg« und konstatieren zugleich gegen Ende des Jahrhunderts »eine allgemeine Schreib- und Lesekundigkeit der (männlichen) athenischen Vollbürger«.29

Wie man am römischen Cursus publicus sieht, waren eine Voraussetzung für solche Postsysteme ausgebaute Verkehrsnetze, die ihre Entstehung einerseits militärischen Zwecken, andererseits dem Handel verdankten (vgl. WAGNER 2014b: 231; WILKE 2008: 9). Sie waren also ursprünglich »zur Beförderung von Menschen und Waren« eingerichtet, erlaubten es aber auch, den kommunikativen Austausch »vom Versammlungsplatz buchstäblich auf die Straße« zu verlegen (WAGNER 2014b: 231; Hervorh. i. O.) – mit weitreichenden Folgen für die gesellschaftliche Kommunikation. Anfangs wurden Boten typischerweise nach Bedarf losgeschickt, sei es mit mündlichem Bericht oder mit Briefen bzw. Schriftstücken (vgl. RIEPL 2014: 135ff.; KNIES 1857/1996: 8f., 13; BENZINGER 1970: 299). Teilweise wurden zusätzlich auch Schreiber beschäftigt. Diese Boten und Schreiber standen zunächst im Dienste der jeweiligen ›Absender‹, daher spricht Wagner von »partnereigener« bzw. »Ausgangsvermittlung« (WAGNER 1995: 22; vgl. auch ders. 2014b: 221). Ein solches System der Kommunikation mittels je eigener Boten aller an der Kommunikation Beteiligter ist aufwendig sowie, wie schon Karl Knies (1857/1996: 8) bemerkte, »zeitraubend […] und auch im Widerspruch mit den handgreiflichen Vortheilen der Arbeitstheilung«.30 Im Zuge der weiteren Entwicklung etablierten sich Boten und Schreiber in Form eines professionellen Vermittlungsgewerbes, dessen Dienste von unterschiedlichen Auftraggebern in Anspruch genommen werden konnten. Hier wird ein Schritt der Rationalisierung der Nachrichtenübermittlung sichtbar: von der »Ausgangs-« zur »Auftragsvermittlung« (WAGNER 1995: 24; vgl. auch WAGNER 2014b: 222ff.; SCHÖNHAGEN 2004: 148ff.). Die Vermittlung erfolgte damit nicht nur effizienter, sondern es wurde auch denjenigen, die sich kein eigenes Vermittlungspersonal leisten konnten, zumindest prinzipiell eine Teilnahme am Nachrichtenaustausch ermöglicht (vgl. WAGNER 1995: 23).

Nach dem endgültigen Zusammenbruch des Weströmischen Reichs Ende des 5. Jahrhunderts n. Chr., im Kontext der Völkerwanderungen, und damit auch dem Ende seines Nachrichtenwesens (vgl. PESCHKE 2012: 50-71, 128-133),31 dauerte es bis zum Mittelalter, bis wieder ähnliche Botensysteme zustande kamen. Es waren zunächst vor allem Herzöge, Fürsten, Bischöfe, die Kirche, Klöster, Orden, Universitäten und Wissenschaftler (sowie später die Reformatoren), die auf der Basis verbesserter Verkehrswege wieder einen zunehmend regelmäßigen und systematischen Nachrichtenaustausch in Form von Briefwechseln (vgl. BENZINGER 1970: 299ff.; mit vielen Beispielen: WERNER 1975; FAULSTICH 1996: 252ff.) etablierten.32 Sie bauten dazu private Postsysteme mit eigenen Boten auf. Obrigkeitliche Briefzeitungskreise sind in der Schweiz am Anfang des 16. Jahrhunderts aus Basel, Bern, Luzern, Schaffhausen und Zürich bekannt, »mit regelrechten handgeschriebenen Kanzleizeitungen, die den befreundeten Obrigkeiten die in Erfahrung gebrachten neuesten Nachrichten auf schnellstem Weg zuführten« (WEISZ 1954: 27).

 

Da die Fürsten den Aufbau einer eigenen Papierindustrie in Europa förderten, stand außerdem seit dem 13. und verstärkt im 14. und 15. Jahrhundert ein effektiver und relativ preiswerter Beschreibstoff in größeren Mengen für Briefwechsel zur Verfügung (vgl. WERNER 1975: 10). In der Folge, seit dem 14. Jahrhundert, wurde es zunehmend üblich, in privaten Briefen einzelne Nachrichten von allgemeinem Interesse zu übermitteln: Seit dem 15. Jahrhundert dienten dazu immer häufiger gesonderte Blätter, sog. Cedulae (Singular: ›Cedula‹; STEINHAUSEN 1895/2017: 175), die unabhängig vom persönlichen Teil des Briefes an andere Personen weitergegeben werden konnten. Diese Cedulae hatten also bereits einen gewissen öffentlichen Charakter, auch wenn sie nur innerhalb begrenzter Bevölkerungskreise kursierten.

Die meisten Menschen erfuhren im Mittelalter allerdings Neuigkeiten nur unregelmäßig und eher zufällig, vor allem durch Reisende, Pilger und Händler, die manchmal auch Botengänge übernahmen (vgl. WAGNER 2014b: 219). Daneben erfüllten vor allem fahrende Sänger und Spielleute eine wichtige Rolle in der »allgemeinen Nachrichtenbefriedigung« (BAUMERT 1928/2013: 46; Hervorh. i. O.), indem sie das öffentliche Vortragen von Nachrichten zu ihrem Beruf gemacht hatten (vgl. GESTRICH 1994: 141ff.; siehe auch Abb. 3). Im Gegensatz zu Herolden oder Sängern, die in herrschaftlichen Diensten standen (z. B. an Fürstenhöfen), verbreiteten die fahrenden Sänger Nachrichten nicht im Auftrag (und im Sinne) Herrschender, sondern von diesen unabhängig. Man kann sie aufgrund dieser Autonomie der Nachrichtenvermittlung, wie im Weiteren noch klarer werden wird, durchaus als »Zeitungen des Mittelalters« (D’ESTER 1928: 13) oder gar als »wandernde Journalisten« (SCHERER 1949: 58) bezeichnen. Genauer sind sie jedoch deren Vorläufer, denn sie verbreiteten eher zufällig Informationen, die ihnen gerade zur Kenntnis kamen, und betrieben noch keine systematische Nachrichtensammlung.33 Ähnlich wie später Massenmedien befriedigten sie zusammen mit der Information auch Unterhaltungsbedürfnisse der Bevölkerung (vgl. auch SCHUBERT 1995).

ABBILDUNG 3

Volkssänger

Im Laufe des Spätmittelalters wurden dann Handelsmetropolen wichtige Zentren der Nachrichtenvermittlung; sie waren dort entstanden, wo es die Logistik erforderte und wo Knotenpunkte verschiedener Verkehrswege bestanden (vgl. PIEPER 1995; WAGNER 2014b: 231). Gilden, Zünfte und Kaufleute – die zunehmenden Einfluss erwarben und dazu beitrugen, die festgefügten gesellschaftlichen Strukturen des Mittelalters aufzubrechen (vgl. FAULSTICH 1996: 28) – »förderten die Entwicklung des ›Botengeschäfts‹« (ebd.: 264). In Nürnberg etwa, damals ein »Nachrichtenzentrum ersten Ranges«, war »die Kaufmannskorrespondenz im 14. Jahrhundert schon sehr rege« (SPORHAN-KREMPEL 1975: 1002; Hervorh. d. Verf.).34 Denn der Handel war auf Informationen dringend angewiesen, zumal angesichts zunehmender Kriege und Konflikte, die u. a. Handelsrouten behinderten (vgl. GESTRICH 1994: 168). Die entstehenden Nachrichtennetze – welche die »europäischen Souveräne«, aber auch »das akademisch gebildete Bürgertum«, die »Gelehrten« und die Kaufleute, zu einer »Kommunikationsgemeinschaft« verbanden (GESTRICH 1994: 236; vgl. auch ebd.: 168)35 – wirkten sich förderlich auf den Handel und damit wiederum auf die Optimierung und Erweiterung der Verkehrsnetze aus. In der Schweiz schlossen sich z. B. die St. Gallener Kaufleute zusammen und etablierten im 15. Jahrhundert einen regelmäßigen Austausch mit süddeutschen Städten, insbesondere mit Nürnberg, sog. »Nürnberger Ordinari« (BONJOUR 1949: 12). Im 16. Jahrhundert kam eine Verbindung via Zürich und Genf nach Lyon hinzu (Lyoner Ordinari) (vgl. ebd.; KLÖTI 2004: 164f.). Es sind aber auch Verbindungen der Basler Irmischen Handelsgesellschaft nach »Mailand, Frankreich, Oberdeutschland und den Niederlanden« (WERNER 1975: 13) überliefert. Laut Behringer (2003: 134) öffneten sich ab den 1570er-Jahren die städtischen Botendienste der Kaufleute auch für Privatbriefe, wurden also allgemein zugänglich. Typischerweise etablierten sich später in solchen städtischen Zentren, wie z. B. auch im Venedig oder Antwerpen des 16. Jahrhunderts, die ersten Zeitungs- oder Avisenschreiber bzw. Novellanten und Korrespondenten, die gegen Bezahlung für unterschiedliche Auftraggeber Nachrichten sammelten und ihnen meist regelmäßig per Brief zusandten (vgl. PIEPER 1995). Ein bekanntes Beispiel dieser systematisch erstellten Briefzeitungen sind die sog. ›Fuggerzeitungen‹, welche die Augsburger Kaufmannsfamilie Fugger im 16. und 17. Jahrhundert von mehreren Korrespondenten bezog (vgl. BAUER, O. 2011: 101-107, 112-119; D’ESTER 1940; WERNER 1975:36; WILKE 2008: 19). Für die Schweiz, speziell Zürich, gibt es Hinweise auf ähnliche Briefzeitungen von Händlern, jedoch ist ein regelmäßiger Austausch noch nicht belegt worden (vgl. WEISZ 1954: 8). Sicher scheint dagegen, dass Briefzeitungen aus Deutschland und Frankreich bezogen wurden (vgl. ebd.: 11).

In den Briefzeitungen trugen erstmals Vermittler Nachrichten aus unterschiedlichen Quellen und von unterschiedlichen Urhebern zusammen und wählten dabei jene Informationen aus, für die sie ein Interesse ihrer Auftraggeber annahmen. Dabei wurden auch Informationen zusammengefasst und ggf. ihre Herkunft oder Hintergründe erläutert. Folglich gab es also bereits eine gewisse Bearbeitung oder Redaktion von Nachrichten. Für die Auftraggeber wurden in diesen Briefzeitungen die Vorgänge sowie Äußerungen von zentralen Akteuren bzw. Diskussionen in den sie interessierenden Gesellschaftsbereichen in einem Medium überschaubar gemacht. Ein derartiger Überblick ermöglicht Orientierung über aktuelle Vorkommnisse innerhalb der Gesellschaft mit ihren Interessengruppen, womit er zugleich eine Voraussetzung darstellt, um am (kommunikativen) Geschehen sinnvoll teilnehmen zu können. In der Versammlungskommunikation ergab sich dieser Überblick durch den Austausch ›vor aller Augen‹ quasi von selbst, er ging aber mit den wachsenden räumlichen Distanzen zunächst verloren. Die Briefzeitungen leisteten nun wieder eine solche überblicksartige Orientierung, allerdings jeweils nur für einen stark begrenzten Personenkreis – denn sie waren keine allgemein zugänglichen bzw. öffentlichen Medien.

Eine wichtige Voraussetzung für diese gewerbsmäßige und geplante Nachrichtensammlung war ein ausgebautes, allgemein zugängliches Postsystem. Auf dessen Basis konnten die Novellanten sowohl regelmäßig Nachrichten aus vielen Orten beziehen als auch ihre Briefzeitungen an die Auftraggeber versenden. Ein solches öffentliches Postwesen36 entstand ab dem »ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts« (BEHRINGER 2003: 70) in der Mitte Europas, im sog. Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (vgl. Historischer Hintergrund II). In England z. B. war der Postdienst dagegen erst ab 1635 öffentlich zugänglich (vgl. POPPLOW 2008: 98f.). Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz durften ab dem 16. Jahrhundert die sog. ›Stadtläufer‹ bzw. ›Landläufer‹, die der Obrigkeit unterstanden, ihre Dienste auch Privatpersonen gegen Bezahlung anbieten (vgl. BUSER 1903: 5-17). Zum Staatsregal, d. h. zum Monopol »auf dem eigenen Hoheitsgebiet« (KRONIG/KLÖTI 1991: I), wurde das Postwesen in der Schweiz dagegen erstmals 1675 in der Republik Bern (etwa die heutigen Kantone Bern, Aargau, Waadt) auf Initiative Beat Fischers (1641-1698), der für 25 Jahre eine Monopollizenz erhielt (MÜLLER 1917: 46-66).37 Mit kurzen Unterbrechungen bestand dieses Familienmonopol über mehrere Generationen bis 1798; während des gesamten 18. Jahrhunderts »war […] [die Fischer’sche Post, d. Verf.] die wichtigste Postverwaltung des Landes« (BONJOUR 1949: 15).38 Damit fügt sich die Entwicklung des Postwesens in der Schweiz in die allgemeine Entwicklung ein. Denn Behringer (2010: 50) konstatiert für »das europäische Postsystem des 17. Jahrhunderts: Dies war das Netzwerk der Netzwerke, für jeden zugänglich und damit öffentlich«.

EXKURS II
Historischer Hintergrund II: Heiliges Römisches Reich (Deutscher Nation) (800/843-1806)

Das Heilige Römische Reich bestand aus verschiedenen politischen und kirchlichen Herrschaftseinheiten und existierte vom 9. Jahrhundert n. Chr. bis 1806. Die Bezeichnung ist seit der Mitte des 12. Jahrhunderts belegt, der Zusatz ›Deutscher Nation‹ seit dem 15. Jahrhundert. Als Gründungsdaten gelten in der Literatur die Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahr 800 sowie die Teilung des Karolinger-Reiches in einen westlichen und einen östlichen Teil 843 n. Chr. Die wichtigsten Institutionen neben dem Kaiser waren seit 1495 der in unterschiedlichen Städten stattfindende Reichstag (zuerst in Worms, ab 1663 dauerhaft in Regensburg) sowie das Reichskammergericht in wechselnden Reichsstädten (zuerst Frankfurt a. M., ab 1690 in Wetzlar). Wichtige Orte waren ferner Klöster (z. B. Fulda, St. Gallen), Bischofssitze (Köln, Mainz, Trier) sowie Pfalzen, also Burganlagen, die den Herrschern als Unterkünfte während ihrer Reisen dienten (vgl. HERBERS 2010a: 10-13; HERBERS 2010b: 25f.; NEUHAUS 2010: 197f.).

Geografisch erstreckte sich das Heilige Römische Reich westlich von Antwerpen bis Basel, im Norden bildete die Nordsee eine natürliche Grenze, die östliche Grenze verlief von der Kieler Bucht nach Süden bis zur Elbe und folgte deren Verlauf, danach der Saale bis zum Fichtelgebirge durch den Böhmerwald und Bayrischen Wald, entlang der Donau und weiter südlich bis zum heutigen Rijeka (Kroatien). Im Süden verlief die Grenze von Grado/Triest über die Julischen Alpen und die Dolomiten über das Engadin, das Aaretal bis nach Basel. Allerdings gab es in dem langen Zeitraum auch immer wieder größere und kleinere Veränderungen (vgl. HERBERS 2010a: 17-19).

Die wichtigsten Verkehrswege bildeten entsprechend Flüsse, insbesondere der Rhein, die Rhone, der Main, aber auch Elbe, Oder, Weichsel und Donau, sowie Landwege. Wichtige Verbindungen waren die »Hohe Straße« (HERBERS 2010a: 16), die von Mainz über Fulda und Eisenach nach Erfurt führte (und bis Kiew weiterlief), sowie der »Hellweg« (ebd.). Dieser verband das Rheinland über das Ruhrgebiet mit Magdeburg. Nach Süden wurden die Alpenpässe, etwa »der San Bernardino […], der Gotthard-Paß […], der Mont-Cenis […], Reschen oder […] Brenner« genutzt (ebd.: 17). Ein weiterer bedeutender Alpenpass war zudem der Große Sankt Bernhard.

Das Heilige Römische Reich zerfiel im Anschluss an die Französische Revolution von 1789 bzw. mit den sich anschließenden Revolutionskriegen. In der Literatur wird dafür unter anderem ein Separatfrieden zwischen Preußen und dem revolutionären Frankreich verantwortlich gemacht, durch den die europäische Phalanx zur Unterstützung der französischen Monarchie gebrochen wurde (vgl. NEUHAUS 2010: 284). Der Versuch, damit einhergehende Gebietsverluste der weltlichen Fürsten im sog. Reichsdeputationshauptschluss (1803) durch die Auflösung von Klöstern (Säkularisierung) auszugleichen, verfehlte sein Ziel und beraubte den Kaiser zusätzlich seiner Machtbasis. Das Ende des Heiligen Römischen Reichs wurde durch die Niederlegung der Kaiserkrone durch Kaiser Franz II. am 6. August 1806 nach einem französischen Ultimatum besiegelt. Dieses Ereignis wurde »nicht in einem als Staatsakt zu verstehenden Reichsakt [verkündet] […], sondern […] in der Samstag-Ausgabe der ›Wiener Zeitung‹ am 9. August 1806« bekannt gemacht (ebd.: 291; vgl. ebd.: 282-291 sowie EPKENHANS 2008: 26-29).


Bevor die Weiterentwicklung der Briefzeitungen zu allgemein zugänglichen (Wochen-)Zeitungen näher betrachtet wird (siehe Kap. 3.2), gilt es, eine weitere wichtige Innovation und deren Folgen zu erwähnen: das von Johannes Gensfleisch zum Gutenberg (genannt Gutenberg) im Mainz der 1430/1440er-Jahre entwickelte Druckverfahren mit beweglichen Lettern (Typen) (vgl. HIEBEL et al. 1999: 75ff.). Ein ähnliches Verfahren des »Typendrucks« (MITTERAUER 2004: 261) bzw. der Typografie, das dem Gutenbergs stark ähnelte, existierte in China bereits seit dem 11. Jahrhundert, mit Ton-, später Holztypen.39 Das Spezifische an Gutenbergs Verfahren waren die aus Blei gegossenen Lettern (vgl. HIEBEL et al. 1998: 52) bzw. das dafür entwickelte Handgießinstrument (vgl. STÖBER 2014: 20f.), mit dem die Typen einfach herzustellen waren und nach Abnutzung wieder eingeschmolzen werden konnten. Auch wenn diese Drucktechnik, trotz ihrer für die damalige Zeit relativ schnellen Ausbreitung (vgl. MITTERAUER 2004: 262ff.; STÖBER 2014: 30f.), nicht unmittelbar zu einer Umwälzung des gesellschaftlichen Nachrichtenverkehrs geführt hat, so hatte sie doch tiefgreifende soziale Folgen.40 Neben primären Folgen, wie u. a. der gesteigerten Publizität von Druckwerken, sind hier vor allem die sekundären Folgen von Bedeutung: die gesteigerte Lesefähigkeit (siehe auch den Abschnitt zur Alphabetisierung am Ende dieses Kapitels) sowie damit eine vertiefte Bildung und Individualisierung sowie schließlich der soziale Wandel mit der Reformation und Aufklärung (vgl. WILKE 2008: 14-16).

 

Zunächst wurde die neue Drucktechnik vor allem für die Herstellung von Büchern, insbesondere der Bibel, genutzt. Diese hatte man zuvor mühsam von Hand vervielfältigen müssen (häufig eine Arbeit von Mönchen und Nonnen; vgl. FAULSTICH 1996: 110). Rudolf Stöber (2014: 23) zeigt auf, dass ein mittelalterlicher Kopist für das Abschreiben einer Bibel ca. 12-36 Monate brauchte, während Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts für den Druck von 180 Exemplaren 13,5 Monate benötigte. Die Typografie beschleunigte also wesentlich die Produktion von Druckwerken, was wiederum deren Verbreitung erhöhte.

Die neue Technik wurde im Weiteren auch zur Herstellung der ersten gedruckten Nachrichtenmedien genutzt, die allerdings nicht regelmäßig, sondern nur punktuell produziert wurden. Bereits im späten 15. Jahrhundert, ab ca. 1480, erschienen Einblattdrucke mit Nachrichten, ebenfalls gewerbsmäßig und marktorientiert erstellt, die sog. Newen Zeytungen.41 Diese Einzelblätter, die spätestens seit 1502 ›Newe Zeytungen‹ genannt wurden (vgl. BÖSCH 2019: 42), enthielten meist nur eine Nachricht (typischerweise illustriert, bisweilen sogar von Hand koloriert) und wurden insbesondere im Straßenverkauf abgesetzt. Sie erschienen unregelmäßig immer dann, wenn ein Drucker Kenntnis von einem entsprechenden Ereignis erhielt, das er für publikationswürdig und marktgängig hielt; so publizierte z. B. der Zürcher Drucker Froschauer Ereignisse und Entwicklungen der Reformation (vgl. WEISZ 1954: 17ff.). Seit 1566 sind vereinzelt Newe Zeytungen in Form sog. ›Serienzeitungen‹ bekannt, »in denen über ein bedeutendes Ereignis [über einen gewissen Zeitraum hinweg; d. Verf.] fortlaufend berichtet wird und deren einzelne Ausgaben durchnummeriert sind« (SCHRÖDER 1995: 16; vgl. WILKE 2008: 33f.). Ansatzweise bestand somit zwar eine kontinuierliche Berichterstattung, jedoch nur in Bezug auf Einzelereignisse. Grundsätzlich kann man jedoch mit Dieter Paul Baumert (1928/2013: 47) sagen, dass die Herstellung der Newen Zeytungen »keine journalistische«, sondern nur eine »mechanische Leistung« erforderte, da schlicht einzelne Nachrichten, die meist als Zeitungslieder oder in Briefform (Cedulae, s. o.) kursierten, per Druck vervielfältigt wurden. Dabei handelte es sich in erster Linie um kriegerische und militärische Vorgänge, Verbrechen, sensationelle Naturereignisse und Ähnliches. Sie erreichten trotz eher geringer Auflagen von durchschnittlich 1.000 bis 1.500 Exemplaren, etwa durch Vorlesen und Weitergabe, zwar breite Bevölkerungsschichten (vgl. WILKE 2008: 21; WEISZ 1954: 20f.), ähnlich wie die Spielleute. Sie boten jedoch genau wie diese keinen Nachrichtenüberblick, sondern sehr zufällige Schlaglichter auf einzelne Geschehnisse, die stark unterhaltenden Charakter hatten.

In gewisser Weise ähnelten die Newen Zeytungen mit ihren Inhalten, den meist sensationshaltigen Überschriften und ihrer Bebilderung heutigen Boulevardzeitungen.42 Da die Illustrationen häufig wie Bildergeschichten angelegt waren (siehe Abb. 4), wurden auch Leseunkundige angesprochen. Eine der wohl umfangreichsten Sammlungen solcher Newen Zeytungen in Europa hat der Zürcher Pfarrer Johann Jakob Wick in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts angelegt (vgl. MAUELSHAGEN 2011: 13).43 Neben Zürich war Basel der wichtigste Schweizer Druckort für diese Produkte. Daneben wurden sie auch in Neuchâtel hergestellt. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass z. B. aus Schaffhausen und Willisau besondere Ereignisse berichtet worden sind (vgl. HARMS 2008a: 48, 2008b: 123; SCHILLING 2008a: 77, 2008b: 106, 2008c: 354, 349).

Die Newen Zeytungen – wie schon die Nachrichtenverbreitung der mittelalterlichen Sänger und Spielleute – beruhten bereits auf einer weiteren Form der Kommunikationsvermittlung: der autonomen »Fremdvermittlung« (WAGNER 1995: 26, 2014b: 228). Diese setzte sich allerdings erst mit den späteren Wochenzeitungen durch (siehe Kap. 3.2). Gemeint ist damit, dass die Vermittlung nicht mehr »im Auftrag« erfolgte, sondern »auf eigenes Risiko, aber auch mit Aussicht auf eigenen Gewinn« (WAGNER 1995: 25), also »unabhängig von einzelnen Nachrichteninteressenten« und am »Nachrichten-Markt« orientiert (WAGNER 2014b: 227f.). Im Unterschied zu den späteren Wochenzeitungen leisteten Newe Zeytungen, ebenso wie die bereits erwähnten Spielleute, jedoch keinen regelmäßigen und systematischen Nachrichtenüberblick, weshalb sie keinen Ersatz für Versammlungskommunikation darstellten. Die Newen Zeytungen fanden zwar auch Eingang in erste periodische Druckmedien, aber dabei handelte es sich nicht um aktuelle Nachrichtenmedien: Dies waren zuerst Jahreschroniken oder Kalender, die im 16. Jahrhundert aufkamen (vgl. BÜCHER 1893/2017: 222); sie erschienen jährlich und riefen z. B. mittels des Abdrucks Newer Zeytungen Ereignisse aus dem Vorjahr in Erinnerung. Kalender waren neben Bibel und Gebetbuch in der Frühen Neuzeit die am weitesten verbreiteten und gelesenen Druckschriften (vgl. HERBST 2009: 189).44 Mit den sog. Messrelationen verkürzte sich dann der Erscheinungszeitraum solcher Nachrichtenrückblicke auf ein halbes Jahr. Diese Sammlungen, die stark auf Newen Zeytungen beruhten und etwa 100 Seiten umfassten, erschienen zu den halbjährlich stattfindenden Handelsmessen in Frankfurt a. M. und Leipzig sowie ein drittes Mal zur Leipziger Neujahrsmesse (vgl. KÖRBER 2016a: 11). Die erste Messrelation wurde im Jahr 1583 zur Frankfurter Messe herausgebracht, die Relatio Historica von Michael von Aitzing, gedruckt in Köln (vgl. KÖRBER 2016: 46-57).45 Der Titel verweist auf die Funktion als historische Darstellung (Chronik).

ABBILDUNG 4

Newe Zeytung aus dem Böhmerwald (1609)

In der Literatur finden sich zudem – wenn auch unsichere (vgl. SCHRÖDER 1995: 22) – Hinweise auf einige monatlich erschienene Nachrichtensammlungen, erstmals wohl 1587 in Nürnberg (gefolgt von Straßburg 1592, Prag 1597 und Wien 1598) – es sind jedoch keine Exemplare überliefert. Gesichert dagegen ist, dass im Jahr 1587 eine derartige Monatsschrift in Rorschach am Bodensee gedruckt und von einem Literaten und Dichter, Samuel Dilbaum, in Augsburg herausgegeben wurde. Sie wird in der Literatur, entsprechend der ersten Zeile ihres umfangreichen Titels, als Annus Christi bezeichnet. Weiter bezeichnet der Titel die Publikation als »Historische Erzählung«, was einen Hinweis darauf liefert, dass trotz der monatlichen Erscheinungsweise auch hier die Funktion als Chronik im Vordergrund stand. Andererseits zeichnet sie sich durch eine stärkere Bearbeitung der Nachrichten aus, d. h. eine gewisse inhaltliche Strukturierung, modernere Sprache und teilweise Überschriften bzw. Marginalien (Randbemerkungen) mit dem Charakter einer Überschrift (vgl. BARTH 1976: 27f.). Daher wird sie in der Literatur teilweise als Schritt in der Entwicklung zur gedruckten Wochenzeitung betrachtet (vgl. ebd.: 30f.; BOLLINGER 1999: 38). Tatsächlich gab es aber keinen direkten Übergang zu einer häufigeren Erscheinungsweise bzw. einer Wochenzeitung; sie erschien zudem nur während eines Jahres. Angesichts der zur gleichen Zeit bereits existierenden handgeschriebenen Wochen zeitungen (siehe Kap. 3.2) ist davon auszugehen, dass Personen mit einem echten Bedürfnis nach aktuellen Nachrichten, wie etwa Händler, auf die wesentlich aktuelleren wöchentlichen Zeitungen abonniert und derartige Monatsschriften daher zur aktuellen Information weniger von Interesse waren. Vielleicht hatten diese deshalb nur geringen Erfolg, was möglicherweise (mit) erklären könnte, warum der Annus Christi nur ein Jahr lang erschien und dass keine weiteren Monatsschriften erhalten geblieben sind. Darüber ist jedoch nichts Genaueres bekannt.

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