Kapitulation

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Sie nickt dem Sicherheitsbeamten zu, als sie ihre Sachen einsammeln und eintreten darf.

Christians Arzt hat ihn für weitere sechs Monate krankgeschrieben, der CEO müsse halt noch einmal länger auf seine Dienste warten, ein Burn-out ließe sich nicht einfach so wegschubsen. Ein englisches Wort, das ihr nichts sagt. Wie sie hier andauernd englische Pseudobegriffe neu zu definieren lernt: Megaperls, Handy, Showmaster.

Yvonne befindet sich allein im Glaslift. Sie reibt die Handflächen aneinander; wenn sie unruhig ist, bekommt sie schnell klamme Hände. Sie dreht den Kopf in einer langsamen Bewegung von links nach rechts und von rechts nach links, saugt die Lippen ein, befeuchtet sie und legt sie wieder ordentlich aufeinander. Bereit.

Im schmalen Gang, der die Abteilung des Human Resource Managements mit dem Sektor der verschiedenen Stabsstellen verbindet, wo sich auch das Büro von Ann-Solveig Lüthy befindet, ihrer ersten Kundin, schiebt sie sich seitlich an einer Gruppe junger Betriebswirtschaftler vorbei. Ihre Brüste geraten ihr in den Weg. Ihr Hintern. Sie weiß es, nicht nur mit ihren Taschen, auch mit ihrer Figur passt sie nicht hierher.

Als sie, entnervt und entschlossen zugleich, an die Tür von Ann-Solveig klopft, Chief Ethics & Compliance Officer steht in goldenen Lettern auf einer eingeschobenen Kunststoffplakette, richtet Yvonne den Rucksack und wartet geduldig auf das Herein!, Come in!, auf das Ja! oder auf das: Endlich, du bist mein Engel heute!

Und als Yvonne über die Schwelle tritt, lässt sie alle Bilder zurück, alle Gedanken, alle Erinnerungen, die zwanghaft durch sie hindurchpulsieren, als hätte sie sie parenteral verabreicht bekommen – den Abdruck des Blutflecks, den der am Boden liegende Zak auf ihrer Iris hinterließ, die verzerrten Gesichter ihrer beiden großen Jungs, die auf sie zustürmten, Christians Hand in ihrem Haar, es tut weh, for better, for worse, und auch die Sonne, die über allem stand.

Wenn mich in den nächsten zehn Minuten keiner anspricht, dann nehme ich den wasserfesten Stift mit in die Ausstellung.

Aina schlendert betont langsam durch die Empfangshalle des Kunsthauses, nickt zur einen Seite hin, wo mit ihrer digitalen Kamera die Content-Managerin steht, die die verschiedenen Social-Media-Kanäle befüllt, und geht dann an der Kassiererin vorbei in den Bereich, der für die Angestellten reserviert ist. Sie betätigt den altertümlichen Lichtschalter. Die nackte Birne, die von der Decke baumelt, seit Aina die Neonröhre bei ihrem Versuch, das Flackern zu beenden, kaputt gemacht hat, erinnert sie unerwartet an das Haus des Ortsvorstehers in Saissan.

Vor sechs Jahren war sie zu ihrem dreißigsten Geburtstag zum ersten Mal nach Kasachstan gereist, in die Heimat ihres Vaters. Aber Almaty hatte sie verwirrt. Und Nur-Sultan, das da noch Astana hieß, hatte sie erschlagen. Nur mit Erdbeeren konnte sie sich beruhigen, das Knacken der Nüsschen, die sie mit der Zungenspitze aus dem Fruchtfleisch saugte, mäßigte das, was sie für Panik hielt. Ein Kulturschock, die Nüsschen der Erdbeeren und die Weite des Landes, aber auch dort noch hatte sie immerzu das eine gedacht: Brüssel, ich will zurück nach Brüssel! In Brüssel war ihr das Chaos vertraut.

Und dann, nach ihrer letzten Kasachstanreise, hatte ihre Mutter Aina diese Stelle im Kunsthaus Zürich vorgeschlagen: So sind wir wieder beisammen, hatte sie zu ihr gesagt und Aina am Flughafen die damals schwarzen Haare aus dem Gesicht gestrichen, vorsichtig, zart. Eine Berührung, bei der Aina jedes Mal schmilzt.

Und weil sie sich fühlte wie ein eingefrorener Felsrutsch, ließ Aina ihre Brüsseler Mission fahren, ließ die kasachische Mission fahren und kam zurück dorthin, wo ihr eine zarte Hand verlässlich über die Wangen streicht. Die Unruhe unter dem Frost aber blieb.

Kürzlich, am Ende ihrer Probezeit als Museumsaufsichtsperson, hat sie sich die Farbpigmente aus den Haaren oxidieren lassen. Aus schwarz wurde weißblond, nur die Augenbrauenlinie verrät sie, der feine Flaum. Das hatte sieben der achtzehn Angestellten, denen sie an jenem Tag begegnet war, zu Kommentaren angestachelt. Der neunzehnte, ihr Chef, hatte sich seinen Kommentar still gedacht.

Aina lacht heiser, als sie die Spindtür mit einem Knall gegen die Wand aufreißt, aber lauter als dieser Knall knallt ihr Zorn.

Ein einziges Mal hat sich ihr Chef zu einer ihrer Aktionen geäußert, und dazu hatte er sie in sein Büro bestellt. Das erste und einzige Mal überhaupt, dass sie in sein Hochheiligtum vordringen durfte, nachdem er sie elf Minuten vor der Tür hatte warten lassen, war an dem Tag, als sie mit Kopftuch ihren Dienst antrat. Die Moralpredigt, die zwischen seinen schmalen Lippen herausgiftete, war etwas vom Schlimmsten, das Aina je erlebt hat. Ihre Fußsohlen surrten unter ihrem Körper, ihr Hals verengte sich, und sie vibrierte bis in die Haarwurzeln hinein. Nie würde sie vergessen, wie ihr Chef seine Fingerkuppen gegeneinanderpresste, nur um sie bei jedem Punkt, den er konstatierte, zwei mutige Zentimeter auseinanderschnellen zu lassen, eine perfide Geste, eine Geste unterdrückter Gewalt.

Aina kennt sich – einen Job muss sie spätestens dann hinschmeißen, wenn sie ihre Vorgesetzten nicht mehr ernst nehmen kann. Aber diesen Job braucht sie, es ist der letzte in einer langen Reihe.

Diesen muss ich behalten. Spätestens jetzt muss ich erwachsen werden, ich habe allen Grund dazu.

Damals hat sie unter ihrem Kopftuch schräg zur Seite geguckt, was der Chef als Schuldbekenntnis deuten konnte, und störrisch Staubmäuse gezählt, die unter seinem Sideboard hervorlugten. Jede einzelne ein Triumph.

Aina atmet scharf aus. Auch wenn es offiziell keine Arbeitsuniform zu tragen gibt, fühlt sie sich in der langen marinefarbenen Hose, die man ihr nahegelegt hat, der Bluse und dem Jäckchen kostümiert. Geduldig verschmiert sie mit dem weichen Teil der Faust die rauchgraue Farbe um ihre Augen, tupft Lipgloss mit Erdbeergeschmack auf und schlüpft in die Pumps, aus denen ihr die Fersen rutschen. Die hat sie von ihrer Mutter ausgeliehen, gesagt, es gehe schon: Mit Einlagen geht es. Warum sie das behauptet hat, weiß sie nicht. Oder vielleicht doch, so kann sie sich einbilden, erwachsen zu sein.

Prompt kommt das Kind in ihr hervor, als Aina einen Blick über die Schulter zum Wecker wirft, den einer ihrer Kollegen auf der Verschalung platziert hat. Diese Verschalung reizt sie. Vierzig auf vierzig Zentimeter ragt sie aus der Wand und verbirgt das Dahinter vor ihr. Sie zwingt ihren Blick zurück zum Wecker und weg von der Verschalung. Fünf Viertelstunden zu spät.

Wo nur habe ich heute Morgen all die Zeit verloren? Ein Kapitalverbrechen, hierzulande ein Weltuntergang, denkt Aina.

Kurz bevor sie das Licht löscht, kratzt sie mit dem abgesplitterten Daumennagel doch noch am Spalt der Verschalung, den sie seit ihrem Stellenantritt heimlich malträtiert. Es ist wie der kindliche Zählzwang, dem sie jahrelang unterlag, Bodenplatten, Stäbe eines Gartenzauns. Sekunden zwischen Blitz und Donner. Zu gern hätte sie einen Blick auf diese geheimnisvolle Uhr geworfen, die unter Denkmalschutz steht und deshalb im Auftrag des Chefs von einem Schreiner eingesargt worden ist.

Den wasserfesten Stift packt sie in die Jäckchentasche, die zehn Minuten sind ohne fremde Ansprache verstrichen.

Na dann: Stift kommt mit.

Kirsty, sagt Graham.

Graham, sagt Kirsty, komm doch herein, und öffnet ihm die Tür ganz. Was für ein Wetter.

Ein Wetter, in der Tat, das ist es. Graham schüttelt seinen Haarschopf. Entschuldige bitte, Kirsty.

Macht nichts, ich bringe dir ein Handtuch.

Sie ist schlanker geworden, richtig dünn, wird er denken, denkt Kirsty. Sie trägt ihren neuen Tartanrock, den sie nach den Farben ihres Clans hat anfertigen lassen, und sie ist stolz darauf, Graham zu zeigen, dass sie sich nicht hat gehen lassen. Der Rock ist in einer gewagten Schräge geschneidert, mit einer frechen Diagonale da, wo die Schichten übereinanderliegen.

Als sie ihm das Handtuch bringt, hat er sich bereits in der Küche eine Tasse Tee eingeschenkt. Der Regulator auf der Anrichte ist stumm. Das Pendel reglos, die Zeiger eingefroren. Sie legt das Tuch wortlos, aber mit einer sanften Geste vor ihn hin.

Fühlst du dich bereit?, fragt Graham und setzt die Tasse ab, ohne den Blick von seiner Ex-Frau zu nehmen.

So bereit, wie man sein kann, sagt sie und schaut die Blümchen auf seiner Tasse an, dann ihn.

Seine Lachfältchen vertiefen sich. Und du weißt noch immer nicht, ob du tatsächlich etwas gewinnst?, fragt er.

Eh, macht sie und spürt, wie ihre Wangen zu glühen beginnen. Dann seufzt sie: Wir sind insgesamt fünf, die nominiert sind. Und es gibt nur einen Preis.

Kennst du die Projekte der anderen?

Aber ich habe dir doch den Link geschickt, Graham, oder nicht? Sie steht wieder auf, weiß nicht, wohin, setzt sich auf die Stuhlkante. Entschuldige, es ist die Anspannung. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Preis … Ich meine, ich bin noch nie für irgendetwas nominiert worden.

Graham macht mit seinen Kiefern eine malmende Bewegung, es sieht so aus, als würde er auf etwas herumkauen.

Nun, nun, was rede ich da. Ich bin vierundfünfzig Jahre alt geworden ohne Preis, ich werde nicht daran zugrunde gehen, wenn ich jetzt keinen bekomme.

Du hättest ihn auf alle Fälle verdient, Kirsty. Deine Arbeit ist bemerkenswert.

Eh eh, als Archivarin bin ich es gewohnt, in alten Schriften zu forschen.

Das meine ich nicht, Kirsty. Die Rekonstruktion des Lebenswegs deiner Großmutter ist offenbar auch ein bedeutsamer Beitrag zum europäischen Kulturerbe.

Eh, macht sie, was soll denn das sein, Graham? Hörst du dich selber reden? Aber sie lacht zwischen den Satzteilen, sie schmunzelt, zwinkert ihm zu. Shortbread? Mit Ingwer. Wie du es … immer mochtest.

 

Dankend langt er zu. Seine Hand bedeckt den Tonteller, so groß ist sie. Kirsty kennt jede Ader, die sich unter dieser Haut erhebt. Sie strengt sich an, sie nicht zu kennen. Auf der Anrichte liegt das Päckchen Papiere, das von einem Gummiband zusammengehalten wird. Ihr Pass, ausgedruckte Flugtickets und Bahnverbindungen, ein Zürcher Stadtplan, ein Brief auf sahnigem Papier.

Sie schnappt sich das Päckchen und zieht einen Notizzettel daraus hervor, hält ihn Graham hin: Die Adresse, wo du mich in der Schweiz erreichen kannst. Für alle Fälle.

Er nimmt den Zettel und steckt ihn ein. Wann fährst du los? Bis Edinburgh bei diesem Wetter, also ich weiß nicht, Kirsty, ob du nicht doch lieber …

Graham.

Er stockt. Kaut. Wendet den Blick ab.

Graham, ich fahre ganz gemütlich mit dem Auto. Das gibt mir Gelegenheit nachzudenken. Mich einzustimmen, vorzubereiten auf das ganze Tamtam.

Ausgerechnet Edinburgh.

Ich weiß.

So ein Preis passt gar nicht zu der Stadt.

Ich weiß.

Glasgow –

Ich weiß, Graham. Aber es ist nun einmal Edinburgh, das den Preis auslobt.

Ausgezeichnet, sagt er, dein Shortbread. Wirklich bemerkenswert.

Aye, macht sie. Und danach fliege ich zu diesem Wiedersehen mit den Krk-Stipendiaten in die Schweiz. Es ist genügend zu essen für dich da. In der Speisekammer findest du die Gläser mit dem Eingemachten, und das Futter für die Pferde ist –

Ich weiß, Kirsty. Du wirst für alles und alle gesorgt haben. Wie immer.

Der Regulator auf der Anrichte ist weiterhin stumm.

Was ist mit deinen Haaren los?

Dir auch einen schönen guten Morgen, Hyeong-seok.

Sie ignoriert seine beiden zur Begrüßung ausgestreckten Arme und geht an ihm vorbei in sein Büro. Um über ihre Haare zu reden, ist sie jedenfalls nicht hergekommen.

Chloé! Komm herein! Setz dich, nimm Platz! Was verschafft mir diese frühmorgendliche Ehre?

Park Hyeong-seok wirft einen schnellen Blick auf seine Chrono-Quartz und knackt mit den Halswirbeln, es hat etwas Geckenhaftes, etwas betont Amerikanisches. Oder das, was Park Hyeong-seok aus den amerikanischen Durchschnittsfilmen, die in Frankreichs ländlichen Multiplex-Kinos gezeigt werden, als betont amerikanisch herausliest.

Sie setzt sich.

Er starrt noch immer ihre Haare an. Seit acht Wochen färbt sie sie nicht mehr nach, und sie weiß, dass da ein weißer Strich sein muss, mitten auf ihrem Kopf, der immer breiter wird.

Mit kalkulierten Bewegungen lehnt sie sich in dem transparenten Kunststoffstuhl zurück, ihre Schenkel werden in dem unbequemen Polycarbonat bald feucht werden. Sie legt ein Bein über das andere. Der zarte Stoff ihres Multicolor-Kleids schwebt für einen Moment in der Luft.

Diese Stühle. Ein Trick des Koreaners. Keiner soll es sich bei ihm zu lange bequem machen. Sein eigener Sessel, aus Holz und Kissen und Samt, im Rot der Könige gehalten und in Gold, thront hinter dem gläsernen Tisch, vor dem die beiden Besucherstühle stehen, und lässt keine Frage offen.

Er hat es ihr sogar einmal erzählt. Er hat ihr gesagt: Bei wichtigen Besprechungen, Chloé, musst du darauf achten, dass immer du im bequemen Stuhl sitzt. Dann hat dein Gegner weniger Ausdauer, sein Sitzleder ist rascher aufgebraucht als deines, glaub mir. So machen es die Amerikaner, genau so!

Bah. Seine Tricks.

Für seine Tricks und Kniffe ist er in der Branche bekannt, genauso wie für seinen unbekümmerten Umgang mit Redewendungen. Aber noch mehr für sein solides Netzwerk, unübertroffene Kontakte, wie er beteuert, ein Netz, das Chloé jedes Mal an ihre kindliche Vorstellung erinnert, mit der sie sich die transatlantischen Kabel zu ihren Brüdern vorgestellt hatte, als man diese in ein Eliteinternat nach Amerika verfrachtet hatte.

Das Bild dieser Kabel, unentwirrbar und unter Sedimenten, hat sie dann auch zum wiederkehrenden Motiv ihres ersten Romans gemacht. Ein fest verknüpftes Netz von Strängen, Seilen und Drähten, das sich über den weiten Meeresgrund und um die Protagonisten legte. Als ihr Erstling vor vierunddreißig Jahren erschien, galt sie als Fräuleinwunder der französischen Literatur. Mit sechzehn – und mit naturrotem Haar. Park Hyeong-seok hatte keine drei Minuten gebraucht, um ihre private Nummer ausfindig zu machen, und ihre Eltern in deren Sommerresidenz am Genfersee angerufen.

Jetzt scheint sein Blick etwas zu suchen. Die zusammengekniffenen Mundwinkel zeigen nach unten. Dann beißt er sich auf die Lippen und macht ein fröhliches Gesicht: Also?

Also, die Absatzzahlen, Hyeong-seok. Wie haben wir verkauft? Auch Chloé lässt die Schneidezähne in die Unterlippe einsinken. Ihre roten, glatten Haare fallen ihr ins Gesicht, aber sie hebt nur die Augenlider, um Blickkontakt zu halten, blickt wie durch einen Vorhang aus rotem Glas: Wir haben schlecht verkauft, nicht?

Yesss, sagt er und wischt mit seinen Händen durch unsichtbare Papiere auf der makellos papierfreien Tischoberfläche.

Wie kann ein Literaturagent in einem papierlosen Büro funktionieren? Warum glaube ich ihm das schon so lange?

Dann hört sie die schleifende Stimme ihres Agenten, als er fortfährt: Die Absatzzahlen, yesss, die liegen noch bei uns auf dem Tisch.

Wer uns ist, hat Chloé nie erfahren. Und wo bei diesem Uns ein Tisch stehen soll, der tatsächlich mit Papieren beladen ist, nie herausgekriegt. Sie stellt sich einen Nebenraum vor, einen fensterlosen, in den man nur durch eine versteckte Tapetentür gelangt. An dessen Decke stellt sie sich einen Ventilator vor, der surrt, und unten, in der Raummitte, einen alten Holztisch. Der Lack ist abgesplittert, der Tisch wacklig, und unter dessen eines Bein hat jemand, irgendeine Praktikantin, einen Bierdeckelausriss gelegt. Sie stellt sich also einen Tisch vor, der unter der Last von Stapeln, Haufen, Stößen in die Knie geht. Und eine junge Frau, die ihn stützt.

Aber yesss, wir haben schlecht verkauft. Sehr schlecht.

Von wie schlecht sprechen wir, Hyeong-seok? Zweihundert? Vierhundert Bücher? Sechs?

Oh, nein, nein, nein, nein, nein! Es mögen achthundert sein, tausend, zweitausend, wer weiß? Er stützt die Hände auf die Tischplatte, lehnt sich vor, als müsste er Chloé ein Geheimnis verraten: Käffchen?

Danke. Ich habe gefrühstückt.

Park Hyeong-seok legt zweifelnd den Kopf schief, versucht, etwas an ihrem Äußeren zu begreifen, ein Bild, das sich verschoben hat. Er kneift die Augen zusammen im Versuch, einen alten mit einem neuen Eindruck zu synchronisieren: Du siehst – Chloé zieht geräuschvoll Luft ein – nicht besonders gut aus.

Dann springt er auf, ist neben ihr, tätschelt ihr den Arm, aber sie weiß, er steht da und schaut von oben auf ihren Kopf. Sie hat keine Lust, über ihre Entscheidung zu sprechen. Weil sie stoisch dorthin blickt, wo ihr Agent noch immer sitzen sollte, gibt er schließlich klein bei und nimmt wieder in seinem Sessel Platz.

Es ist nicht leicht, Chloé.

Ich weiß.

Es ist nicht leicht, und ich habe mir alle Hände voll für dich ausgerissen.

Ich weiß.

Und dann haben wir doch diesen kleinen, feinen Verlag für dich gefunden.

Für mein letztes Buch, nicht für mich.

Ist das ein Unterschied?

Chloé atmet geräuschvoll aus. Das entspannt ihren Kiefer, mit dem sie die Nacht hindurch gemahlen hat. Sie sollte dringend die Beißschiene tragen. Noch eine Zahnarztrechnung in der Höhe verkraftet ihr Budget nicht.

Ich sage dir doch immer, dass das keiner ist, Chloé. Und ich habe getan, was ich konnte! Aber jetzt kommen die jungen Mädels auf den Markt.

Ich freue mich mit ihnen.

Gut, gut, gut, er reibt sich die Hände, es ist eine Freude, aber nicht nur, es bedeutet auch viel Zusatzaufwand. Und der Platz in den Feuilletons wird eng und enger.

Wirklich, Hyeong-seok? Damit erklärst du mir, weshalb niemand meine Romane rezensiert? Keinen einzigen mehr? Nicht ein Wort?

Er macht ein Gesicht wie jemand, der einen süßen Welpen durch ein Schaufenster betrachtet, aber bedauerlicherweise weitergehen muss.

Hyeong-seok?

Yesss, Chloé.

Hyeong-seok, ich schäme mich.

Scham ist völlig unangebracht, das weißt du.

Ich schäme mich, Hyeong-seok. Weißt du, was mir meine alte Freundin Ewa Sauvigny gesagt hat?

Ewa? Die hat doch ihre Pariser Buchhandlung längst vor die Ratten gehen lassen.

Sie hat mir gesagt, mit fünfzig hören viele auf zu schreiben.

Ist das so?

Frauen, Hyeong-seok. Sie meinte damit, mit fünfzig hören viele Frauen auf zu schreiben. Was glaubst du, warum ist das so?

Well, wenn man keinen kürzlichen Bestseller gelandet hat, keines dieser jungen Mädels ist, die jetzt überall aus den Literaturinstituten herausstöckeln, wenn man kein Skandalthema bedient …

Nicht das schon wieder, Hyeong-seok.

Ich sag ja nur. Mit wichtigem Blick sucht ihr Agent seinen klinisch reinen Tisch in Erwartung einer Antwort ab. Einer Antwort, die seinem Vorschlag eher entspricht als ihre.

Nicht, Park. Wenn ich den Skandal in meiner Familie zum Thema machen würde, würde ich mich nicht nur vor den Leuten draußen schämen, sondern auch vor mir selbst.

Ich sag ja nur. Der Rat eines verdienten Literaturagenten, eines Agenten mit besten Beziehungen, der seit über vierzig Jahren im Geschäft ist, der –

Was? Was sagst du mir damit genau?

Die Geschichte deiner Brüder im Todestrakt könnte ich im Handumdrehen verkaufen. Teuer, für richtig, richtig Geld.

Ich habe dir mein letztes Manuskript vor zwei Monaten geschickt.

Yesss. Jetzt vielleicht doch? Käffchen?

Park Hyeong-seok bewegt sich auf seinem Stuhl und wirkt plötzlich viel zu klein für die breite Sitzfläche. Er hat wirklich sehr schmale Hüften. Dann dreht er sich mit einem theatralischen Seufzer um.

Chloé kann nicht sagen, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist, dass ihr Agent den Packen Papier mit zielsicherem Griff aus dem wuchtigen Schrankkorpus hinter sich zieht. Sie erschrickt ungewohnt, als er ihn auf den Tisch legt. Die achthundertzweiundsiebzig Seiten protzen wie ein Bollwerk zwischen ihm und ihr auf der freien Fläche.

Da ist viel Grips drin, sagt er, viel, viel Grips.

Hat sie sich selbst überschätzt? Sagt er ihr das? Ihre Schenkel kleben aufeinander, der Stoff ihres zu leichten Frühlingskleids klemmt zwischen ihren Pobacken. Sie wird sich das Kleid zurechtzupfen müssen, wenn sie nachher aufsteht. Wenn sie aufsteht und geht. Gegen die Abdrücke der Stuhlkante auf ihren Oberschenkeln kann sie nichts tun.

Es könnte sogar – sie zwingt sich, auszuatmen, bevor er weiterredet – ein Geniestreich sein.

Der Smoothie, den sie unterwegs in La Teste-de-Buch gekauft und noch am Stand in ihren Bambusbecher umgefüllt hat, kommt ihr in den Sinn. Hätte sie diesen nicht getrunken, wäre keine Fruchtsäure in ihrem Magen, könnte sie jetzt entspannt Ja zu einem Käffchen sagen, hielte sie längst eine Tasse Mokka in der Hand, an der sie sich festklammern könnte.

Sie fragt: Wenn?

Wenn du dir überlegen könntest, aus der weiblichen Hauptfigur eine männliche zu machen. Warte – warte! Hör mir zu!

Sie ist aufgestanden, eine halbe Bewegung nur. Auf das Gefuchtel seiner Hände hin setzt sie sich wieder. Nun klebt der feuchte Stoff an einer anderen Stelle.

Ein Roman dieses Umfangs würde mit einem männlichen Protagonisten ernster genommen.

Aber, setzt sie an, und in ihrem Mund ist alles klebrig, als würde die Beißschiene darin klemmen: Aber mit einer männlichen Hauptfigur lässt sich diese Geschichte doch gar nicht – sie sucht nach dem richtigen Wort – erzählen! Es sind doch die Frauen, die kontrolliert werden!

Die sich gegenseitig kontrollieren, Chloé, das war schon vor viertausend Jahren so. Jetzt tun sie es halt auf Instagram und Snapchat und mit Däumchen hoch, Däumchen runter, wie bei dieser grünen Europapolitikerin, dieser Elle irgendwas. Was ich sage, Chloé, ist: Soziale Kontrolle, die gibt es auch bei Männern. Anders halt. Man müsste … recherchieren. Aber dass du fleißig sein kannst, hast du ja bewiesen. Und wenn du partout keine Thriller mehr schreiben willst, dann schreib halt einen Briefroman – der ist von der Form her schon viel einfacher – oder dann etwas, das wenigstens zu einem Viertel in einer Buchhandlung spielt. Buchhandlung geht immer. Frag Ewa!

 

Aufmunternd legt er seine Hand auf die oberste Seite ihres unanständig dicken Manuskripts, das auf keiner einzigen Zeile in einer Buchhandlung spielt, und lässt sie dort liegen. Ein Claim, der neu abgesteckt wird.

Er sagt: Stichwort Mann – wie geht’s Vitus?

Aber er fragt einen Fleck an der Wand, einen Geist oder auch nur die übermäßig große, übermäßig laute Lähmung, die hinter Chloé steht und ihn von da anstarrt.

Hat er seine Traumrolle bekommen, dein junger Beau?

Chloé gibt ihren Kopf einem Nicken hin, das bedächtig kommt und etwas anderes aussagt. Dann sagt es auch ihr Mund: Sind das meine Optionen? Sex and Crime über meine Halbbrüder in Texas, ein Brief-, Buchhandlungsoder Männerroman?

Er sagt: Pitch – Buchhändlerin verliebt sich in todgeweihten Schwerstverbrecher.

Bist du von allen guten Geistern verlassen?

Seine Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. Bevor er aufsteht, schaut er noch einmal bedeutungsschwer auf den Packen, dann geht er um den Tisch, bleibt kurz neben seinem Schützling stehen und macht schließlich einen Schritt zur Tür. Die eine Hand schiebt er sich in die Tasche seiner hellen, schmal geschnittenen Hose, die andere baumelt in der Luft, eine pseudoamerikanische Geste. Er wartet darauf, dass Chloé ihre Nestelei an ihrem Kleid abschließt.

Oder dann halt Unterhaltungsbereich. I don’t care, ich kann dich nicht verkaufen, wenn du die Frauenliteraturecke anpeilst.

Chloé hat ihren Agenten eingeholt und streckt ihm die Hand entgegen. Es ist selten, dass ein Mann genauso klein ist wie sie, so zierlich, so schmalhüftig, das hat sie immer wieder mit ihm ausgesöhnt.

Der Markt ist für Frauen deines Alters schwierig zurzeit, da hat Ewa Sauvigny nicht unrecht. Denk darüber nach. Er drückt ihr rasch die Hand.

Chloé hebt die Augenbrauen. Es soll lustig aussehen, locker, trotz allem. Sie weiß nicht, wie lange sie zurückhalten kann, was dahinter anstürmt. Sie traut sich nicht, noch einmal nach den Verkaufszahlen zu fragen, weswegen sie eigentlich hergekommen ist.

Als sie ihren Blick von ihm lässt, holt ihr Agent vernehmlich Luft und senkt die Lider: Hmm, Frühling. Und? Noch was Schönes vor heute, ma petite? Geht’s nach Bordeaux? Friseur vielleicht?

Zürich.

Zürich? Das liegt aber in der Schweiz.

Chloé schwenkt einen Brief durch die Luft, als wäre es ein Gehaltsscheck. Papier in der Farbe von Sahne.

Je sais.

Himmelherrgottsakrament, schimpft Adrienne, als sie den Gemeinschaftsraum verlässt und vor der Tür für einen kurzen Moment nicht weiß, wohin sie sich wenden soll. Sie kramt nach ihrem Smartphone, über ihr ein flatterndes Rauschen. Gopf!

Yvonne trocknet der Chief Ethics & Compliance Officer mit einem duftenden Frottiertüchlein die Stirn.

Diese dreht sich in ihrem Stuhl eine halbe Bewegung zu ihr um und öffnet versonnen die Augenlider, als sie über ihre Schulter zu Yvonne sagt: Du massierst wunderbar. Darf ich dich etwas fragen?

Yvonne zögert. Fragen, die mit Fragen eingeleitet werden, die um Erlaubnis bitten, sind ihr suspekt. Darüber hinaus zählt sie in ihrem Kopf gerade die Knochennamen des Hirnschädels durch, Os occipitale, Os sphenoidale, Os temporale, gestapelte Begriffe, die sie an der nächsten Zwischenprüfung zur Craniosacraltherapeutin kennen muss.

Was willst du mich fragen?

Als Julian endlich rangeht, hat sich Adrienne eine Zigarette angesteckt: Die haben die Studios anderweitig vergeben!

Was? Wer hat was?

Julian, gopf!, Adrienne bricht in wütende Tränen aus. Sie stampft mit dem Fuß auf den Verbundsteinen auf, zwischen denen Gänseblümchen, Gras, Wildkamille sprießen. Sie muss aufpassen, sie will nicht aus Versehen mit einem der hohen Absätze in der Erde stecken bleiben.

Wieder huscht ein schneller Schatten über die Fläche.

Du fluchst?, frotzelt ihr Mann. So schlimm ist es?

Gopf, ja!

Wie nennt man dich eigentlich? Weil, ich meine, du bist ja doch nur … also nicht ganz –

Yvonne schiebt den Kopf in den Nacken: Na, Yvonne, man nennt mich Yvonne?, sagt sie und findet, dass ihre Antwort selbst wie eine faule Frage klingt.

Nein, das ist nicht, was ich meine. Also, ähäm – das Räuspern der anderen versetzt Yvonne einen Stich, es ist, als ob sie etwas nicht begriffe, was der übrigen Welt längst klar ist –, ähm, ist ja egal. Jedenfalls: Du kannst sicher gut Curry? Ich bin da nämlich auf der Suche nach einem echt scharfen Curry-Rezept.

Adrienne, reiß dich zusammen. Du findest schon eine Lösung. Du findest immer eine, Wonderwoman. Aber jetzt: Warst du schon online? Die machen diese Elle ganz schön fertig.

Adrienne hat keine Ahnung, wann sie hätte online gehen sollen, um sich darüber zu informieren, wie irgendwelche Trolle eine bloggende Jungpolitikerin der Grünen im Europaparlament fertigmachen, was Julian offenbar der Rede werthält. Irgendwo in ihrem Hinterkopf sammeln sich die Attribute: jüngste Europaparlamentarierin aller Zeiten … Tochter von … soundso viele Follower …, aber sie hat keinen Nerv, sie hört nur das eine, das ihr einen Stich versetzt: Wonderwoman.

Yvonne könnte nicht einmal unter Abfrage all ihrer in sechsundvierzig Lebensjahren angelegten Nervenbahnen, all ihrer Gehirnzellen, Dendriten und Synapsen sagen, wann sie das letzte Mal Curry gekocht hat, geschweige denn ein echt scharfes. Mit drei Kindern, das jüngste elf Monate alt, hätte sie sich die Mühe umsonst gemacht. Von denen isst keines scharf.

Da muss ich leider passen.

Indem sie die letzte ihrer Taschen schultert, zeigt Yvonne höflich an, dass eine weitere Kundin auf ihre zwanzig, dreißig oder vierzig Minuten Massage wartet und sie hier fertig ist.

Das Lächeln der Chief Ethics & Compliance Officer ist eine Mischung aus Entschuldigung und Anklage zugleich. Eine Chief Ethics & Compliance Officer ist es nicht gewohnt, abgespeist zu werden, schon klar.

Auf der Toilette schaufelt sich Yvonne Wasser ins Gesicht. Sie rückt sich die Bluse zurecht, steckt eine Strähne ins Tuch, das ihr die Haare aus dem Gesicht halten soll. Vom Flur hört sie Schritte nahen, und plötzlich sackt ihr doch der Boden weg. Mit all ihren Taschen verdrückt sie sich in eine der Kabinen und hält den Atem an.

Ich hab dir übrigens auch den Link zur neuen Reportage von Quirin gemailt. Ganz toll! Über Putzsklaven! Das glaubst du nicht: Da gibt’s Menschen, die tatsächlich freiwillig bei anderen zu Hause ohne Lohn –

Hörst du mir eigentlich zu, Julian? Ich weiß grad überhaupt nicht, wie ich das bewältigen soll.

Adrienne wischt sich mit dem Handballen über den Augenwinkel, die Brille wackelt. Sie zieht die Nase hoch, ein Geräusch, das sich mit einem anderen, seltsamen Geräusch, einem Flattern vielleicht, vermengt.

Heulst du?

Ja, doch.

Wonderwoman heult?

Julian, sagt sie noch einmal, jetzt etwas leiser.

Aber, ARB, Liebes.

Sie drückt die Zigarette an der Hauswand aus und wühlt mit einer Hand in ihrer Tasche: Ich weiß einfach nicht, wo ich die jetzt alle unterbringen soll.

Wer hat sich denn zuerst eingetragen? Du oder die anderen?

Adrienne schnieft und überhört die Frage absichtlich: Die Tamilen feiern irgendein Fest. Die haben den Gemeinschaftsraum und die Studios.

Mittlerweile hat sie den portablen Mini-Aschenbecher hervorgeklaubt und versucht sich an dem Kunststück, ihn einhändig zu öffnen.

Ich will denen jetzt nicht dreinfunken, wir sind doch alle froh, dass die jetzt auch einmal –

Ja, aber wenn du zuerst da warst, ARB –

Jetzt hör mir doch zu! Ich brauche ganz schnell eine neue Unterbringungsmöglichkeit für mindestens drei, wenn nicht sogar vier Frauen!

Hast du die Kommunistin denn erreicht?

Nenn sie nicht so. Wer weiß, vielleicht hat man sie wieder in eines dieser Arbeitslager gesteckt.

Na ja, Arbeitslager im herkömmlichen Sinne gibt es ja keine mehr. Das sind heute Hotels, sagt Quirin, in die man die Abtrünnigen verfrachtet, wo sie Powerpoint-Präsentationen über die Größe des Reichs ansehen und sie rhythmisch beklatschen müssen. Aber: Du hättest deinen ehemaligen Stipendiaten vielleicht doch eher mailen sollen, ich weiß gar nicht, was dieser altertümliche Weg für einen Sinn haben sollte, Briefe schreibt heute doch keiner mehr. Liebes. ARB, hör doch –