Religion und Religionskritik

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So rechtmäßig es also ist, dass jene größere Religionsgesellschaft, zur kenntlichen Unterscheidung ihrer einstimmigen Glieder, eine öffentliche Lehrformel durch die Religionslehrer zur öffentlichen gemeinschaftlichen Unterweisung festsetzt und beibehält: so falsch ist es doch, wenn irgendeine christliche Religionspartei die innere tausendfach verschiedene christliche Privatreligion in eben dieses bloß äußerliche Maß einfassen will; und es ist gar empörend, wenn sie behauptet, die ganze moralische Wohlfahrt und Seligkeit aller Menschen habe Gott selbst an eine einzige jüngere Lehrformel ebenso gebunden, wie die öffentlichen Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft an diese gesellschaftliche Religionsform durch die Obrigkeit so oder so gebunden worden. Man müßte alle christlichen Begriffe von Gott geradehin leugnen oder heimlich verspotten, welche Begriffe doch durchaus nun von allen Christen aus der Bibel nach eigenem Gewissen gesammelt werden, was die Gewißheit ihrer eigenen Überzeugung und Wohlfahrt betrifft ...

Es haben ... alle ... Bekenntnisschriften zunächst eine bürgerliche äußerliche Absicht, damit der Staat darin gewiß ist, daß dieses auch gute, ruhige, nützliche Bürger sind und bleiben wollen; und zugleich gehen alle solche Lehrbekenntnisse auf das eigene Gewissen, auf das daseiende Maß der Erkenntnis der Mitglieder einer Partei, in Absicht der gemeinschaftlichen Verehrung Gottes in ihren Versammlungen.

Der Glaube der einzelnen Christen, das ist ihre eigene christliche Religion, ist frei aus den Lehren Christi und eigenem Nachdenken hergeleitet; hat keine dogmata weder von Rabbinen noch von Bischöfen zu seinen inneren Bestandteilen von Zeit zu Zeit anzunehmen. Alle sogenannten dogmata sind erst von Bischöfen auf ihren kirchlichen Landtagen zusammengesetzt worden, zunächst wider sogenannte Ketzer, und also für die Kandidaten ihrer Klerisei, nicht aber als neue Zusätze zu der christlichen Religion. ... Die Symbole, als unveränderliche Formeln, gehören allemal zu einer besonderen gesellschaftlichen Religion, nicht aber zu allgemeinen eigenen Religion aller Christen ... Es gab immerfort verständige Zeitgenossen, die es einsahen, daß diese Formeln zunächst eine äußerliche Absicht hätten, nicht aber den Grund und Inhalt der moralisch vollkommenen Religion, ausschließungsweise, in sich faßten. ...

Es ist allerdings zu hoffen, daß immer mehr eigenes Nachdenken und gewissenhafte Beurteilung dieser Hauptsache in aller Religion (um Gottes Willen moralisch zu handeln, und immer moralisch besser zu werden), die einzelnen Menschen vielmehr dahin bringen wird, die tätige reine Liebe Gottes und aller Nebenmenschen, über die Gott einerlei Sonne scheinen lässt, immer mehr als das Wesen der wirklich würdigeren Religion anzusehen, es mag nun der besondere äußerliche Unterscheidungsname christliche, natürliche, jüdische etc. heißen; und also auch vornehmlich sich dieser einen reinsten Liebe Gottes und des nächsten zu befleißigen, weil diese Nachahmung Gottes der kenntlichste Charakter eines Gottesverehrers ist.70

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Weitere Hauptschriften der Epoche der Neologie:

J. D. Michaelis, Gedanken über die Lehre der heiligen Schrift von der Sünde als eine vernunftgemäße Lehre, Hamburg 1752; W. A. Teller, Lehrbuch des christlichen Glaubens, Helmstedt/ Halle 1764; ders., Die Religion der Vollkommnern, Berlin 1792; J. Fr. W. Jerusalem, Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, Braunschweig 1768; J. G. Töllner, Der tätige Gehorsam Jesu Christi, Breslau 1768; ders., Theologische Untersuchungen, 2 Bde, Riga 1772 u. 1774; A. F. Büschung, Allgemeine Anmerkungen über die symbolischen Schriften der lutherischen Kirche, Hamburg 1770; K. F. Bahrdt, Apologie der gesunden Vernunft, durch Gründe der Schrift unterstützt, in Bezug auf die christliche Versöhnungslehre, Basel 1781; Chr. M. Wieland, Über den freien Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen, o. O. 1787; F. Chr. Löffler, Über die christliche Genugtuungslehre, Züllichau und Freystadt 1796.


K. Aner, Die Theologie der Lessingzeit [1929], Hildesheim 1964

H. H. R. Schulz, Johann Salomo Semlers Wesensbestimmung des Christentums. Ein Beitrag zur Erforschung der Theologie Semlers, Würzburg 1988

2. Der Rationalismus

Mit seiner grundsätzlichen Abweisung allen Offenbarungsglaubens geht der Rationalismus im engeren Sinne noch über die Erneuerungsmotive der Neologie hinaus. Es reicht nicht der Nachweis, dass ein Glaubensinhalt vor der Vernunft standhält, sondern es gilt auch zu zeigen, dass er sich allein mit ihrer Hilfe restlos rekonstruieren lässt. Dahinter steht die rationalistische Grundannahme, dass die Vernunft über allen anderen Sinnen des Menschen steht, sodass sie als die durch nichts überbietbare Erkenntnisquelle herausgestellt wird. Ihr Erkenntnisvermögen wurzelt in einem dem Menschen in unvergleichlicher Weise zugeschriebenen Wissen um die Wirklichkeit, das unabhängig von den jeweiligen Sinneswahrnehmungen ist und im Zweifel von diesen nur bestätigt werden kann. Es ist die von René Descartes (1596 – 1650) exponierte Fähigkeit des Menschen zu zweifeln, die ihm seine Souveränität verleiht. Der Zweifel ist die eigentliche Dynamik des berühmten „cogito ergo sum“ von Descartes, denn nirgends zeigt sich die Fähigkeit zu denken deutlicher als im Zweifel, sodass diese Formel angemessen rezipiert wird, wenn sie um der Prägnanz willen mit „Ich zweifle, also bin ich“ wiedergegeben wird. Dem Offenbarungsglauben wird gern das Adjektiv „blind“ zugeordnet, weil er von etwas redet, was sich nicht sehen bzw. – genauer gesagt – nicht durch das Wissen der Vernunft erreichen lässt. Der Gegensatz wurde gern mit den Begriffen Rationalismus und Supranaturalismus gekennzeichnet, wobei sich bei genauerem Hinsehen schnell zeigen ließe, dass die beiden Begriffe nur die extremen Pole eines weiten Spektrums darstellen, dass sich zwischen ihnen auftut.

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2.1 Hermann Samuel Reimarus

In einer konsequenten Abkehr von allem Offenbarungsglauben projektiert Hermann S. Reimarus (1694 – 1768) die Vorstellung einer reinen Vernunftreligion.

Weil er seine Zeit noch nicht für reif hielt, hat Reimarus seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes als sein eigentliches Testament, das ihn etwa dreißig Jahre beschäftigt hat, nicht mehr selbst veröffentlicht, obwohl er seine aufklärerischen Vorstellungen über die Religion bereits 1755 in seinen Abhandlungen von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion dargelegt hatte. Es geht ihm um eine konsequente Vernunftreligion, die eine ebenso konsequente Abkehr von jeder Offenbarungsreligion voraussetzt. Unter dem Einfluss Spinozas (→ § 2,3), Bayles und vor allem der englischen Deisten, insbesondere Tolands (→ § 2,5) und bei gleichzeitiger Abwehr der französischen Materialisten (→ § 4,2.2.3) hebt Reimarus die Göttlichkeit der Schöpfung und der in ihr wirkenden Gesetze der Natur hervor.

Die Natur bedarf über sich selbst hinaus keiner Offenbarungen und Wunder, ja sie muss sie sogar bestreiten, denn sie stehen im Widerspruch zur Vollkommenheit der Schöpfung und ihres Schöpfers und würden beide nur diskreditieren. Der Glaube an sie kann in den Augen von Reimarus nur schlicht als eine Dummheit angesehen werden: „Die Geburt hat uns zu vernünftigen Menschen gemacht; und so eine Religion die wahre ist, so muß sie vor allen Dingen mit der Vernunft bestehen können und nicht gezwungen seyn“.4 Die Religion, durch die sich der Mensch den Tieren gegenüber auszeichnet, könne nach Reimarus ihre Sektiererei und Streitereien nur überwinden, wenn sie sich als eine praktische Religion auf die Vernunft verlässt:

Ohne Vernunft und deren Gebrauch wären wir, wie das Vieh, gantz und gar keiner Religion fähig; und selbst die wahre Offenbarung wäre uns so unnütz, als wenn Ochsen und Eseln das Evangelium gepredigt würde. Es ist selber der Vernunft gemäß, nichts darum bloß [zu] verwerffen, weil es über unsern Begriff gehet; aber hergegen, wenn eine vorgegebene Offenbarung etwas enthält, das sich selbst klar und deutlich wiederspricht, oder das andere unwiedersprechliche Wahrheiten, besonders die unendliche Vollkommenheiten Gottes, seine Weißheit, Vorsehung, Güte und Allmacht, seine ewige Regeln des Natur- und Sitten-Gesetzes aufhebt: so mag auch ein Engel vom Himmel der Prediger eines solchen Evangelii seyn, wir können ihm dennoch unmöglich glauben. (54 f.)

Reimarus unterstreicht, dass es ihm um einen grundlegenden Wandel geht, der nicht einfach von heute auf morgen realisiert werden kann, sondern durch eine vollkommen veränderte Erziehung gleichsam großgezogen werden muss. Wer erst einmal mit dem traditionellen Offenbarungsglauben im Kindesalter indoktriniert wurde, ist nur schwer wieder davon abzubringen. Die Veränderung des Erziehungssystems ist die Voraussetzung für eine nachhaltige Grundlegung der Vernunftreligion. |74◄ ►75| Es wird nunmehr gantz augenscheinlich seyn, daß die Fortpflantzung und Erhaltung des heutigen Christenthums, selbst bey Protestanten, auf der eintzigen Maxime beruhet, den Menschen einen bloßen Glauben einzuflößen, welches in dem leichtgläubigen kindischem Alter, und bey dem unverständigem Hauffen am leichtesten zu bewirken ist, und ihnen dagegen alle vernünftige Religion sorgfältig zu entziehen, die Vernunft selbst, als blind und verdorben anzuschwärtzen, und wenn sie sich ja wieder den Glauben regen sollte, dieselbe, als eine allgemeine Feindin des Christenthums und aller Religion, bey dem Pöbel verhaßt zu machen, und durch die Macht der Könige, Fürsten und Obrigkeiten zu verfolgen. Man kann nichts anders daraus schließen, als daß sie ihr Glaubens-System für verloren achten, dafern die Leute vorher zu einer vernünftigen Religion angeführt wären, und dann die angedrungene Offenbarung, ohne Vorurtheil, nach den Regeln der Wahrheit und gesunden Vernunft untersuchen wollten. (145)

 

Man müste die rohe Jugend zuerst auf die ihr angemessene sinnliche Erkenntniß der Natur, der darin sich zeigenden Mannigfaltigkeit, Vollkommenheit, Schönheit führen, damit sie die augenscheinlichen Spuhren einer unendlichen Weißheit, Güte und Macht darin bemerken lernte, und ihre Gedanken nachgerade von den sichtbaren Werken zu dem unsichtbaren Werkmeister erheben könnte. Man müste ihr die Beschaffenheit und Bestimmung des Menschen zu einer weit höheren Vollkommenheit und Glückseligkeit, als in diesem Leben zu erreichen ist, begreiflich machen. Und dazu würde nöhtig seyn, daß man ihr die Vorzüge der Vernunft und ihres rechten Gebrauchs zeigete, als wodurch der Mensch allein über alle Thiere des Erdbodens herrscht, allein einer Sprache, Sittlichkeit und Religion fähig wird, allein Wahrheiten einsiehet, Künste und Wissenschaft erfindet, seine Begierden in Ordnung hält, und solche Tugenden ausübt, die ihn über alles Viehische erheben, ihn selbst glücklich und andern Menschen gefällig machen. (147)

Reimarus setzt für seine Überlegungen die rationalistischen Gottesbeweise (ontologisch, kosmologisch, teleologisch und moralisch) voraus, die mindestens ebenso, wie sie den Gottesgedanken hervorheben und evident machen, auch den Menschen in besonderer Weise als das zu seiner Erkenntnis geadelte Wesen herausstellen.

Tatsächlich ist aber unter den überkommenen Umständen der reine Ausblick auf Gott weithin verdunkelt und es bedarf der Behebung verschiedener Grundübel, unter denen Reimarus die Kirche leiden sieht und die er rückhaltlos anprangert. Dabei war Reimarus zeitlebens seiner Kirche zugewandt und nahm regelmäßig am Gottesdienst und auch am Abendmahl teil. Die Verstellung des Christentums durch verschiedene Erscheinungsweisen des Aberglaubens sah er als „eine alte noch aus dem Heydenthum und Judenthum stammende Krankheit“ (151) an, von der es vor allem zu genesen gelte, indem das eigentliche Wesen des Christentums und seines Stifters wieder zur Geltung gebracht werden. Die eingehende und offensive Kritik, die Reimarus hier über weite Strecken hin entfaltet, hat durchaus Vorbilder nicht nur bei den Reformatoren, sondern auch in der Kirchenkritik von Erasmus und anderen Humanisten. Es sind nicht nur die Marien- und Heiligenverehrung, der Bilderdienst, die Reliquien, die Wallfahrten, Gelübde, Seelenmessen und die Möncherey, die Reimarus mit Abgötterei in Verbindung bringt, sondern er greift ebenso die protestantischen Vorstellungen vom Teufel und den Engeln und die ihnen zugestandene Macht über die Seelen an. Die Instrumentalisierung des Teufels als Druckmittel hin zur Frömmigkeit empfindet Reimarus als besonders anstößig. Und es bleibt zu beklagen,|75◄ ►76| dass der Aberglaube den ganzen Alltag durchdrungen hat und beinahe alle menschlichen Handlungen bestimmt: „bey dem Ackerbau, der Viehzucht, Jägerey, Fischerey, Seefahrt, Bergmannschaft, bey Hochzeiten, Wöchnerinnen, Kindtauffen, Säugen, Erziehen, Krankheiten und Sterben“ (152). Der Aberglaube hält die Menschen gefangen und sie fürchten faktisch mehr den Teufel als Gott. Ebenso schlicht wie folgenreich schließt Reimarus seine Kritik mit der gelassenen Feststellung ab: „Wenn sie Gott, die Natur, sich selbst und ihre Pflichten nach der gesunden Vernunft kenneten: so würde aller Aberglaube als ein Schatten und eine Phantasey verschwinden. “ (153)

Weitere abzustellende Grundübel sieht Reimarus auf der einen Seite in der falschen Glaubenssicherheit, die zu einem unbefangen lasterhaften Lebenswandel führe, und auf der anderen Seite in einer Werkheiligkeit im Blick auf äußere Frömmigkeitsübungen, die unweigerlich zu Heuchelei anhalten. Auch sieht er eine verbreitete Neigung zu Fanatismus, die gleich das nächste Übel mit sich bringt, nämlich die Sektiererei, die von Streitsucht und Verfolgung geprägt ist. Als letztes Übel führt Reimarus den Atheismus an, den er zwar nicht in der Kirche beklagt, aber von ihr verursacht sieht; er ist das Resultat all der zuvor aufgezählten Missstände, welche die Menschen gleichsam zwangsläufig in den Atheismus treiben.

Ich will damit nicht sagen, daß die Atheisterey eine Lehre des Christenthums sey; aber ich behaupte, daß die Glaubens-Artikel, und die Art wie man sie einpflantzt, eine nahe Veranlassung geben, daß Leute, welche zu keiner vernünftigen Religion angeführt sind, wenn sie die Schwächen der väterlichen Religion einsehen, gar keine Religion über behalten, und folglich gar leicht in eine Atheisterey verfallen können ... Weil sie denn von keiner vernünftigen Religion etwas wissen und überführt sind: so bleibt ihnen nichts übrig, sie halten alles für Pfaffen-Betrug, und für eine bloße Erfindung den blinden Pöbel zu lenken und im Zaum zu halten. ... Das ist aber die Frucht der Methode des Christenthums, da man die Religion als einen blinden Glauben ohne vernünftige Erkenntniß zu pflantzen sucht, und eher Christen machen will bevor sie zu Menschen gebildet sind. Die schlagen dann sehr oft dermaßen aus der Art, daß, statt frommer Christen, Unmenschen daraus werden, welche ohne Gott in der Welt zu leben suchen. (168 – 170)

Der theoretische und praktische Atheismus kann nur wirksam abgewehrt werden, wenn in der Jugend die Grundlagen für einen verständigen und überzeugenden Umgang mit der Religion gelegt werden. Nur eine vernünftige Religion kann auf die Dauer ein wirksames Mittel gegen den von Reimarus nur mit Abscheu betrachteten Atheismus sein.

Reimarus überschreitet mit seinen Überlegungen – ähnlich wie Lessing (→ § 2,8) – die Grenzen des christlichen Glaubens und nimmt auch die anderen Religionen in den Blick. Dies ist – ebenso wie bei Lessing – weniger der Ausdruck einer geforderten Religionstoleranz als vielmehr der Ausdruck der Hoffnung, dass sich auch die anderen Religionen den gleichen Herausforderungen stellen mögen wie das Christentum, um aus ihren geschichtlichen Fixierungen herauszutreten auf den allen Religionen gemeinsamen Boden der natürlichen Religion. Der Blick auf die anderen Religionen bedeutet also streng genommen keine Pluralisierung, sondern – in Übereinstimmung|76◄ ►77| zu dem, was bereits für die Aufklärung gezeigt werden konnte – eine Angleichung in den Grundsätzen, durch welche die überkommenen Unterschiede ganz ihre Bedeutung verlieren. Reimarus blickt auf die Vernunftreligion als eine allgemein menschliche Angelegenheit, die sich in den verschiedenen Religionen nur unterschiedlich artikuliert. Die Gemeinsamkeit zu entdecken ist sein Appell für die Zukunft. Den Christen misst Reimarus allerdings eine Vorreiterrolle zu, da sie in unvergleichlicher Weise in Christus einen vorbildlichen Lehrer der Vernunftreligion aufzuweisen haben.

Die vernünftige Religion ist ... die Grundveste aller Religionen, und von Heyden, Juden, Christen, Türken, als wahr und unleugbar erkannt. Wenn auch irgend eine Religion die Haupt-Artikel der Vernünftigen nicht kennete oder leugnete und etwas denselben widersprechendes lehrete: so würden alle ihre Geheimnisse, Stiftungen und Gebräuche, welche sie als aus einer Offenbarung, hinzufügen wollte, nicht bestehen, noch den Namen einer Religion verdienen können. Daher wäre es zu wünschen, daß insonderheit Christen, nach dem Beyspiel ihres großen Lehrmeisters, die vernünftige Religion und ihre Pflichten mehr trieben, und ihr zuvörderst in dem Catechismo, nebst den Glaubens-Lehren so viel Platz gönneten, daß Kinder zuvor von Gott und göttlichen Dingen vernünftige Begriffe bekämen, ehe sie Geheimnisse zu glauben und dem Gedächtnisse einzuprägen angewiesen würden. (667 f.)


D. Klein, Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768). Das theologische Werk, Tübingen 2009

2.2 Heinrich Eberhard Gottlob Paulus

Als Biblizist war Heinrich E. G. Paulus (1761 – 1851) ein führender Vertreter des Rationalismus, der sich insbesondere durch den konsequenten Versuch ausgezeichnet hat, die Wunder rational zu erklären, was nicht selten zu merkwürdigen Gedankenkonstruktionen geführt hat.

Keiner hat je den Versuch angestrengt, den unangetasteten biblischen Textbestand so restlos einer vernünftigen Erklärung zu unterwerfen, wie dies von Heinrich E. G. Paulus unternommen worden ist. Es waren gleichsam zwei Seelen in seiner Brust, die er miteinander zu versöhnen versucht hat. Einerseits wollte Paulus den biblischen Text verteidigen, um den etwa Reimarus (→ § 3,2.1) treffenden Vorwurf zu widersprechen, die Rationalisten nähmen die Bibel nicht ernst und legten sie sich mit ihrer Kritik so zurecht, wie sie es jeweils für erforderlich halten. Ausdrücklich weist er deshalb jede Bibelkritik zurück. Andererseits wollte er aber auch dem Anliegen des Rationalismus gerecht werden und zeigen, dass die Bibel von der Vernunft keinerlei Zugeständnisse verlange, sondern restlos von ihr – mit entsprechendem Bemühen – im Horizont natürlicher Verstehenszusammenhänge verstanden werden kann – einschließlich all der in der Bibel überlieferten Wunder. Eine widerspruchsfreie wissenschaftliche Erklärung sollte gegeben werden, ohne dabei auf spekulative Argumentationen ausweichen zu müssen (in seiner Auseinandersetzung mit Schelling hat Paulus seine Ablehnung des Idealismus dargelegt). Die Vernunft wird streng im Sinne von Verstand in Anspruch genommen,|77◄ ►78| der sich auf die Rekonstruktion der jeweils in Frage stehenden Ereignisse beschränkt. Die Durchführung dieses kühnen Vorhabens dokumentiert zugleich sein Scheitern, das sich besonders in den zahlreichen Skurrilitäten zeigt, zu denen Paulus greifen muss, um sein Vorhaben voranzutreiben.5

Das systematische Profil seines Konzepts wird programmatisch im Titel des 1825 erschienenen Buches Der Denkgläubige angezeigt. Denken und Glauben sollen weder gegeneinander gestellt werden, noch in Konkurrenz miteinander gebracht werden. Vielmehr will Paulus zeigen,

wie sich das Wahre aus beiden vereinige und ein für Verständige glaubwürdiges Ganzes bilde, indem das Denken zum Glauben an das Glaubwürdige hinführt, das Glauben aber als ein seiner Gültigkeit aus Gründen bewußtes Fürwahrhalten das Nachdenken unterstützt und durch Wollen und Handeln ins Leben hinüber leitet.71

Paulus sucht einen Weg jenseits von Aberglaube und Unglaube. Wenn er diesen Weg als vernünftig bezeichnet, dann grenzt er sich sowohl von übervernünftiger (superrationaler) als auch von unvernünftiger (irrationaler) Argumentationsweise ab. Es geht um das Erfassen des Übervernünftigen durch die Vernunft. Glaube wird als Hingebung definiert, aber „es darf, wenn es nicht trügliche Leichtgläubigkeit sein soll, nur eine Hingebung sein an die Leitung des Verstandes“ (97). Paulus will das Übervernünftige nicht auflösen und in Vernünftiges umformen und auf diese Weise einen gravierenden Eingriff vornehmen, sondern es geht ihm um die Harmonie zwischen Vernunft und Glaube, die sich gegenseitig ergänzen und stärken.

Nur wenn wir erst aus Gründen gewiß sind, daß etwas (ursächliches) als wirklich sein muß, so halten wir diese Wirklichkeit als wahr fest, oder wir glauben sie sogar, alsdann, wenn wir die Weise, wie es sei und wie es wirke (sich als wirklich zeige) nicht wissen zu können einsehen. Mit einem Wort: Erst der, welcher über das unmittelbare Bewußtsein, das uns nur die Erscheinung eines innern Zustandes gibt, nachdenkend weiß, daß eine Welt, außer ihm selbst, sein und so sein muß, daß gewisse Erscheinungen in ihm von diesem Dasein der Außenwelt abhängen – ohne dasselbe nicht wären. Wäre dieses Wissen zugleich ein Wissen, wie jene Außenwelt, die da sein muß, an sich sei und wie sie mit unsern Vorstellungsgegenständen in Verbindung stehe, so würde gar nicht vom Glauben die Rede sein. Alles, was wir darüber dächten, wäre dann lauter Wissen oder ein Gewißsein aus hinreichenden Erkenntnisgründen. Dies aber ist nicht. Wir wissen vielmehr, daß wir uns das An-sich der Außenwelt und wie sie uns zu Erscheinungen oder zum inneren Gegenstand wird, nie zuverlässig vorstellen können. Was wir also nicht sehen, nicht erfahren zu können voraussetzen, dessen Wirklichkeit halten wir dennoch als wahr fest und glauben sie. (96f.)

Zugleich hüten wir uns

vor Aberglauben, insofern nur das, was wir über die Wirklichkeit der Außenwelt denken mußten, glaubend festhalten, nun aber nicht uns bereden, daß wir auch noch das, was durch das |78◄ ►79| denkende Betrachten unsers Bewußtseins nicht erreichbar war (nämlich das Wissenwollen, wie die Außenwelt sei und wie sie in uns wirke) etwa durch das Glauben zu erreichen und zu erfassen vermöchten. Wir machten vielmehr hier das erstemal die – nur allzu oft anwendbare und vielumfassende – Bemerkung, daß das Abergläubigsein dort anfange, wo man nicht zufrieden ist, dem Denken, ungeachtet seiner Beschränktheit, soweit es reicht, vertrauensvoll zu glauben, bei demselben aber auch, als dem einzig gewiß gewordenen stehen zu bleiben; dort, wo man vielmehr, einer für das Praktische unnützen und an sich unbescheidenen Neugierde nachgehend, sich beredet, das, was durch das Denken nicht zu erreichen ist, dennoch durch ein Festhalten weiterer Vermutungen eben so fest machen zu können. Der Aberglaube fängt an, wo das Glauben über die Grenzen des Denkens (des Gründewissens, des Wissens: warum!) hinausgeht und die Lücken des Denkens durch das bloße Festhalten eingebildeter Möglichkeiten auszufüllen behauptet.

 

Das Denken führt sicher zum Glauben. Wer glaubt, hält das durch das Denken erreichbare und glaubwürdig gewordene als wahr fest. Das eigentümliche des Glaubens besteht nicht in einem Abweisen von dem Denkbaren oder im Mehrwissen, als nach Erfahrungen und Schlüssen denkbar und dadurch glaublich wird. Im echten Glauben ist das Eigentümliche nur dieses, daß das seinen Denkkräften vertrauende Gemüt nun die wohlüberlegte Resignation hat, sich dem Gedachten zuversichtlich hinzugeben und redlich danach zu handeln, wenn es gleich weiß, wie manches es darüber noch wissen möchte, aber vermittelst seiner menschlich wirkenden Kräfte weder selbst noch durch andere, die doch auch nur als Menschen denken können, zu wissen nicht vermöge. (106f.)

Auch wer, statt denkgläubig werden zu wollen, auf umgekehrten Wege ein gläubigdenkender zu sein, das ist, vom vorgefaßten Glauben zum (künstlich dialektischen) Denken zu gehen, für nötig, oder wenigstens – aus (vermeintlicher) Demut – für ratsamer halten möchte, kann allerdings sehr gutmeinend sein. Immer aber setzt er sich in Gefahr, weil er das Denken nicht zum voraus zum Leiter nimmt, sich leicht mancherlei Aberglauben und der Gottheit unwürdiges Meinen anzugewöhnen, sich im vorgefaßten Irrwahn, als in Voraussetzungen, die keiner Prüfung mehr anzusetzen wären, fest zu verstricken, und dagegen die bedeutenden Schwierigkeiten, die das Richtigdenken für den Ungeübten hat, sich nicht aufhellen zu können. (164)

Der Glauben ist eine Art Affirmationsinstanz zur Vergewisserung der Wirklichkeitsfähigkeit des denkenden Verstandes. Solange der Glauben dem Denken die Treue hält, sichert dieses ihm umgekehrt sein ausweisbares Begründetsein. Das Modell ist so konzipiert, dass sich Denken und Glauben gleichsam gegenseitig auf die Beine helfen, und zwar genau da, wo sie jeweils offenkundig schwächeln und somit angreifbar bleiben. Der Glauben trägt im Grunde inhaltlich nicht wirklich etwas zur Erkenntnis bei, wohl aber gibt er ihr eine Standfestigkeit, die sie von sich aus niemals erreichen könnte. Umgekehrt wird das Denken nicht dazu gezwungen, sich zu überheben und mehr als den Verstand an sich zu binden, sodass es auch zu weiterer Vertiefung und selbstkritischer Differenzierung frei bleibt, denn die ins Auge zu fassenden Bindungen und Verpflichtungen werden nicht von seinen Gesetzen bestimmt, sondern gehören in das Reich des Glaubens.

Den Vorrang des Denkens vor dem Glauben demonstriert Paulus am Beispiel des Zornes bzw. Eifers Gottes: Einerseits muss Gott, wenn er das Gute ernsthaft will, das Böse abweisen, d. h. der Eifer, den Gott zur Abweisung des Bösen aufbringt, wird zur Vollkommenheit Gottes zu rechnen sein. Doch dann stellt sich sofort eine andere|79◄ ►80| Frage ein, nämlich ob Gott in seinem Eifer mit Heftigkeit und Leidenschaft agiert? Heftigkeit und Leidenschaft stehen nach Paulus vollkommen der Würde Gottes entgegen. Und so kommt es schließlich dazu, das der ‚eifrige Gott‘ denkgläubig so vorzustellen ist, dass er nicht in einen Widerspruch mit seiner göttlichen Vollkommenheit gerät. Dann wird der Denkgläubige abergläubische Attribute von Gott fernhalten und somit dem rechten Verständnis auf die Spur kommen, d. h. die Vorstellung des Glaubens muss durch das Denken so weit gereinigt werden, dass der Glaube nicht an gottunwürdige Vorstellungen gebunden wird.

Aber ohne vernünftige oder rationale Glaubensberichtigung würde es [das Volk, M. W.], wie gewöhnlich, einen leidenschaftlich zürnenden Gott glauben, den es dann auch wie einen leidenschaftlichen oder dadurch unvollkommenen Menschen nur zum Schein zu achten und durch allerlei Schein zu gewinnen, das heißt, täuschen zu wollen fortfahren würde; wie dieses in dem Unvernunftglauben aller Zeiten zu beobachten ist und von der pfäffisch täuschenden Bigotterie irrational genug, aber aus wohlbekannten Absichten, sogar noch oft zum Christenglauben gerechnet und in denselben eingeschwärzt wird. (16)

Weitere Hauptschriften des Rationalismus:

J. H. Tieftrunk, Einzigmöglicher Zweck Jesu, aus dem Grundgesetze der Religion entwickelt, 2., vermehrte Aufl., Berlin 1793; H.Ph.K. Henke, Lineamenta institutionum fidei Christianae historico-criticarum, Helmstedt 1793; Fr. J. Niethammer, Versuch einer Begründung des vernunftmäßigen Offenbarungsglaubens, Leipzig/Jena 1798; J. Fr. Röhr, Briefe über den Rationalismus, Aachen 1813; als theologisches Lehrbuch des Rationalismus kann gelten: J.A.L. Wegscheider, Institutiones theologiae christianae dogmaticae [1815], Leipzig 81844 (n. d. 6. Aufl. übers. v. Fr. Weiß, Leipzig 1831).

3. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Als der wohl einflussreichste Theologe des 19. Jahrhunderts hat Friedrich D. E. Schleiermacher (1768 – 1834) der Theologie neben den Naturwissenschaften und der Philosophie zu einem eigenständigen Weg verholfen, der weniger an den Vorgaben der Tradition als vielmehr an den dem modernen Menschen gebliebenen Glaubensmöglichkeiten orientiert ist.

Auf dem Höhepunkt seines Wirkens schreibt Schleiermacher ein Sendschreiben – einen offenen Brief – an seinen Schüler, Freund und Kollegen Friedrich Lücke, in dem er über die weitere theologische Entwicklung insbesondere für das evangelische Christentum auf dem Hintergrund der sich verändernden kulturellen Gesamtlage nachdenkt. Er beklagt die Abkoppelung der Theologie von den sich weiter entwickelnden Wissenschaften, die bereits von Zeit zu Zeit einem „Bombardement des Spotts“ ausgesetzt sei, sodass sich ihm die – dann immer wieder zitierte – Frage aufdrängte: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen; das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“72 Nur wenn der Glaube kon-sequent|80◄ ►81| unter den Bedingungen des modernen Menschen reflektiert werde, ist der in der Frage steckenden These zu entkommen. Die traditionelle an den Loci orientierte Dogmatik ist durch eine Glaubenslehre zu ersetzen, in welcher der christliche Glaube auf eine Weise von sich selbst Rechenschaft ablege, die weder durch historische Bindungen – wie beispielsweise den Kanon oder dem jüdischen Ursprung des Christentum – noch durch spekulative Anstrengungen bestimmt sein sollte, sondern als eine Reflexion des religiösen Selbstbewusstseins innerhalb der Kirche vorzunehmen sei. Theologie habe sich neu zu konstituieren als die kritische Selbstreflexion des christlichen Frömmigkeitsbewusstseins.

Richtungweisend war für Schleiermacher seine Neubestimmung des Religionsverständnisses, das er bereits 30 Jahre vorher vorgetragen hat und das zeitlebens für ihn bestimmend blieb, auch wenn sich verschiedene terminologische Veränderungen eingestellt haben. Einerseits ging es ihm um eine spezifisch theologische Bestimmung der Religion, die sich nicht damit zufrieden geben darf, die philosophischen Einsichten über ein allgemeines Religionsverständnis zu wiederholen, und andererseits musste dieses Religionsverständnis aber doch so allgemein sein, dass es nicht nur von denjenigen verstanden werden konnte, die sich bereits positiv mit ihr arrangiert haben. Schleiermacher gibt sich nicht damit zufrieden, dass nun die Philosophen die Ebene der Allgemeinheit für sich reserviert haben und verteidigt seinerseits entschlossen die Theologie auf dem Feld der Allgemeinheit: Das spezifisch Theologische wird mit dem gleichen Anspruch an Allgemeingültigkeit vorgetragen wie das philosophische Argument.

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