Theologie des Alten Testaments

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Der im Erstlingsopfer der 10. Plage markierte Endpunkt ist vielschichtig. Einerseits lässt die Erzählung im Unklaren darüber, ob die Ägypter Israel des Landes verweisen (13,17; und es dann aber wieder bereuen und ihm nachjagen; 14,5 nicht-P) oder ob sich das Volk durch Flucht entzieht bzw. gewaltsam auszieht und Pharao wegen der von Gott vollzogenen Verstockung gar nicht zur Einsicht kommt (11,9 f.; 14,4 P). Andererseits lässt die bevorstehende Tötung der ägyptischen Erstgeburt Maßnahmen notwendig werden, um Israel zu bewahren. Diese Maßahmen erhalten durch die deutliche ritualsprachliche Einbettung und die Aufnahme in den Festkalender Israels eine theologische Note: Der Auszug aus Ägypten soll im Sederabend und Passafest alljährlich rituell begangen, das Rettungshandeln des Exodus darin vergegenwärtigt und in die kulturelle wie religiöse Erinnerungsgeschichte Israels eingetragen werden (Ex 12–13 [P und nicht-P]; Ex 12,25–27; 13,5–16 [post-Dtr]).

Fest der ungesäuerten Brote und Passa; s. u. 3.5.2.1

[12,24 Diese Anordnung sollt ihr beachten als ewige Ordnung für dich und deine Söhne.]

25 Und wenn ihr in das Land kommt, das der HERR euch geben wird, wie er gesagt hat, sollt ihr festhalten an diesem Brauch.

26 Und wenn eure Söhne zu euch sagen: Warum habt ihr diesen Brauch? –

27 dann sollt ihr sagen: Es ist ein Passaopfer für den HERRN. Er ist an den Häusern der Israeliten in Ägypten vorübergegangen (/ps „aussparen“), als er Ägypten schlug, unsere Häuser aber hat er verschont. Da verneigte sich das Volk und warf sich nieder.

[…]

13,5 Wenn dich der HERR in das Land der Kanaaniter und der Hetiter und der Amoriter und der Chiwwiter und der Jebusiter bringen wird, das dir zu geben er deinen Vorfahren geschworen hat, ein Land, wo Milch und Honig fliessen, so sollst du in diesem Monat diesen Brauch üben:

6 Sieben Tage sollst du ungesäuerte Brote essen, und am siebten Tag ist ein Fest für den HERRN.

7 Ungesäuerte Brote soll man während der sieben Tage essen, und es darf nichts Gesäuertes bei dir zu sehen sein, und kein Sauerteig darf in deinem ganzen Gebiet zu sehen sein.

8 Deinem Sohn aber sollst du es an jenem Tag erklären: Um dessen willen, was der HERR für mich getan hat, als ich auszog aus Ägypten.

9 Es soll dir ein Zeichen sein auf deiner Hand und ein Erinnerungszeichen zwischen deinen Augen, damit die Weisung des HERRN in deinem Mund sei, denn der HERR hat dich aus Ägypten geführt mit starker Hand.

10 So sollst du diese Ordnung halten, Jahr für Jahr, zur festgesetzten Zeit.

11 Und wenn dich der HERR in das Land der Kanaaniter bringen wird, wie er es dir und deinen Vorfahren geschworen hat, und wenn er es dir gibt,

12 sollst du alles, was den Mutterschoss durchbricht, dem HERRN darbringen. Von jedem ersten Wurf des Viehs, der dir zuteil wird, gehören die männlichen Tiere dem HERRN.

13 Jeden Erstling vom Esel aber sollst du mit einem Schaf auslösen. Willst du ihn jedoch nicht auslösen, brich ihm das Genick. Jede menschliche Erstgeburt unter deinen Söhnen musst du auslösen.

14 Und wenn dein Sohn dich künftig fragt: Warum das?, dann sollst du zu ihm sagen: Mit starker Hand hat uns der HERR aus Ägypten, aus einem Sklavenhaus, herausgeführt.

Der Überlieferungsprozess

Indem die Ritualanweisungen in die Ereigniserzählung integriert sind, wird die Bedeutung der Ereignisse für alle Generationen Israels deutlich hervorgehoben. Es liegt ein Beispiel narrativer Theologie vor, das das Gründungsereignis Israels, den Auszug aus Ägypten (Ex 13,17–14,31), in performativer Weise umsetzt und so für die zukünftigen Generationen erinnert. Die Erzählung des Gründungsereignisses hat sehr unterschiedliche Traditionen aufgenommen, die verschiedene Varianten eines Auszugs erkennen lassen30:

–So erfolgt der Auszug einerseits als Flucht (14,5a dtr; V. 8–10* P) und andererseits aufgrund einer Entlassung Pharaos, die er dann sogleich aber wieder bereut (nicht-P 12,31 f.; 14,5bf.). Die Entlassung lässt sich insofern mit dem Fluchtmotiv verbinden, als Pharao möglicherweise Israel nach der zehnten Plage für die erbetene Kultverrichtung in die Wüste ziehen lässt (12,31 ff. vgl. 3,18 f.), diesen Entschluss dann aber bereut, als Israel die Erlaubnis zur endgültigen Flucht nutzt.

–Ausgeführt wird das Wunderwerk der Meerspaltung einmal durch einen Boten JHWHs, einmal durch eine Wolken-(Feuer-)Säule (nicht-P) oder aber durch Mose mithilfe des Stabs, der schon im Zuge der Plagenerzählung zum Einsatz kam (P).

–Mal wird das Wasser zurückgedrängt (Ebbe-Flut), um Israel einen Fluchtweg zu ermöglichen (nicht-P), mal bildet sich inmitten des Meeres eine Mauer, die einen Spalt lässt, durch den die Israeliten ziehen können (P).

–Eine genaue Lokalisierung des „Meeres“ ist aufgrund der widersprüchlichen Ortsangaben nicht möglich. Je nach Tradition handelt es sich um die Küstenstraße und das Sirbonische Meeres, ein dem Mittelmeer vorgelagertes Brackwasserbecken (P), die im Lande Goschen gelegen Bitterseen oder den Golf von Suez (nicht-P). Die Sinaiperikope mit den vulkanischen Anklängen könnten topographisch auf den Golf von Elat hinweisen. Historische Rekonstruktionsversuche finden sich zuhauf, lassen sich aber nicht verifizieren.31

Die folgende Tabelle fasst die größten Unterschiede an Erzählmotiven nochmals zusammen:

Tab. 2: Die Erzählstränge in Ex 1432


P (Anschluss an Ex 12,40 f.[51]Nicht-P u. a. redaktionelle Ergänzungen
V. 21 f. Das Ausstrecken der Hand des Mose bewirkt die Spaltung des Wassers und ermöglicht den Durchzug der Israeliten.Ein starker Ostwind legt das Meer trocken.
V. 27 f. Das Ausstrecken der Hand des Mose gemäß JHWHs Befehl bewirkt den Rückfluss des Meeres, der die die Israeliten verfolgenden Ägypter einschließt.Die Rückkehr des Wassers provoziert die Flucht der Ägypter in das zurückkehrende Meer hinein.
Mose-JHWH-Stab;Bote Gottes (V. 19); Wolken- und Feuersäule (vgl. Num 9,15ff und Ex 40,36–38 als nach-P)
Pharaos Verhärtung und JHWH-Erkenntnis (14,4.18 vgl. 7,5 und 6,7 (Israel)); Typisches P-Vokabular (vgl. 1,9 und 7,11).
Tags Flucht; nachts LagerOhne Unterbrechung unterwegs

Eine Kurzfassung des Ereignisses der Rettung aus dem Meer findet sich als vielleicht älteste literarische Tradition im Miriamlied in Ex 15,1.21 bezeugt.

Ex 15,1.21

Und Mirjam sang ihnen vor:

Singt dem HERRN, denn hoch hat er sich erhoben,

Pferd und Reiter hat er ins Meer geschleudert.

Diese Erinnerung hat sich historisch vermutlich nicht auf Ganzisrael, sondern eine kleinere Gruppe oder einen kleineren Stammesverband bezogen, der diese Tradition in das allgemeine kulturelle Gedächtnis überführt hat. Im literarischen Gesamtkontext umschließt dieser Vers refrainhaft eine dritte Version der Meerwundererzählung, die das Ereignis in Ex 15 in Liedform überliefert.

Auffällig ist, dass die Gründungserzählung einige kultische Anweisungen integriert: Passa und Erstgeburt sind wichtige Themen, anhand derer der Auszug erinnert und rituell vergegenwärtigt wird. Die Anweisungen gelten künftigen Generationen und setzen im Passakult zuerst ein alljährliches Familienritual (12,3 f.), dann aber auch einen Kult im (perserzeitlichen) Tempel („Gemeinde“ in V. 6) voraus. Das hebräische Verb /pasa bezeichnet sowohl „hindurchschreiten (durch Ägypten)“ als auch „vorbeigehen/aussparen (Türen der Israeliten)“. Die Begründung lautet gemäß Ex 12,26 f.: „Und es soll sein, wenn euch eure Söhne sagen: ‚Was ist dieser Dienst euch?‘ So sollt ihr sagen: ‚Ein Passa-(Pesach)Schlachten ist das dem Herrn, der ausgespart (p-s-ch) hat die Häuser der Söhne in Ägypten als er Ägypten stieß und unsere Häuser rettete‘“.33 Passa ist demnach ein

„Gottesdienst (V. 25.26) der Familien, zu dem der Pharao die Familien freigeben sollte (4,23; 7,26; 8,16; 9,1.13; 10,3.7), […] ein uralter Nomadenbrauch, der in die Väterzeit zurückgeht [Weidewechsel], wenn er auch erst durch das einmalige Geschehen in Ägypten zu dem Passa wurde, das für Israel eine ‚Bewahrungsnacht‘ bedeutet.“34

Passa ist zudem ein „Übersprungsfest“, hervorgegangen aus einem nomadischen Übergangsritus, der den wirtschaftlich notwendigen Weidewechseln als apotropäischer (d. h. abwehrender) Ritus vorausging. Passa symbolisiert die Bewahrung im allgemeinen Sterben als Grunderfahrung Israels in der Geschichte mit Gott. Es liegt hiermit vermutlich eine Kultlegende vor:

„Das Fest ist von Jahwe eingesetzt aus Anlaß des von ihm bewirkten letzten Schlags gegen die Ägypter; er selbst hat damals die Erstgeburten an Menschen und Haustieren der Ägypter getötet, wodurch er auch über die Götter der Ägypter ‚Gericht gehalten hat‘, indem er deren Hilflosigkeit, ja geradezu deren Nichtexistenz erwiesen hat.“35

 

Die theologische Meisterleistung der Exoduserzählung Ex 1–15 besteht darin, dass durch den auffälligen Gattungsmix von verschiedenen Erzählformen, poetischen Elementen, Kult- und Rechtssprache ein sehr dichtes Textgefüge erreicht ist, dass eine Erzählung der mythischen Vergangenheit mit neuen historischen Bedingungen („Israel im Land mit einem Tempel“) verknüpft, die ihrerseits Interpretationsspielraum zulassen für zukünftige, wiederum ganz neue historische, gesellschaftliche und kulturelle Verhältnisse.

Exoduserinnerung

Für die Identitätsbildung des entstehenden Judentums in nachexilischer Zeit spielt die Exoduserinnerung eine herausragende Rolle. Untersucht man die Exodusnarration in dem Dreischritt von Historizität – Fiktionalität – Literarizität, wird deutlich, dass sie sich darin von anderer Literatur deutlich abhebt: Denn die Erzählung ist weder als geschlossene Fiktion verstanden, in die man hineintaucht, noch als historische Beschreibung, die der bloßen Archivierung von Fakten dient. Der Exodus ist als konsequenzenreich für die eigene Existenz beschrieben. J. Assmann bemüht hier den Begriff des Performativen:

„Performativ sind Texte oder Sprechakte, die eine Wirklichkeit her-stellen, indem sie sie dar-stellen. Die Wahrheit liegt in ihrer Befolgung oder Umsetzung. Die Exodus-Erzählung schreibt nicht Geschichte, sondern sie macht Geschichte.“36

Bereits die Exoduserzählung selbst hat performative Züge integriert, wenn eine einmalig verortete Handlung zum Anlass alljährlicher Wiederholung wird und operationell begangen die Geschichte mit Gott zelebriert (Ex 12–13). Auch über das Exodusbuch hinaus weist die hebräische Bibel eine Reihe dieser Exoduserinnerungen auf. So geht es in Dtn 26 um den Prozess einer späteren Vergegenwärtigung und Theologisierung der Heilsgeschichte im Kontext der alljährlichen Darbringung von Erstlingsfrüchten: Die rituelle Rahmung (Dtn 26,1–5a.10b–11) deutet den Segen der eingefahrenen Ernte als Frucht der Befreiung der Vorfahren aus Ägypten.37 Der Befreiungsakt ist in Form des sog. kleinen geschichtlichen Credos (Dtn 26,5–10a)38 resümiert, das die eminente Geltung des Erzählten für die nachfolgenden Generationen unterstreicht:

Dtn 26

5 Dann sollst du bekennen und vor dem HERRN, deinem Gott, sprechen: Ein verlorener Aramäer war mein Vater, und er zog hinab nach Ägypten und blieb dort als Fremder mit wenigen Leuten, und dort wurde er zu einer grossen, starken und zahlreichen Nation. 6 Die Ägypter aber behandelten uns schlecht und unterdrückten uns und auferlegten uns harte Arbeit. 7 Da schrien wir zum HERRN, dem Gott unserer Vorfahren, und der HERR hörte unser Schreien und sah unsere Unterdrückung, unsere Mühsal und unsere Bedrängnis. 8 Und der HERR führte uns heraus aus Ägypten mit starker Hand und ausgestrecktem Arm, mit grossen und furchterregenden Taten, mit Zeichen und Wundern, 9 und er brachte uns an diesen Ort und gab uns dieses Land, ein Land, in dem Milch und Honig fliessen. 10 Und nun sieh, ich bringe die erste Ernte von den Früchten des Bodens, den du, HERR, mir gegeben hast.

Dekalog s. u. 2.5.2.1

Ähnlichen Ritualbezug mit Rechtscharakter erhält der Auszug aus Ägypten im Dekalog (Dtn 5,12–15) im Bezug auf das Sabbatgebot sowie im Festkalender von Dtn 16 im Bezug auf das Wochenfest (Dtn 16,9–12). Auch der behutsame Umgang mit der Kreatur (inkl. Sklaven/Knechte in Dtn 5,14) und den Fremden wird abgeleitet aus der eigenen Fremdheitserfahrung in Ägypten (Ex 22,20; 23,9; Dtn 15,12–15). Die Exoduserfahrung dient explizit als befreiungstheologische Begründung für die von Gott für Israel eingesetzten Tora. Im Anschluss an das /Šema‘ Israel in Dtn 6,1–4 folgt die Aufforderung zur sichtbaren Repräsentation der Worte durch Arm- und Kopftefillim und Mezuzot an den Türpfosten (6,7). An diesen Gedanken knüpft die Musterkatechese39 in Dtn 6,20–25 an:

Dtn 6

20 Wenn dich morgen dein Sohn fragt: Was sind das für Verordnungen, Satzungen und Rechte, die euch der HERR, unser Gott, geboten hat?, 21 dann sollst du deinem Sohn sagen: Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten, der HERR aber führte uns mit starker Hand heraus aus Ägypten, 22 und der HERR tat vor unseren Augen grosse und unheilvolle Zeichen und Wunder an den Ägyptern, am Pharao und an seinem ganzen Haus, 23 uns aber führte er von dort heraus, um uns hierher zu bringen und uns das Land zu geben, wie er es unseren Vorfahren geschworen hatte. 24 Und der HERR gebot uns, nach allen diesen Satzungen zu handeln und den HERRN, unseren Gott, zu fürchten, damit es uns gut geht allezeit und er uns am Leben erhält, wie es heute der Fall ist. 25 Und Gerechtigkeit wird bei uns herrschen, wenn wir dieses ganze Gebot halten und danach handeln vor dem HERRN, unserem Gott, wie er es uns geboten hat.

Es handelt sich um ein geschicktes Zusammenspiel von erzählter Zeit (morgen fragt dich dein Sohn) und Zeit der Geschichte (Knechtschaft; Auszug; Landverheißung), das den hohen Wert der zu vermittelnden Lehre betont und der theologischen Voraussetzung folgt, dass Einsicht in JHWHs Handeln damals wie heute das seinen Weisungen entsprechende Handeln der Textadressaten zur Konsequenz hat, die von Generation zu Generation zu vermitteln sind. Die Pflicht zum Gedenken wird als eine kollektive Verpflichtung in körperlichen, baulichen, liturgischen und die eigene Lebensführung prägenden „Zeichen“ erfüllt. All die genannten Beispiele verdeutlichen, wie sehr die ägyptische Knechtschaft zum Zentrum des Selbst- und Gottesbild Israels geworden ist, das sich weiterhin in Geschichtsrückblicken wie sie sich in Ps 106,1–12; 136,10–16, oder auch in Jos 24,4–7 oder Jes 43,16–2140 finden, widerspiegelt.

Literatur

Albertz, Rainer: Exodus 1–18, Zürich 2012 (ZBK 2).

Assmann, Jan: Exodus. Die Revolution der alten Welt, München 2015.

Bauks, Michaela: Das Dämonische im Menschen. Einige Anmerkungen zur priesterschriftlichen Theologie (Ex 7–14), in: A. Lange/H. Lichtenberger (Hg.), Die Dämonen – Demons. Die Dämonologie der alttestamentlich-jüdischen und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt, Tübingen 2003, 83–97.

Gertz, Jan C.: Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung. Untersuchungen zur Endredaktion des Pentateuch, Göttingen 2000, 189–232.

–: Die Stellung des kleinen geschichtlichen Credos in der Redaktionsgeschichte von Deuteronomium und Pentateuch, in: R.G. Kratz/H. Spieckermann (Hg.), Liebe und Gebot (SF L. Perlitt), Göttingen 2000 (FRLANT 190), 30–45.

Janowski, Bernd: Theologie des Alten Testaments. Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven, in: Ders. (Hg.), Theologie und Exegese des Alten Testaments/der Hebräischen Bibel, Stuttgart 2005 (SBS 200), 87–124.

Krüger, Thomas: Erwägungen zur Redaktion der Meerwundererzählung (Ex 13,17–14,31), in: ZAW 108 (1996) 519–533.

Lacocque, André/Paul Ricœur: Penser la Bible, Paris 1998.

Levy, Thomas E./Schneider, Thomas/Propp, William H.C. (Hg.): Israel’s Exodus in Transdisciplinary Perspective. Text Archaeology, Culture, and Geo Science, Springer 2015, bes. 81–145.

Otto, Eckart: Deuteronomium 4,44–11,32 (HThKAT), Freiburg 2012.

Scharbert, Johannes: Exodus, Würzburg 22000 (NEB).

Schmid, Konrad: Gibt es Theologie im Alten Testament? Zum Theologiebegriff in der alttestamentlichen Wissenschaft, Zürich 2013 (ThSt 7).

Willi-Plein, Ina: Das Buch vom Auszug. 2. Mose, Neukirchen-Vluyn 1988.

2.2.2 Gott offenbart sich durch sein Rettungshandeln: die Figur des Mose

Die Exoduserzählung und Mose sind kaum zu trennen. Betrachtet man die Zeit der erzählten Ereignisse, ist Mose eine Figur der Frühgeschichte Israels. Nach dem Tempelbaubericht in 1Kön 6,1 soll der Auszug aus Ägypten durch Mose 480 Jahre vor dem Tempelbau stattgefunden haben. Mose soll laut Ex 7,7 zum Zeitpunkt des Auszugs selbst 80-jährig gewesen sein. Der Tempelbau wird ca. 950 v. Chr. angesetzt. Demnach hätte der Auszug der biblischen Berichterstattung nach ca. 1430 v. Chr. stattfinden müssen.

Historische Rekonstruktionen lassen die Ereignisse später datieren: Die dem Pharao Merenptah zugeschriebene Israelstele, in der Israel neben einigen palästinischen Stadtstaaten als Volksgruppe erstmals genannt ist (s. Abb. 2), ist in das Jahr 1208 datiert.


Abb. 2: In der Beschreibung einer Reihe unterworfener kanaanäischer Städte berichtet die Stele auch „Israel ist verwüstet. Es hat kein Saatgut.“41

Meerwundererzählung s. o. 2.2.1

Die in Ex 1,11 genannte Stadt Ramses (Pi-Ramesse = Qatir) ist unter seinem Vorgänger Ramses II. (1279–1213) als Hauptstadt errichtet worden.42 Dass diese chronologischen Angaben aber nur bedingt etwas über den historischen Ort bzw. die erzählende Zeit aussagen, zeigen die zahlreichen topographischen Widersprüche, die z. B. den Ort des Auszuggeschehens („welches Meer?“) im Unklaren lassen und deutliche Anachronismen erkennen lassen – so ist die in Ex 1,11 zweite genannte Stadt neben Ramses, tatsächlich eine Vorratsstadt, erst unter Pharao Necho im 7. Jh. v. Chr. gebaut worden. Das lässt den langen Zeitraum von mindestens 500 Jahren erkennen, die es brauchte, um den Gründungsmythos Israels in die uns heute vorliegende Fassung zu bringen.43 Jede dieser Phasen hat Hinweise auf die Zeit der jeweiligen Abfassung und ihre besonderen Umstände in den Text eingeschrieben. Somit ist auch Mose literarisch als eine Kompositfigur zu verstehen, um diesen Umständen Rechnung zu tragen.

Die hebräische Bibel stellt Mose als eine außergewöhnliche Person vor. Das zeigen sowohl die Geburtsgeschichte (Ex 2) wie auch die Umstände seines Todes (Dtn 34,1–6) an. Beide Passagen zeichnen ihn als herausragenden Menschen, der sich durch seine besondere Funktion als Vermittler zwischen Gott und Volk von den übrigen Menschen unterscheidet. Ihm kommt eine besondere Autorität zu, die letztlich dazu führte, ihm die Autorschaft der Tora/des Pentateuch zuzuweisen und die Sammlung als „Fünf Bücher Mose“ zu bezeichnen.

Die vorliegenden Erzählungen sind Legenden einer historisch nicht genau rekonstruierbaren, aber für die Gedächtnisgeschichte Israels äußerst relevanten Person. Mose deshalb zu einer rein literarischen und fiktiven Figur zu machen, wäre überzogen, zumal die Gestalt bei aller Widersprüchlichkeit durchaus historische Reminiszenzen erkennen lässt:

Historische Reminiszenzen der Mosefigur

–sein ägyptischer Name (äg. msj „Geborener des/geboren von N.N.“);

–seine „zweite“ Existenzform als eingeheirateter Midianiter, Schwiegersohn eines JHWH-Priesters; das steht in krassem Widerspruch zu der Beschreibung dieses Volks im 1. Jahrtausend als Erzfeind Israels (vgl. Ri 6–8 u. ö.);

–Einzelaktionen wie z. B. das Aufrichten der „ehernen Schlange“ (Nehuschtan; Num 21,4–9) durch ihn in der Wüste werden von Hiskia verpönt und im Zuge der Kultreinigung abgeschafft (2Kön 18,4), obwohl auch hier der Name Mose als Urheber durchaus noch bezeugt wird.

Diese Details sind als historische Reminiszenzen zu bewerten, da man sie in späterer Zeit kaum erfinden würde, um die sonst exemplarisch gezeichnete Figur nicht zu desavouieren. Da sie dennoch überliefert worden sind, ist von einem historischen Kern auszugehen. Erstaunlich ist, dass von der Figur des Mose außerhalb des Pentateuch selten die Rede ist, wie auch die Fortsetzungsgeschichte des Exodus, die Ereignisse am Sinai, weitgehend ausgespart bleiben. Eine Reihe von Bibelstellen verweisen indes auf das „Buch der Tora des Mose“ und unterstreichen darin seine Funktion als Übermittler des göttlichen Rechts (2 Kön 14,6; 23,25; Jos 8,23; 23,6; 2 Chr 23,18; Es 3,2; 6,18; 7,6; Neh 8,1 u. ö.; vgl. auch Röm 10,5 f.19).

 

Die Geburtsgeschichte

Die herausragende Stellung des Mose wird durch seine legendenhafte Geburtsgeschichte (Ex 2) hervorgehoben. Eingefasst in den Kontext des Tötungsbefehls Pharaos, der alle israelitischen Jungen betrifft (Ex 1,16.22; vgl. Mt 2,16 Kindermord in Bethlehem), wird der zukünftige Führer Israels auf wundersame Weise von einer nicht weiter benannten ägyptischen Königstochter gerettet und sogar in seine ursprüngliche Familie zurückgeführt. Diese Umstände zeichnen ihn als eine Person, die sowohl mit dem ägyptischen Hof als auch mit dem Volk Israel identifiziert wird.

Ex 2,1–10

1 Und ein Mann aus dem Hause Levi ging und nahm die Tochter Levis zur Frau.

2 Und die Frau wurde schwanger und gebar einen Sohn, und sie sah, dass er schön war. Da versteckte sie ihn drei Monate lang.

3 Länger aber konnte sie ihn nicht versteckt halten. Und sie nahm für ihn einen Korb aus Papyrus und verklebte ihn mit Asphalt und Pech. Und sie legte das Kind hinein und legte ihn ins Schilf am Ufer des Nil.

4 Seine Schwester aber blieb in einiger Entfernung stehen, um zu erfahren, was mit ihm geschehen würde.

5 Da kam die Tochter des Pharao herab, um sich am Nil zu waschen, während ihre Dienerinnen am Ufer des Nil auf und ab gingen. Und sie sah den Korb mitten im Schilf und schickte ihre Sklavin hin und liess ihn holen.

6 Und sie öffnete ihn und erblickte das Kind, und sieh, es war ein weinender Knabe. Da hatte sie Mitleid mit ihm und sagte: Das ist eines von den Kindern der Hebräer.

7 Seine Schwester aber sagte zur Tochter des Pharao: Soll ich gehen und dir eine hebräische Amme rufen, damit sie das Kind für dich stillt?

8 Und die Tochter des Pharao sprach zu ihr: Geh! Da ging die junge Frau und rief die Mutter des Kindes.

9 Und die Tochter des Pharao sprach zu ihr: Nimm dieses Kind mit dir und stille es für mich, und ich werde dir deinen Lohn geben. Da nahm die Frau das Kind und stillte es.

10 Und das Kind wuchs heran, und sie brachte es der Tochter des Pharao, und es wurde ihr Sohn. Und sie nannte es Mose und sprach: Ich habe ihn ja aus dem Wasser gezogen.

Dass diese Geburtsgeschichte wenig historisch ist, sondern zur literarisch häufig belegten Legendenbildung einer (politisch) bedeutsamen Persönlichkeit gehört (man denke z. B. an die Aufzucht des Begründers der Stadt Rom, Romulus und seines Bruders Remus, durch eine Wölfin), zeigt die inhaltlich wie formal sehr ähnliche Geburtslegende des mesopotamischen Herrschers Sargon von Akkad (2340–2284 v. Chr.).44

Geburtslegende des Sargon von Akkad

1 Scharrukin, der mächtige König, der König von Akkad, bin ich.

Meine Mutter war eine Priesterin (entum), meinen Vater kenne ich nicht.

Mein Vatersbruder bewohnt das Bergland.

Meine Stadt ist Azupiranu, die am Ufer des Euphrat liegt.

5 Es empfing mich meine Mutter, die Priesterin, im Verborgenen gebar sie mich.

Sie legte mich in einen Korb aus Rohr, mit Pech verschloß sie den

Deckel über mir.

Sie setzte mich in den Fluß, aus dem ich nicht heraufkommen sollte.

Es trug mich der Fluß, zu Akki, dem Wasserschöpfer, brachte er mich.

Akki, der Wasserschöpfer, holte mich beim Heraufkommen seines Schöpfeimers heraus.

10 Akki, der Wasserschöpfer, zog mich an Sohnes statt groß.

Akki, der Wasserschöpfer, setzte mich in sein Gärtneramt ein.

Wegen meines Gärtneramtes begann Ischtar, mich zu lieben, und so übte ich

[5]4 Jahre das Königtum aus.

Die schwarzköpfigen [Mensch]en beherrschte und [regierte] ich. […]

Vergleich

Der Vergleich der beiden Erzählungen ergibt folgende Parallelen45:

–Beide Figuren scheinen nichtehelicher Herkunft zu sein.46

–Beide werden (deshalb) von der Mutter ausgesetzt.

–Beide finden sich in einem Kasten im Schilf wieder, der mit Bitumen/Pech bestrichen ist und am Flussufer abgelegt ist.

–Beide werden durch Zufall gefunden und von Stiefeltern großgezogen.

–Beide erhalten als Erwachsene eine wichtige Mission in einem dezidiert theologisch motivierten Kontext. Sargon soll von seinen Untertanen geliebt werden wie die Göttin Ischtar ihn liebt. Mose wird mit einer ägyptischen Tradition verwoben (Ex 1,22; 2,5 ff.), um dann aber dem Gott der Israeliten als Führungsgestalt zu dienen.

Bund mit Gott s. u. 2.5.1.1

Die ursprünglich wohl aus dem 3. Jahrtausend stammende Legende des sagenumwobenen Königs Sargon von Akkad (ca. 2350 v. Chr.) erfuhr im 8. Jh. v. Chr. unter dem neuassyrischen König Sargon II. eine Renaissance. So wie die Sargonlegende Ischtars Liebe für Sargon unterstreicht und darin seine Vorbildfunktion für die Untertanen suggeriert, so unterstreicht die Moselegende die Liebe Gottes zu Mose und fordert implizit die Loyalität Israels für Gott (und das von ihm im weiteren Verlauf der Narration promulgierte Gesetz) ein. Allerdings erfolgt die Rezeption der alten Legende in subversiver Absicht, denn es geht nicht um einen König und dessen Herrschaftslegitimation, sondern um das Gottesvolk, das durch Moses Vermittlung Anteil an der göttlichen Erfahrung erhält. Ägypten ist hier verschlüsselt als mythische Gegenmacht gezeichnet, aus der Gott einst in grauer Vorzeit befreit hat, wie er auch aus der assyrischen Herrschaft, die Israel im 8./7. Jh. v. Chr. fest im Griff hat, befreien soll. Die Frühgeschichte erscheint hier als Prolepse der erlebten Geschichte. Dass Israel für die Darstellung des eigenen Geschichtsbildes mitunter auf neuassyrische Formulare, Motive und Konzepte im großen Stil zurückgreift, lässt sich auch im Zuge der Bundestheologie ausführlich dokumentieren.

Die Betonung der levitischen Herkunft des Mose zu Beginn der Geburtserzählung dürfte einer späteren Zuschreibung entstammen und nicht historisch sein. Die auf die Kindheitsgeschichte folgende (prophetische) Offenbarungs- und Berufungserzählung in Ex 3 wird narrativ mit der notwendig gewordenen Flucht in die Wüste erklärt, nachdem Mose einen Ägypter getötet hat. Hier „entdeckt“ Mose JHWH bzw. wird als der von JHWH Berufene eingeführt und in sein Amt eingesetzt.

Zwei Mosetraditionen

Offensichtlich haben wir es mit mindestens zwei verschiedenen Mosetraditionen im AT zu tun. Die erste zeichnet einen dem Tod geweihten Abkömmling Israels, der an den ägyptischen Hof kommt, einen ägyptisch anmutenden Namen trägt und höfische Erziehung und Kultur genießt. Er setzt sich schließlich für sein Volk ein und wird, ohne dass das Volk ihn ernst nähme oder danach verlangte, zu dessen von Gott berufenen Führer und Retter.

Die zweite Mosefigur ist nicht höfisch, sondern nomadisch gezeichnet, kennt sich aus im Leben der arabischen Wüste und gehört zu einer Priesterfamilie, die einen Gott namens JHWH verehrt, einen Väteroder Sippengott, wie er auch in den Erzelternerzählungen begegnet. Dieser Tradition nach ist Mose ein theologischer Führer und Lenker.

Beide Traditionen bilden die Charakteristika des biblischen Mosebildes, die in eine narrative Abfolge gebracht und durch Verwicklungen und Umwege aufeinander abgestimmt worden sind. Beide Traditionen werden um die Sinaitradition und die Murrgeschichten erweitert.

Das Leben des Mose findet ein ebenso denkwürdiges Ende, wie es begonnen hat (Dtn 34,1–7):

Tod des Mose Dtn 34

1 Und Mose stieg aus der Wüste von Moab auf den Berg Nebo, auf den Gipfel des Pisga gegenüber von Jericho. Und der HERR liess ihn das ganze Land sehen, von Gilead bis nach Dan,

2 ganz Naftali und das Land Efraims und Manasses und das ganze Land Judas bis an das westliche Meer,

3 den Negev und die Ebene des Jordan, die Talebene von Jericho, der Palmenstadt, bis nach Zoar.

4 Und der HERR sprach zu ihm: Dies ist das Land, von dem ich Abraham, Isaak und Jakob geschworen habe: Deinen Nachkommen will ich es geben. Ich habe es dich mit deinen Augen schauen lassen, aber du wirst nicht dort hinüberziehen.

5 Und Mose, der Diener des HERRN, starb dort im Land Moab nach dem Befehl des HERRN.

6 Und er begrub ihn im Tal, im Land Moab gegenüber von Bet-Peor, und bis heute kennt niemand sein Grab.

7 Mose aber war hundertzwanzig Jahre alt, als er starb, seine Augen waren nicht trübe geworden, und seine Frische hatte ihn nicht verlassen.

Rezeption des Mose in den anderen Teilen der Hebräischen Bibel

Da Mose und Aaron aufgrund des Zwischenfalls in Kadesch-Barnea, als Mose ohne explizite Aufforderung JHWHs aus einem Felsen Wasser sprudeln lässt, um das murrende Volk zu beruhigen, das verheißene Land nicht betreten dürfen und in der Ebene Moabs sterben (Num 20,12; Dtn 32,51), bleibt ihnen die Ankunft im verheißenen Land verwehrt. Die kurze Notiz vom Tod des Mose in Dtn 34,12 berichtet, dass er in Abgeschiedenheit starb und JHWH selbst ihm ein Grab schuf. Darin unterscheidet er sich von Gestalten wie Abraham und den übrigen Erzeltern, die allesamt in der Höhle von Machpela bestattet sind, mit dem erklärten Ziel, dort weiterhin erinnert zu werden (Gen 23 u. ö.). Stattdessen wird Mose gerade nicht mit einem Grab verbunden. Diese Anonymität erinnert an das Ableben anderer außergewöhnlicher Figuren, wie z. B. Elia, dessen Tod gar nicht berichtet ist, sondern der auf einem Feuerwagen in den Himmel fuhr und von Gott entrückt wurde (2 Kön 2,1–18). Auf beide Figuren ist in der Geschichte der Transfiguration Jesu auf dem Hermon Bezug genommen (Mk 9par.47), die Jesus als einen der großen Propheten neben Mose und Elia stellt, eine Zuordnung, die die Tora für Mose nur vage andeutet (vgl. Dtn 18,15.18; Num 12,6–8 (?); Dtn 34,10; vgl. Hos 12,14)48 und der Figur erst im Laufe der Rezeptionsgeschichte zugewiesen ist. Die Mosedarstellung in den Büchern Exodus und Numeri ist narrativ geprägt. Das Buch Deuteronomium präsentiert hingegen die Abschiedsrede des Mose vor seinem Tod (Dtn 1,1–5), die anfangs die Zeit des Auszugs, der Gesetzesgabe und des Wüstenaufenthalts kurz resümiert (1,6–3,29), um aber sogleich zu einer Reihe von Gesetzessammlungen und Vorschriften überzuleiten, die Geltung erhalten, sobald Israel im verheißenen Land ankommt (Dtn 4,1). Das Buch endet schließlich mit Erzählpassagen zum Tod Aarons, der Einsetzung Josuas und zum Mosetod (Dtn 31–34), in die in Dtn 32,1–43 das sogenannte Moselied als poetischer Geschichtsrückblick eingelassen ist.