Kapitulation

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Das Nächste, was ihr Mann sagt, versteht Adrienne nicht. Der Müllwagen fährt vor und beginnt, mit lautem Getöse die Unterflurcontainer hochzuhieven.

Aufs Geratewohl sagt Adrienne, die es endlich geschafft hat, ihren Zigarettenstummel im Mini-Aschenbecher zu verstauen: Nein, unser Gästezimmer ist besetzt. Nomi und Maximilian.

Der Gedanke, dass ihre Tochter aus erster Ehe und deren Sohn zu Besuch kommen, umheimatet sie zuverlässig. Mit der einen Hand auf dem Solarplexus schützt sie sich vor der Plötzlichkeit des Gefühls, als sie sich gegen die Hausmauer lehnt. Wie sehr ihr Nomi und ihr Enkel Maximilian fehlen, mag sie sich gar nicht eingestehen.

Im Büro der Diversity & Social Equality Managerin Priska Liefers deutet diese Yvonne mit zwei Fingern an, dass ihr Gespräch auf der Freisprechanlage demnächst beendet sei. Vorsorglich lässt sie die Stuhllehne nach hinten kippen und spricht weiter: Aber wenn ich dir doch sage, dass Schwarze bei Tests schlechter abschneiden, sobald sie ihre ethnische Zugehörigkeit aufs Formular schreiben müssen …

– Beim Geschlecht ist es doch dasselbe …

Schon klar, Mädchen schneiden in MINT-Fächern ebenfalls markant schlechter ab, sobald sie ihr Kreuzchen bei weiblich setzen müssen …

– Asiaten im Gegenzug werden dadurch besser …

Jetzt komm schon, Gerald, lass uns diese Formulare noch einmal überdenken!

Die nächste Antwort von Gerald bekommt Yvonne nicht mit, weil sie sich darauf konzentriert, an keins der herumstehenden Ethno-Kunstwerke zu stoßen.

Priska Liefers hat ihr mit wiederum zwei Fingern signalisiert, schon mal zu beginnen. Ihre Augen schließen sich mit einem erwartungsvollen Lächeln, das sich über ihr Gesicht zieht wie ein Netz über einen Rollbraten.

Während sie ihrem Mann verspricht, noch heute in die Reportage über Putzsklaven hineinzuschauen und auch die Kommentare über Elle zu lesen und ihm dann Bescheid zu geben, weil er unbedingt ihre Meinung zu der medialen Berichterstattung hören will, hebt Adrienne den Blick zum Himmel, von wo erneut ein Rauschen heranweht. Die Luft ist so hell, so dünn …

Nach zwei Kussgeräuschen klickt sie Julian weg.

Ihre Lippen öffnen sich, Kühle strömt in ihren Mund, als sie nach oben schaut, wo ein Schwarm aus gut zwei Dutzend weißer Tauben in wilder Jagd Kreise zieht. Die sind bestimmt irgendwo abgehauen, denkt sie und fährt zusammen, als die Vögel sich urplötzlich für eine Richtung entscheiden und dann davonschießen, eins geworden in Form eines Pfeils.

Zur gleichen Zeit haben sich Brigitte und ihre Frau Kordula den dritten Frühstückskuss gegeben. Kordula schmiert Brötchen.

Brigitte reiht das Gurkenglas in die Allee im Kühlschrank ein. Sie weiß, wie sehr Kordula an Ordnung gelegen ist, und sie bemüht sich, sich daran zu halten. Was zusammengehört, soll zusammenbleiben, sagt Kordula immer, und Brigitte ist ihr dankbar dafür.

Für Kordula ist Brigitte von Wien in dieses schwäbische Kaff gezogen, wo es eine Kehrwochenordnung im Mietshaus gibt, den Doktortitel als Biologin im Gepäck, dafür die Disziplinarordnung für Bratschistinnen mitsamt Bekleidungsvorschriften – bodenlanger Rock oder elegante schwarze Hose, elegantes schwarzes Oberteil, das die Arme bis zu den Ellbogen bedeckt, schwarzes Abendkleid, schwarzer Damenanzug oder Damenfrack, Schlitze bis maximal Kniehöhe, schwarze Nylonstrümpfe (auch im Sommer); unerwünscht: Spaghettiträger, eng anliegende Hosen …; bei Nichteinhalten erfolgt Verweis – unwiderruflich entsorgt. Dagegen waren die Regeln betreffend der großen und der kleinen Kehrwoche ein Klacks.

Vor Kordula liegt ein Stapel ungeöffneter Post. Sie schnauft.

Brigitte führt ihre kurzen Haare durch das Gummiband, mittlerweile haben sie eine Länge erreicht, die ein Zusammenbinden am Hinterkopf wieder erlaubt.

Sie haben sich für einen Weg größtmöglicher Offenheit entschieden – Wir, modernes Frauenehepaar aus BW, suchen Mann für Samenspende, der idealerweise darüber hinaus dem Familienleben freundschaftlich erhalten bleibt, ohne erzieherische oder finanzielle Pflichten. Was das Kind isst, bestimmen wir ;-) –, in der Hoffnung, dass sich die Fehlschläge, die Leerläufe dadurch minimieren lassen. Jetzt haben die Leerläufe Furchen gegraben.

Ich gebe zu: Es wäre einfacher, wenn wir das wie andere Leute auch mit Sex lösen könnten. Ich würde dich zu gern selbst schwängern.

Brigitte lacht kullernd. Ein Wiener Lachen, wie Kordula es nennt. Ein Lachen mit Schmand.

Kordula sagt: Dann hätten wir schon längst unsere Meute beisammen.

Unsere Horde.

Unseren Schwarm.

Unsere Kolonie.

Schule.

Eine ganze Schule willst?, fragt Brigitte. Sie schnappt sich einen Stuhl und rückt an den gedeckten Frühstückstisch heran. Ihre nackten Waden legt sie, eine über der anderen, Kordula über die Knie. Kordula schiebt ihr Gesäß etwas vor und zieht Brigittes Beine in eine bequemere Position. Eine Hand lässt sie streichelnd liegen:

Reich mir mal die Zibeben.

Bitte schön.

Beide kauen.

Dann fährt Kordula fort: Unseren Schoof.

Enten?, rät Brigitte.

Unseren Trupp.

Unsere Sippe.

Unser Geheck.

Geh, Kordula, komm! Du immer mit deinen Jagdbegriffen.

Füchse. Ein Geheck Füchse, würde doch passen, findest du nicht? Goldblond, wie wir beide sind.

Ich tipp auf …, Brigitte kneift Mund und Augen in gespielter Anstrengung zusammen und zeigt auf die Post, null.

Doch so viele?, stöhnt Kordula.

Aber Brigitte ist schon einen Schritt weiter und hält Kordula den ersten geöffneten Umschlag entgegen. Kordula greift ihn sich, überfliegt den Text und bleibt an der Unterschrift hängen. Die Hand streichelt wie automatisch.

Blattlaus müsste man sein, sagt Kordula mit einem Seufzen. Ein Rest veganer Butter klebt ihr im Mundwinkel.

Brigitte lehnt sich vor, reicht mit ihrer Hand aber nicht bis ganz hin. Jungfernzeugung, das wär’s.

Mhhhhhh, macht die Diversity & Social Equality Managerin, als Yvonne ihren Ellbogen in den Musculus trapezius drückt. Das tut so guuuut, ahh, meine Schultern sind furchtbar verspannt, sind sie nicht furchtbar verspannt? Ahh.

In ihrem Kopf repetiert Yvonne Begriffe für die anstehende Prüfung. Amygdala. Hirnstamm. Occipitalhirn. Temporalhirn. Frontalhirn. Sie will das nicht vermasseln, auf keinen Fall.

Au! Das ist jetzt aber schon grad etwas heftig, protestiert die Diversity & Social Equality Managerin.

Ein paar der Begriffe bringt sie noch immer durcheinander. Sie muss mehr lernen. Sie muss das schaffen, für sich und die Kinder. For richer, for poorer, in sickness and in health … Wir schaffen das! Das gilt ab jetzt für sie und ihre Kinder. Exklusiv.

Yvonne?

Hm.

Ich hab da mal eine Frage, nur so aus Neugierde.

Das nächste Debakel, über das man hinwegzusehen hätte. Yvonne gibt ein kurzes Hm? von sich.

Yvonne, das ist doch nicht dein richtiger – au-autsch! – Name, oder?

Yvonne knetet weiter: Weshalb sollte er das nicht sein?

Hm. Stimmt, sagt die Diversity & Social Equality Managerin, ich dachte bloß. Mit einem Dreiviertellächeln unter halb geschlossenen Lidern zeigt sie auf das Namensschildchen, das über Yvonnes Brust befestigt ist.

Bei uns geben sich halt viele einen anderen Vornamen, einen, der einfacher ist als der eigene, verstehst du? Und bei deinem langen Nachnamen dachte ich … Isst du übrigens Fleisch? Ich geh ja neuerdings immer am Freitagmorgen auf eine Demo gegen das Schlachten von Tieren. Das ist ethisch nicht haltbar, finde ich, das Schlachten.

Mh-hm, liefert Yvonne als Antwort und beginnt damit, die Stirn der Frau, die gerade unter ihren Händen schmilzt, zu massieren. Facial Relaxation hat diese auf dem Fragebogen angekreuzt.

Na also: fünf Minuten Ruhe. Geht doch.

Bingo! Ein weiterer unverbesserlicher Familiengründer! Glaubst du’s, Brigitte? Das ist derselbe Typ wie der von letzter Woche. Ich würde sogar drauf wetten, dass das ein Anagramm ist, das er da verwendet, schau doch mal: Martin Sager, Ami Gartners. A, A, M, I, mit einem tippenden Zeigefinger an den Lippen vergleicht Kordula Vokale und Konsonanten.

Auch in den nächsten zwei Umschlägen steckt mehr oder weniger deutlich das Verlangen nach Sex.

Na, Servus.

Bedaure, mein Herz. Genetische Multipräsenz oder Ficken, mehr steht heute nicht auf der Karte.

Brigitte verlagert ihre Beine auf Kordulas Oberschenkel so, dass sie mit den Fingerspitzen an den weißen, glitzrigen Fleck in Kordulas Mundwinkel herankommt. Dann schlängelt sie das untere Bein nach oben: So.

Dort, wo ihre Haut die Haut ihrer Frau berührt, liegt etwas, das sie heute Vormittag spüren will, unbedingt. Ihre Frau. Brigitte kann es kaum glauben. Nach all der langen Zeit noch immer nicht.

Und wie einfach letztlich alles war. Dabei hatte es sich nach so viel Schmerz angefühlt, nach so viel Verlust. Ihr Fiasko als Bratschistin war zusammengefallen mit ihrer Niederlage als Frau. So hatte sie das empfunden. Als eine Niederlage, ein Besiegtwerden als die Frau, die sie für einen Mann hatte sein wollen.

Damals ging sie mit Marco aus, einem humorvollen Mittdreißiger, gehörig älter, sie war Anfang zwanzig. Aber witzig war er, irgendwie überbordend, das vor allem hatte Brigitte an ihm angezogen, dass er so unverblümt über Grenzen ging und an allen möglichen und unmöglichen Orten Sex mit seiner Bratschistin wollte. Von der Mitteilung nach drei Monaten, dass sie auch mit Frauen, zeigte er sich äußerlich wenig erschüttert, er hatte lediglich gesagt, dass sie dafür ganz schön mannstoll sei.

 

Eine Spitze gegen sie hatte er sich dennoch nicht verkneifen können: Sag mal, kommt dein asymmetrisch nach links verschobenes Doppelkinn eigentlich von der Bratsche? Ist das bei euch so eine Art Berufskrankheit?

Er war nicht betrunken, aber er fand das unheimlich komisch, ein Witz.

Aber du musst doch zugeben, dass das so ist? Solange deine Titten nicht schräg sind, habe ich auch nichts dagegen, Brigittchen. Hei, komm, lach halt mit! Was hab ich denn gesagt? Hast du keinen Humor?

Also lachte Brigitte.

Sie lachte noch genau zwei Wochen lang, dann merkte sie, dass ihr das Lachen über solche Scherze vergangen war.

Mit ihrem schwarzen Filzstift hat Aina jetzt schon eine ganze Weile unbeobachtet kleine Buchstaben auf die Schildchen, die zur Erläuterung neben den Bildern hängen, gekritzelt, aus jedem Pablo eine Paola gemacht, aus jedem Egon eine Eugenia, aus jedem Peter Paul eine Petra-Paula, aus jedem Rembrandt eine Renée-Anne, aus jedem Tizian eine Tiziana. Mittlerweile ist sie im Raum der Sonderausstellung angekommen. Vor dem Bild von Félix Vallotton, Le bain au soir d’été, hält sie inne.

Stille und Ruf und Schönheit, murmelt Aina und lässt den Stift in ihre Hosentasche gleiten. Keine Huren, keine Heiligen, Vallotton.

Bitte?, fragt eine zittrige Stimme neben ihr.

Aina bläst sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blickt in die wachen Augen einer kleinen Dame. Sie ist klapprig und scharf konturiert in ihrem fuchsiafarbenen Ensemble, und ihre Iris überzieht nur ein schwacher Film des Alters, sie leuchtet immer noch grün.

Können Sie mir etwas über diesen Maler sagen? Sie sind doch vom Museum, ja?

Aina lacht. Sie spürt, wie sich ihre Oberlippe arrogant belustigt über ihr Zahnfleisch zieht, das auf das trockene Raumklima reagiert. Sie sagt: Vallotton. Aber auch bei ihm haben Frauen kaum Haare unter den Armen, sehen Sie?

Die kleine Dame bückt sich vor, den Mund konzentriert gespitzt, die dürre Hand zitternd in der Luft, ihre Nase berührt beinahe das Bild. Aina kann sich nicht erinnern, ob dieses Exponat eines der mit Alarm gesicherten ist.

Sie sagt, während sie einen halben Schritt vom Bild zurücktritt: Haben Sie gewusst, dass Haare Macht bedeuten?

Hier möchte man direkt eintauchen, nicht?, sagt die Dame, in sich gekehrt, in so ein friedliches Bad.

Als sie sich zu Aina umdreht, sieht Aina, dass sie ein sehr gepflegtes Gebiss hat und einen ganz leichten Überbiss wie sie selbst.

Deshalb muss man sie bändigen, stimmt’s?, antwortet die Dame jetzt doch auf Ainas Erläuterung und nimmt die zuvor ausgestreckten Hände wieder zu sich, legt sie sich artig über Kreuz auf die Brust. Eine Geste inniger Diskretion.

Haare sind der animalische Rest, sagt Aina und lässt ihren Blick über die Dame schweifen. Etwas an ihr zieht sie an. Reizt sie. Perücke und Robe – da klingelt doch was? Finden Sie nicht? Wer Macht haben will, verkleidet sich als Frau. Mit Haaren und Rock. Aber Haare gehören dazu.

Die Dame schmunzelt: Hier finde ich sie ja nicht so schön, und fährt sich mit gekrümmten Fingern ans Kinn, die Haare.

Ansichtssache, sagt Aina und muss ebenfalls schmunzeln. Sie überlegt kurz, entscheidet sich, es auszuprobieren, dann: Die meisten Bilder von Frauen, die in diesem Trakt ausgestellt sind, haben Männer gemalt, mit Männerblick. Sechshundert Exponate finden Sie hier, davon zwei von Frauen. Eines von ihnen fehlt gerade. Unentschuldigt. Weltweit werden noch immer weniger als vier Prozent Künstlerinnen in modernen Museen ausgestellt, aber sechsundsiebzig Prozent aller ausgestellten Nackten sind Frauen.

Aina hebt kurz die Hand, die Dame bleibt stehen wie vor einem Polizisten.

Schauen Sie sich um: Männerblick! Ich frage Sie: Warum immer mit entblößter Brust? Warum mit einem Arm hinter dem Kopf verrenkt? Wusste denn keiner dieser alten Meister, wie unbequem das ist? Oder da: heilend, nährend, mit geduldigem Tochterblick zu Papa hinauf; oder hier: schlimmer! Misstrauisch, und das Misstrauen ist durchaus angebracht, finden Sie nicht? Es ist sogar das einzig Nützliche, was man von diesen Bildern lernen kann, sehen Sie, hier: komplett fertig, aber doch mit einem muskulösen Rücken, man muss so was ja auch aushalten, mit nach hinten gebogenem Hals, töte mich, die porträtierten Ehefrauen verhässlicht, verkümmert, verkrüppelt, die Liebhaberinnen lasziv, mit einem verschwommenen Totenkopf zum Geleit, nackt, beschämt, auf der Flucht, nur selten malt ein Mann eine Frau so, wie sie sich fühlt, finden Sie nicht? Aber am schlimmsten ist diese monströse Chilischote, haben Sie die gesehen? Im Nebenraum? Ainas nackte Füße schmatzen auf der Einlegesohle.

Die Dame unterbricht jetzt doch, legt aber sofort wieder beide Hände auf die Brust: Sind Sie Schweizerin?

In Belgien aufgewachsen. Meine Mutter ist Schweizerin.

Ah, deshalb, sagt die Dame und geht ein Bild weiter in eine andere als die von Aina vorgeschlagene Richtung, ohne Aina in ihren Rundgang einzubeziehen.

Aina bläst sich erneut die Haarsträhne aus dem Gesicht und schiebt die Hände in die Hosentaschen. Ihr Herz flattert. Ihre Wangen sehnen sich nach einer Berührung, die nicht vor heute Abend erfolgen wird.

Arbeitest du eigentlich noch bei KTNA&P? Eine Freundin hat nach dir gefragt.

Bilder blinken vor Yvonne auf: der KTNA&P Crew Superintendent, der sie im Türrahmen seines schmalen Büros warten lässt, während er mit einem Kollegen über Muschis spricht, der First-Level-Supporter, der nichts anderes von seiner Stör-Masseurin will, als dass sie seinen Kopf hält, zwanzig Minuten lang, sanft, wie man ein Baby hält, das man in den Schlaf wiegt. An ihm hatte sie den Frontooccipitalen Ausgleich geübt, ohne dass er es wusste.

Letztlich hat sie auch deshalb diesen Auftrag flöten gehen lassen. Hat einfach nicht mehr zurückgerufen, Mails nicht beantwortet. Ist zu VinatzerMantellJoergensen gewechselt, weil: Gar nichts geht ja nicht. Gar nichts hat sich schon Christian zum Beruf gemacht in seinem Kokon aus Beratungsmenschen. Christian, der keine Entscheidung mehr ohne Rücksprache mit seinem Berater von der Invalidenversicherung, seinem Job-Coach, seinem Psychiater, der Homöopathin oder dem Yogalehrer trifft. Menschen, die ihn umwatten mit ihrem Fachwissen über dieses Burnout, die um diesen Begriff ein Nest gebaut haben, in das sie Menschen wie Christian betten. Yvonne ist mittlerweile davon überzeugt, dass man den Körper mit zu viel Konzentration auf die Angst auf Fluchtmodus trimmt, dass der Körper genau dadurch in Kampfbereitschaft gehalten wird, indem man ihm das Schlimmsein der Welt bestätigt. Burn-out, Ausbrennen, Aschehaufen, da puste ich drauf! Sympathikus – du übler Geselle. Eine erhöhte Herzfrequenz, offene Bronchien, geweitete Pupillen – das hat Einfluss auf die Darmaktivität und wirkt wie die Dauerbelastung, die den Menschen letztlich krank gemacht hat. Sie ist sich sicher, dass mit einer sanften Arbeit wie Craniosacraltherapie sowie mit einem niederschwelligen Verbleib in einem irgendwie gearteten Tätigsein, mit etwas Zuspruch, genügend Resilienz aufgebaut werden könnte, mit der ein angststarrer Mensch wieder zurück ins Leben findet, lange bevor er es sich im Nest der Therapeuten bequem macht. Aber Nichtstun. Ausfallen. Aschig sein. Sich vom Taxi von Berater zu Berater karren lassen. Christians Hormonsystem, seine Gehirnstruktur haben sich längst verändert! Sein vegetatives Nervensystem schüttet Stresshormone aus, wenn er das Wort Arbeit nur hört! Die Angst, als Manager nicht mehr zu genügen, keine Leistung mehr bringen zu können, ist doch bei ihm bereits eingezellt! So gerne hätte sie snap out of it geschrien, get moving, schon in den ersten Monaten. So gerne mit den Füßen gegen ein Möbelstück gekickt.

Ich bin ungerecht, denkt sie, als eine Aufwärtsbiegung am Ende des Satzes sie aus dem immer wieder gleichen Kreislauf ihrer Ohnmacht ruft; die Kundin hat offenbar etwas gesagt oder gefragt. Typischer Uptalk.

Yvonne weicht mit einem ihrer begabtesten Hms aus. Es nützt nichts.

Darf ich dich mal was fragen?, dieser Satz nun tief, mit einem unangenehmen Vocal Fry. Sie verbruzzelt ja fast ihre Stimme.

Anscheinend bekommt man das so beigebracht heutzutage in den oberen Etagen, überlegt Yvonne und denkt wieder an ihre eigene Ausbildung, die sie sich abspart und zusammenstottert für ein Leben in Unabhängigkeit.

Wie ist das so, wenn man in Büros fremde Menschen massiert?

Yvonne zögert. Sagt dann, mit klarer, fester Stimme: Schön, schön ist das.

Ich will einfach nicht mehr jeden Monat quer durch die Republik von Arztpraxis zu Arztpraxis reisen müssen!

Ich weiß, mein Herz. Und es ist ja auch eine Frage des Geldes.

Dass die Krankenkasse einen Teil der Kosten für eine begrenzte Anzahl Versuche in künstlicher Befruchtung nur bei heterosexuellen Paaren übernimmt, hatte beide geschockt. Dazu war bei Brigitte bald das Gefühl gekommen, in den verschiedenen Arztpraxen, die sie ausprobiert hatte, fehl am Platz zu sein. Obwohl sie so sehr ein Kind wollte.

Kordula reißt den letzten Umschlag auf. Sie sagt: Am besten wäre ein homosexuelles Paar, das seinerseits Papa werden will. Papa mit definierten Rechten.

Genau, einfach nur Sex – quasi als Feldforschung.

Das hättest du wohl gern! Kordula wendet den Blick ab. Duckt sich in ihre typische Schildkrötenhaltung. Dann seufzt sie. Wann fährst du?

Übermorgen. Und Josef ist krank. Ich muss also später noch in den Zoo, und morgen hab ich ganz regulär Dienst.

Dann sehen wir uns ja kaum noch.

Es ist nur die Schweiz, Kordula. Es ist noch lange nicht das Ende. Und ich bin sicher, es wird auch ein bisserl peinlich. Brigitte langt mit der Hand nach ihr, erreicht Kordulas Wange aber nicht.

Warum fährst du dann überhaupt?

Brigitte macht ein nachdenkliches Gesicht und lässt sich tiefer in den Stuhl sinken. Dann schaut sie zum Fenster hinaus: Weiß nicht.

Sie denkt daran, dass sie vielleicht Magnus wiedersieht, mit dem sie ein Techtelmechtel hatte, obwohl alle immer glaubten, er sei hinter Chloé her, dieser kleinen Schriftstellerin.

Kordula liest ihre Gedanken: Vielleicht findest du ja in der Schweiz einen progressiven Mann.

Brigitte setzt sich ruckartig auf und fasst die Hand ihrer Frau.

Auf ihrem Rundgang durch die Säle begegnet Aina der Veteranin aller Aufseher und Aufseherinnen. Sie wirkt zerstreut, wie sie mit kleinen Schritten von Schildchen zu Schildchen hastet und etwas überprüft. Wie ein Huhn, das nach Körnern pickt und dem nicht schmeckt, was es schluckt.

Aina schlendert mit schlenkernden Armen an ihr vorbei.

Man müsse die Gefühle der Besucher ernst nehmen, heißt es in der Schulungsbroschüre. Finde man einen Besucher vor einem Werk irritiert vor, führe man ihn in einen Raum der Ruhe, in einen Raum, der viel freie Fläche biete. Keinesfalls dürften Kunstwerke erklärt werden. Viel eher sei auf Handtaschen zu achten, auf rückwärts laufende, weil auf ein Exponat fokussierte Personen, die dabei unbeabsichtigt ein anderes Kunstwerk umstoßen könnten, auf unvorsichtige Besucher, die Kunst- nicht von Gebrauchsobjekten zu unterscheiden vermögen. Installationen! Die gefährdetsten Objekte einer Ausstellung überhaupt!

Einen gigantischen Peperoncino zum Beispiel. Gefertigt aus einer knallroten Mischung aus Technopolymeren und gefirnisstem Plastilin.

Nach einem Umweg über die Apotheke ist Adrienne in ihrem Büro angekommen. Ein kleiner Raum mit einem Waschbecken und einer Nischentoilette, der im Parterre neben weiteren Studios, Büros und Ateliers liegt. Es riecht nach Schwefel und Lauge, noch immer. Sie wird jemanden kommen lassen müssen, da stimmt einfach etwas nicht mit dem Abwassersystem in diesem Teil der Siedlung, für den sie zuständig ist, gopf.

Sie legt beide Hände flach neben das Smartphone vor sich auf den Tisch und sammelt ihre Gedanken.

Graham schaut Kirsty mit einer Aufmerksamkeit und Tiefe an, die kaum aushaltbar sind. Sie sieht all die kleinen Gesten, die einst ihr zugedacht waren und die ihr jetzt nicht mehr gehören.

Sie sagt: Ich habe einen wiederkehrenden Traum.

Ja? Interessant. Ich höre.

Die Ablenkung hilft ihr, ihr Blick klärt sich, sie sieht jetzt weniger verschwommen, was sie vermisst.

Ich träume davon, aber es ist ganz albern, dass ich sämtliche Bücher unter der Lichtkuppel eines Gebäudes auf einen Haufen lege, und sie zerfallen zu Staub.

So? Bemerkenswert. Alle Bücher deines Arbeitsplatzes zerfallen zu Staub? Das könnte darauf hinweisen, dass du dank des Preises bald aufhören kannst zu arbeiten.

 

Es sind nicht, nun ja, nicht alle Bücher.

So? Welche zerfallen nicht?

Ich nehme nicht alle Bücher, weißt du, Graham? Die Bücher, die von Frauen geschrieben worden sind, belasse ich in den Regalen.

Gibt’s davon denn so viele, Geschichtsbücher von Frauen? Quellen, meine ich? In eurem Archiv? Ihr seid doch eher traditionell, konservativ?

Nun, es gibt da diese Sammlung. Lauter Briefe, die Frauen während der letzten fünfhundert Jahre geschrieben haben. Sie wurden zusammengetragen aus Dachböden, Truhen, Schubladen. Persönliche Notizen über große und kleine Dinge des Lebens, die die Verfasserinnen bewegten. Diese Briefe, Graham, zeigen ein ganz anderes Gesellschaftsbild, sie verweisen auf andere Scharniere im sozialen Gefüge als die, über die sich die männlichen Gelehrten ihrer Zeit verbreiten.

So?

Sie legen den Fokus auf Dinge, die im ersten Augenblick ungewöhnlich erscheinen, fremd. Ich habe dir doch davon erzählt, Graham, von dieser Briefsammlung, die als Buch herausgekommen ist mit dem Titel: She Says.

Graham saugt in ausgiebiger Nachdenklichkeit an einem letzten Rest Shortbread herum. Kirsty betrachtet seine Falten, die senkrechten und die waagrechten. Vielleicht hätte sie das nicht sagen sollen. Sie beißt sich auf die Lippen. Der Zeitpunkt der Herausgabe dieses Werkes war zusammengefallen mit der Entscheidung der beiden Eheleute, sich doch zu trennen. Nur mit Mühe kann sie das Bild des Fidibusses aus ihrem Kopf drängen, mit dem sie die Bücher in ihrem Traum anzündet, jedes Mal. Noch so eine Sache, über die sie mit Graham nicht sprechen kann.

Dieses Buch also, sagt er endlich.

Bevor sie sich in Staub auflösen, macht Kirsty in ihrem Traum ein Feuer, und dann zerstieben sie zu Asche und zu Staub. Jedes Mal, wenn sie daran denkt, erschreckt sie sich darüber bis ins Mark.

Nun, nun, sagt sie mit Mäuschenstimme. Und wischt unsichtbare Krumen vom Tisch. Es ist nicht wichtig.

Ein plötzliches Geräusch von draußen lässt Kirsty an ihrem Platz zusammenfahren. Eines der Pferde wiehert.

Ist da jemand im Stall?, fragt Graham in ehrlichem Erstaunen.

Entsetzt schaut Kirsty Graham an, der Mund steht ihr offen, bereitwillig, noch bevor sie Worte in ihrem Kopf formen kann. Im Klaren darüber, dass das verräterisch ist, wendet sie sich von ihrem Ex-Mann ab, zwingt sich aufzustehen, geht zur Spüle. Sie weiß, dass das unhöflich ist, auch einem geschiedenen Mann gegenüber, und sie denkt daran, wie er ihr einst gesagt hat, dass einen gerade die Dinge, die man vermeidet, definieren.

Beide horchen. Sie weiß, er hofft dabei auf etwas anderes als sie.

Das Pferd bleibt still. Man hört nur noch die Enten schnattern.

Erst jetzt lockert Kirsty die Schultern und wendet sich Graham gerade so weit zu, dass es nicht mehr unhöflich ist: War wohl nichts.

Er erwidert stumm ihren Blick.

Alles in Ordnung, ich verspreche es dir. Es wird alles in Ordnung sein, bis ich wieder zurückkomme. Es ist genügend zu essen da und Futter für die Tiere –

Das hast du bereits gesagt, Kirsty.

Ich weiß, sagt sie.

Ich weiß, sagt Graham und nickt, und es ist ein Nicken, das mehr umschließt als die momentane Situation. Es ist ein Nicken, das die ganzen letzten Jahre einfasst, das schmerzhafte Begreifen, dass sie beide nicht am selben Ende des Stranges zogen, die Einigung darüber, dass das für keinen von ihnen gut war, und das Loslassen des Strangs.

Adrienne schaut auf ihren Fresszettel. Ihre Handschrift ist mit den Jahren unkenntlich geworden. Liebesbotschaften an Julian schickt sie per Mail. Gerade eben piept es wieder, vermutlich seine Antwort. Herze dich auch, Liebchen. Oder: Kann es kaum erwarten. Oder Kuss-Emoticons in stürmischer Folge.

Sie legt die Brille vor sich auf den Tisch und greift nach dem Blatt. Ihre Stirn kräuselt sich, als Adrienne Luft holt. Sie überfliegt:

– Aina Zimmermann, Zürich/Brüssel (?)

– Kirsty B. MacLeod, Skye, Stronchreggan GB, braucht Zimmer

– Magnus Olsen, verstorben

– Chloé Rey, La Teste-de-Buch FR, braucht Zimmer

– Salomon Schumacher, Tschukotka!!!

– Bert Stein, Basel CH (?)

– Brigitte Wallner-Fuchs, Neuffen DE, braucht Zimmer

– X

Den letzten Namen hat sie sich nicht hinzuschreiben getraut. Ach, ich habe ja schon Paranoia, denkt sie. Schreibt jetzt aber außer einem unterstrichenen Fragezeichen neben die Abkürzung X am Ende der Liste nichts.

Sie vergleicht die Liste mit einer anderen, einer viel älteren, abgegriffenen Liste, die sie unter ihrer Arbeitsmappe hervorzieht. Die Ordnerlochung des Blattes ist eingerissen.

– Aina Zimmermann, 18, CH, Studentin,

Académie royale des Beaux-Arts de Bruxelles (oberes Atelier)

– Kirsty B. MacLeod, 36, GB (Skye, Schottland!), Übersetzerin (Haupthaus)

– Magnus Olsen, 62, NOR, Bildhauer (Chalet Süd)

– Chloé Rey, 32, CH, Schriftstellerin (Chalet Nord)

– Salomon Schumacher, 44, DE, Fotograf (Haupthaus)

– Bert Stein, 52, AT, Theaterregisseur (Haupthaus)

– Brigitte Wallner, 23, AT, Musikerin

(Bratsche, bringt Instrument mit) (unteres Atelier)

Wie aufgeregt sie damals war, vor achtzehn Jahren, als alles begann. Endlich selbstbestimmt, endlich, oder sogar erstmals: die eigene Herrin.

Die Stiftung Villa de Artium auf Krk war von einem exzentrischen Geschäftspartner ihres ersten Mannes ins Leben gerufen worden – zuerst aus Jux. Eigentlich ein Wetteinsatz, worum es dabei genau gegangen war, damit wollte ihr erster Mann nicht herausrücken. Aber er hatte gelacht, als er seine Ex-Frau eines Tages angerufen und verkündet hatte, er habe da eventuell über einen Geschäftspartner einen tollen Posten für sie: Greif zu, das ist genau das, was du immer wolltest.

Kurz darauf stellte ihr Ex-Mann sie dem großen Wohltäter und Wettverlierer vor, und ehe sie sich’s versah, war Adrienne Präsidentin eines Stiftungsrats, wichtigste Instanz einer Stiftung und Entscheidungsträgerin – denn das letzte Wort bei einer Abstimmung gehörte ihr – eines internationalen Kulturförderprogramms.

Krk. Allein schon der Klang dieser Insel. Der Kiefernadelduft in der Luft. Und dann ihre Geschichte! Julian, ihr zweiter Mann, musste mitkommen, schauen und staunen neben ihr! Und später, als Nomi in London ihre Ausbildung machte, oder eben nicht machte, Max. Als ihr Enkel Maximilian zur Welt gekommen war, war ihre Tochter Nomi noch alles andere als gefestigt. Ganz und gar nicht. Nomi hatte nichts ausgelassen, nie, und also sprang Adrienne ein, nahm den Kleinen Huckepack. Das ging als Selbstständige. Das ging immer.

Irgendwie macht Adrienne stets, dass alles geht. Wonderwoman.

Nötigenfalls hätte sie das Kind zum Nachwuchsstipendiaten bestimmt, zum Wunderkind, an ihrem Kinn führte kein Weg vorbei.

Im ersten Jahr war sie völlig überhitzt. In den Folgejahren lernte sie dazu. Setzte durch, dass die beiden Zeitfenster der Stipendien nicht mehr auf Sommer und Winter gelegt wurden, sondern auf Frühling und Herbst. Setzte durch, dass Frauen auch ihre Kinder mitbringen konnten, wenn nötig organisierte sie eine lokale Nanny. Setzte durch, dass sie mehr Zeit für die Auswahl der Gruppenmitglieder zur Verfügung bekam, um Schnellschüsse auf Kosten Einzelner zu vermeiden.

Drei Monate pro Stipendiengruppe. Je sechs bis acht Künstlerinnen und Künstler verschiedener Disziplinen und Herkunft, unterschiedlichen Ausbildungsstands und Alters. Wichtig war allein, dass sie eine gemeinsame Sprache zur Verfügung hatten. In dieser ersten Runde Deutsch. Nun ja, Radebrech im Fall von Magnus.

Aber der hatte für seine kleine Verschwörung mit Chloé ohnehin eine Zeichensprache erfunden. Sie war sich allerdings nicht sicher, wie viel tatsächlich gelaufen war zwischen der zarten rothaarigen Thriller-Autorin und dem schweren, schwermütigen Magnus. Magnus mit seinem Fäustel und Knüpfel, seiner Raspel und der Feile und dem Geruch nach Steinstaub, der ihm überallhin folgte, selbst mit frisch gewaschenem Haar.

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