Czytaj książkę: «Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller»

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Jenseits der Zeit

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Impressum neobooks

Jenseits der Zeit

Von Michael Vahlenkamp

Buchbeschreibung:

Editha zieht nach Oldenburg, der Stadt ihrer Vorfahren. Kurz nach ihrer Ankunft wird sie von Visionen heimgesucht, in denen sie eine mentale Verbindung mit Jacob erlebt, ihrem Ahn aus dem 18. Jahrhundert. Gemeinsam entlarven sie einen Serienmörder und kämpfen gegen ein Unrecht, das ihrer Familie zugefügt wurde und aus dem sich sogar eine Bedrohung für die gesamte Menschheit entwickeln könnte ...

Die Geschichte spielt in zwei Epochen, die erzählerisch gekonnt miteinander verwoben sind.

Über den Autor:

Michael Vahlenkamp, Jahrgang 1967, ist in Oldenburg geboren und aufgewachsen. Nach Schule und Ausbildung hat er Maschinenbau studiert und arbeitet bis heute als selbstständiger Technischer Redakteur. In seiner Freizeit schreibt er Geschichten, woraus vor einigen Jahren bereits sein erster Roman "Blutfieber" hervorgegangen ist und nun mit "Jenseits der Zeit" sein zweites Buch veröffentlicht wurde.

Jenseits der Zeit

Historischer Mystery-Thriller

Von Michael Vahlenkamp

Michael Vahlenkamp

Bürgerbuschweg 192a

26127 Oldenburg

michael.vahlenkamp@gmx.de

michaelvahlenkamp.de

1. Auflage, 2020

© 7. November Michael Vahlenkamp – alle Rechte vorbehalten.

Michael Vahlenkamp

Bürgerbuschweg 192a

26127 Oldenburg

tredition (Hamburg)

michael.vahlenkamp@gmx.de

michaelvahlenkamp.de

Morgen

Und dann wurde es schlagartig dunkel.

Von einer Sekunde auf die nächste wich der strahlende Sonnenschein des Vormittags einer dunklen Nacht, gerade so, als wäre das Licht ausgeknipst worden.

Zugleich verstummten die Geräusche. Das Menschengeplapper, das Kinderlachen, der Autolärm von der nahen Straße, nichts davon war noch zu hören.

Auch die Leute waren verschwunden. Dort, wo sich gerade noch Passanten in der Fußgängerzone aneinander vorbei drängten, sah sie keine Menschenseele mehr, soweit ihre Augen die Dunkelheit durchdringen konnten.

Doch das Schlimmste bemerkte sie erst jetzt: Timo war nicht mehr an ihrer Hand. Wo war ihr Sohn geblieben? Sie hatte ihn doch festgehalten, um ihn in der Menge nicht zu verlieren.

Was passierte hier mit ihnen?

Panik befiel sie. Ihr Herzschlag wollte sich beschleunigen – doch er tat es nicht. Sie musste stehen bleiben, vor Angst erstarren – doch sie konnte es nicht. Sie ging weiter, gegen ihren Willen. Und dazu noch in eine andere Richtung als gerade noch. Wie war das möglich?

Durch Pfützen bewegte sie sich auf den Lappan zu. Sein Glockenturm zeichnete sich wie ein Scherenschnitt vor dem Nachthimmel ab. Trotz der Dunkelheit konnte sie erkennen, dass er anders aussah als vor wenigen Sekunden, auch wenn sie nicht wusste, was sich genau unterschied.

Inzwischen war sie ohne ihr Dazutun einen weiteren Schritt gegangen. Das musste ein Traum sein, ein Albtraum. Aber solch einen Traum hatte sie noch nie gehabt. Normalerweise waren ihre Träume irgendwie diffus, dieser hier dagegen war völlig klar, real wie das wirkliche Leben. Dennoch musste es ein Traum sein. Denn was sollte es sonst sein?

Dieser Gedanke beruhigte sie, denn in einem Traum konnten Timo und ihr nichts passieren. Die Angst ließ nach und als hätte diese es vorher blockiert, nahm Editha jäh ein zweites Bewusstsein wahr. Wie eine Seele, die nicht in ihren Körper gehörte. Sie empfand eine Verärgerung, die nicht ihre eigene war, fühlte eine Verunsicherung, die nicht zu ihr gehörte. Sie hatte fremde Gedanken, die durch ihren Kopf kreisten. Und sie spürte Schmerzen, überall am Körper, als wäre sie arg gestürzt oder geschlagen worden.

Dann hatte sie für solcherlei Betrachtungen keine Gelegenheit mehr, weil sich im nächsten Moment die Ereignisse überstürzten. Denn eine Gestalt kam aus der Seitengasse rechts vor dem Lappan herausgeschossen und stürmte auf sie zu. Sie erschrak sich wieder, und sie spürte, dass das andere Bewusstsein es ebenfalls tat, stärker noch als sie.

Gerne hätte sie eine Verteidigungshaltung eingenommen und so ihren Angreifer erwartet. Doch da ihr Körper ihrem Willen nicht gehorchte, musste sie nun ertragen, wie ihre Knie weich wurden und zitterten. Sie wich zurück, stolperte über ihre eigenen Füße und plumpste rücklings auf ihren Hintern, dass es nur so schmerzte. Der Angreifer hatte damit nicht gerechnet und war schon so nahe, dass er in der Dunkelheit ebenfalls über ihre Füße stolperte und auf die Straße fiel, die Hände voraus. Aber das wusste sie schon und auch, was nun weiter passieren würde. Denn mittlerweile hatte sie gemerkt, dass dieser Traum die Geschehnisse wiedergab, von denen sie vor kurzer Zeit erst gelesen hatte.

Derjenige, der ihren Körper lenkte, nutzte den Moment, in dem der Angreifer außer Gefecht war, und rappelte sie auf. Er rutschte mit ihr im Schlamm einer Pfütze aus und fing sie sofort wieder. Er lief mit ihr, von seiner Angst getrieben, mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit weiter in die Richtung, in die er auch vorher mit ihr unterwegs war. Ihr kam es viel zu schnell und unbeholfen vor. Sie fühlte sich gnadenlos ausgeliefert.

Ihr Angreifer musste sofort reagiert haben. Er folgte ihr auf dichtem Fuße, wie sie an den Schritten hören konnte. Sie brachte ihre ganze Willenskraft auf, um anzuhalten und sich umzudrehen. Sie wollte nicht weglaufen, sondern kämpfen, aber sie hatte keine Chance: Ihr Körper gehorchte ihr weiterhin nicht.

Doch dann entfernten sich die Schritte hinter ihr auf einmal, und Editha erkannte, woran das lag. Sie näherten sich einem Tor. Links und rechts davon befanden sich je zwei Steinpfeiler mit kleineren Gittertoren dazwischen. Vor dem Haupttor standen zwei Männer. Sie waren in schwarze Umhänge gekleidet und trugen jeder einen Dreispitz auf dem Kopf. Beide hatten ein Signalhorn umgehängt und hielten eine lange Waffe mit einer Klinge am Ende in der Hand. Editha glaubte, dass es Hellebarden waren. Die Männer sahen aus, wie Wachleute in früheren Zeiten ausgesehen haben mussten. Sie kam sich vor, wie in einem Film, der vor ein paar hundert Jahren spielte.

Als sie sich weiter näherte, richteten sich die Wachen zu ihrer vollen Größe auf und nahmen ihre Hellebarden in beide Hände. Sie riefen etwas, das zwar wie Deutsch klang, aber doch irgendwie ungewohnt. Der Fremde in ihrem Körper stoppte ihren Lauf. Er antwortete in der gleichen Sprache, aber nicht mit ihrer Stimme, sondern mit einer Männerstimme.

In dem Moment wurde ihr klar, dass nicht in ihrem Körper ein fremdes Bewusstsein war.

Sie war die Fremde.

Heute

Diese verflixten Rechnungen!

Als Editha in ihr frisch geerbtes Haus eingezogen war, hatte sie geglaubt, sie wüsste, was auf sie zukommen würde. Schließlich hatte sie in ihrer Studienzeit zusammen mit den beiden Mitbewohnern der damaligen Wohngemeinschaft ebenso eine eigene Wohnung unterhalten. Dort hatte sie, neben ihrem Anteil an den Kosten für Telefon, Strom, Heizung und Müll, auch noch ihren Teil der Miete gezahlt. Dieser Posten entfiel dank der schuldenfreien Immobilie immerhin jetzt, aber trotzdem war die Mahagoniplatte von Opas altem Schreibtisch unter den ausgebreiteten Rechnungen und Mahnungen kaum zu sehen.

Sie zog ihre Beine unter ihr Gesäß und erzeugte dabei auf dem Leder des antiken Stuhls ein knarzendes Geräusch. Dem Schreiben der Telefongesellschaft, in dem der Betrag für den Telefon- und Internetanschluss angemahnt wurde, würdigte sie keines Blickes mehr. Sie legte es zu den anderen Papieren, in denen es um Versicherungen, Steuern und diverse Reparaturen ging.

Wie sollte sie das alles bezahlen? Leider hatte Opa ihr kein Geld vermacht, das hatten Papa und Tante Gerda bekommen, was ja nur gerecht war. Sie konnte sich schon nicht erklären, womit sie das Haus verdient hatte. Von den 26 Jahren, die sie auf Erden weilte, hatte sie Opa maximal die ersten 15 Jahre zusammen mit Papa und Mutter dann und wann besucht. Sie konnte sich kaum erinnern, wann sie das letzte Mal von Hamburg nach Oldenburg gekommen war. Und dann hatte sie als Einzige der vier Enkel etwas von dem Kuchen abbekommen. Nur halt keine Barschaften.

Sie schaute sich im Arbeitszimmer um. Die antiken Möbel, die im ganzen Haus herumstanden, würden sicher einiges einbringen, wenn sie die verkaufte. Das hatte sie schon erwogen, brachte es aber nicht übers Herz. Es wäre ihr wie Verrat vorgekommen. Opa hatte ihr das alles anvertraut, warum auch immer, dann konnte sie das doch nicht einfach verkaufen.

Wenn sie sich also nicht auf Prostitution einlassen oder einen reichen Mann heiraten wollte, um Geld zu beschaffen - beides schloss sie aus - oder sich von Papa etwas leihen wollte - das schloss sie noch mehr aus - musste sie sich auf die Dinge besinnen, die sie konnte. Ihr Beruf als Journalistin brachte ihr allerdings zurzeit noch nicht genug ein, geschweige denn ihre Ambitionen als Schriftstellerin. Die Nebenbeschäftigung als Karatetrainerin, die sie überraschend schnell in Oldenburg gefunden hatte, verschaffte ihr allenfalls ein Zubrot.

Gut, dass das Haus so groß war und sich ihr damit die Möglichkeit bot, einen Teil davon zu vermieten. Zu dumm nur, dass sich das alles so lange hinzog, bis sie die erste Miete kassieren konnte. Das Wohnungsangebot war am nächsten Tag in der Nordwest-Zeitung, im Samstagsteil. Und die Renovierungsarbeiten hatten noch nicht mal begonnen.

»Oh Gott«, sagte sie, als ihr einfiel, dass ihr auch dafür wieder Rechnungen ins Haus flattern würden. Die erste Miete konnte sie wahrscheinlich komplett für diese Dinge aufwenden. Wenn das so weiter ging, hatte sie bald den Gerichtsvollzieher am Hals. Aber noch mussten ihre Gläubiger warten. Sie hoffte, dass sie das auch taten.

Ein Knacken aus dem Babyfone riss sie aus ihren Gedanken. Offenbar hatte Timo ein Geräusch gemacht. Mit seinen drei Jahren schlief ihr Sohn schon längst durch, und das Babyfone war nur zur Sicherheit.

Editha stand auf, raffte das Papier zusammen und legte es in die Schublade, die am meisten Platz bot. Überall waren noch Opas Sachen drin. Mit dem Babyfone in der Hand verließ sie das Arbeitszimmer und begab sich ins obere Stockwerk, wo noch Arbeit auf sie wartete. Bevor die Zimmer oben für die Vermietung renoviert werden konnten, mussten sie leer geräumt werden, und das konnte sie am besten machen, wenn Timo schlief.

Im größten Raum, der am ehesten als Wohnzimmer für den Mieter geeignet war, herrschte das meiste Chaos. Die Sachen, die sie schon aus Schränken und Regalen herausgeholt hatte, waren größtenteils in Kartons verstaut, aber zum Teil lagen sie noch auf dem Fußboden herum. Editha blieb im Türrahmen zwischen dem Zimmer und dem oberen Flur stehen und seufzte bei dem Anblick des Schlachtfeldes. Hier hatte sie sich am Vortag festgearbeitet, weil sie keinen Schritt mehr gehen konnte, ohne irgendwo drauf zu treten, und dann hatte sie die Lust verloren.

Zuerst mussten die Kartons verschwinden, damit sie wieder Platz hatte. Die konnte sie bestimmt auf dem Dachboden verstauen. Sie wandte den Blick zur Flurdecke, in der sich der herunterklappbare Zugang befand. In diesem Teil des Hauses war sie noch nicht gewesen. Dann wurde es ja mal Zeit. Bevor sie gleich einen Karton mitschleppte, war es sinnvoll, sich dort erst umzuschauen.

Nachdem sie Luke und Leiter heruntergeklappt hatte, machte sie sich ans Hochsteigen. Jede einzelne Stufe knarrte unter ihrem Gewicht. Als sie halb durch die Öffnung der Bodenluke gestiegen war, blieb sie auf der Klappleiter stehen, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Es wurde jetzt, Mitte September, schon recht früh dunkel, sodass durch die vereinzelten gläsernen Dachschindeln wenig Licht von außen hereindrang. Aber genug, um zu erkennen, dass der Dachboden sehr groß und mit allerlei Gegenständen vollgestellt war. Rechts vom Aufgang erkannte sie einen Lichtschalter. Sie erklomm die Leiter vollends und schaltete die Beleuchtung ein. Zwei einfache Lampen, die an den Dachbalken befestigt waren, leuchteten auf und spendeten zwar nicht viel aber ausreichend Licht, um sich auf dem Dachboden zu bewegen.

Als Editha sich zur anderen Seite der Bodenluke wandte, wäre sie vor Schreck beinahe zurück in die Öffnung gefallen, denn eine große, schlanke Frau sah ihr mit aufgerissenen Augen und Mund entgegen. Dann musste sie lachen und den verzierten Holzrahmen des antiken Standspiegels bewundern. Welche Schätze hier oben wohl noch unbeachtet herumlagen?

Sie begab sich zu der großen Seite des Dachbodens. Hier war alles vollgestellt, nur in der Mitte befand sich ein schmaler Gang. Dort ging Editha hinein und an den vielen Dingen vorbei. Sie sah noch mehr alte Möbelstücke, die mit weißen Laken überdeckt waren, ausgestopfte Tiere, einige Koffer und Kartons, einen Christbaumständer, Schachteln mit Christbaumkugeln und weitere unzählige Kleinigkeiten. Das übliche Bild eines Dachbodens: Die anfangs vorhanden gewesene Ordnung verlor sich nach und nach durch mehrfaches Umräumen.

Wo konnte sie in diesem Gewühl ihre Kartons unterbringen? Musste sie hier etwa erst aufräumen und die Sperrmüllabfuhr bestellen? Sie ging weiter in den Gang und sah sich suchend um.

Ganz hinten stand eine alte, massive Truhe. Dort konnte sie die Kartons vielleicht draufstellen. Editha bückte sich und pustete einen Teil des Staubes von der Truhe, einen weiteren Teil wischte sie mit der Hand weg. Kunstvolle Holzschnitzereien kamen zum Vorschein. Lächelnd fuhr Editha mit den Fingern daran entlang. Dann befreite sie die Truhe weiter vom Staub und musste dabei mehrmals husten, weil die Luft inzwischen kaum noch atembar war. Mit der Hand vor dem Gesicht wedelnd zog sie sich ein Stück zurück und wartete, bis sich das Gewusel in der Luft wieder einigermaßen gelegt hatte.

Was sich ihr dann offenbarte, erinnerte sie ein wenig an die Schatztruhen, die sie aus Filmen kannte. Rundherum war sie mit Schnitzereien bedeckt, die verschiedene Szenen darstellten. In einer saß ein König auf seinem Thron und zu seinen Füßen knieten seine Untertanen, in einer anderen Szene wurde von zwei Männern Korn gedroschen und eine weitere zeigte, wie Krieger mit Schwertern kämpften. Die Truhe war viel zu schade, um hier zu verstauben, sie gehörte nach unten in die Wohnung.

Editha klappte den eisernen Riegel hoch und öffnete den Deckel. Ein muffiger Geruch schlug ihr entgegen, sodass sie erneut husten musste. Zuoberst lagen in der Truhe Unmengen an Briefumschlägen. Sie nahm ein paar in die Hand: Sie enthielten alle Briefe. Das war vielleicht auch mal interessant, die alten Briefe zu lesen, aber das würde jetzt zu lange dauern. Sie schob die Umschläge beiseite und entdeckte mehrere Bücher, außerdem noch eine Tasche aus Fell, ein Fläschchen mit schwarzem Inhalt, der früher wohl Tinte war, ein kleines Säckchen und eine Feder. Die Bücher sahen sehr alt aus, es waren Klassiker aus dem 18. und 19. Jahrhundert; da sie Sprache und Medien studiert hatte und sich für Literatur interessierte, kannte sie sich ein wenig damit aus. Nur eines der Bücher fiel aus dem Rahmen. Es war ein schlichter, hellbrauner Einband, auf dessen Deckel sich zwei verschnörkelte Buchstaben befanden. Sie war keine Expertin für Schriften, aber scheinbar handelte es sich dabei um ein »J« und ein »R«, in altdeutscher Druckschrift geschrieben. Als sie das Buch aufschlug, war es mit dem Lesen allerdings vorbei, denn im Inneren war es handschriftlich in altdeutscher Schreibschrift beschrieben. Einige der leicht verblassten Buchstaben konnte sie erahnen, aber viel zu wenige, um irgendeinen Zusammenhang erfassen zu können. Was sie erkennen konnte, war, dass jeder Abschnitt chronologisch aufsteigend mit einem Datum des 18. Jahrhunderts versehen war, denn die Zahlen waren lesbar. Ein Tagebuch vielleicht?

Interessant, dachte sie. Damit musste sie sich mal beschäftigen.

Sie klemmte das Buch unter ihren Arm und klappte den Deckel der Truhe wieder zu. Wenn sie die hier wegzog, hatte sie Platz, um dort ein paar Kartons zu stapeln. Sie fasste die Truhe an einen ihrer Griffe, zog sie in den Gang und hinter sich her bis zur Luke.

Jetzt kam der schwierige Teil.

Drei Stunden später ließ sich Editha erschöpft auf das Sofa fallen. Für heute reichte es wirklich. Nachdem sie die Truhe endlich vom Boden herunterbekommen hatte - sie musste sie dazu erst ausräumen - und die schweren Kartons auf den Boden hinauf - gut, dass sie für ihr Karate-Training auch ein wenig mit Gewichten trainierte - hatte sie alle Sachen vom Fußboden und aus den Schränken in weitere Kartons verpackt und diese ebenfalls nach oben gewuchtet. Es grenzte an ein Wunder, dass Timo bei dem Krach, den sie damit gemacht hatte, nicht aufgewacht war. Aber die Anstrengungen hatten sich gelohnt: Der große Raum war fast bereit, renoviert zu werden, nur die Schränke mussten noch abgebaut oder in die Raummitte geschoben werden.

Vor ihr auf dem Tisch lag das Buch, das sie gefunden hatte. Die geprägten Buchstaben glänzten in dem Licht der Stehlampe.

»J. R.«, murmelte sie vor sich hin.

Das waren bestimmt Initialen. Für welchen Namen sie wohl standen?

Sie nahm das Buch vom Tisch und schlug es an verschiedenen Stellen auf, aber es zu lesen, war für sie unmöglich. Auf der ersten Seite befand sich das Datum »17.5.1785«. Sie durchblätterte die Seiten wie ein Daumenkino, um zu sehen, welche Daten folgten. Dabei fiel ihr auf, dass vor dem ersten Viertel ein loses Blatt in dem Buch steckte. Sie zog es heraus. Auch hierauf war ein Datum vermerkt. Es stimmte mit dem Datum überein, das sich auf der Buchseite befand, vor dem das Blatt gesteckt hatte. Unter dem Datum auf dem losen Blatt stand ein längerer, lesbarer Text, denn er war mit Schreibmaschine geschrieben. Sie verglich den Text mit dem im Buch und erkannte, dass es sich um die gleichen Wörter handeln musste. Irgendjemand hatte sich scheinbar die Mühe gemacht, einen Abschnitt des Buches in die moderne Schrift zu übertragen. Warum er sich gerade diesen Abschnitt ausgesucht und nicht vorne angefangen hatte, würde wahrscheinlich das Geheimnis des Verfassers bleiben.

Editha begann zu lesen. Bei dem Text handelte es sich um ein nächtliches Erlebnis eines Mannes, dem am sogenannten Lappan aufgelauert wurde. Eigentlich hatte sie ja erwartet, dass sie einen Tagebucheintrag in der Ich-Form vorfinden würde. Der Text war aber geschrieben wie ein Roman, in der dritten Person. Handelte es sich hierbei nur um eine Geschichte, die im Jahre 1788 spielte?

Von diesem Lappan hatte sie nun schon öfter gehört, seit sie in Oldenburg wohnte. Er schien sowohl Wahrzeichen als auch zentrale Anlaufstelle zu sein. Gleich, als sie aus Hamburg mit dem Zug ankam, fiel er ihr das erste Mal auf, weil scheinbar alle Busse eine Haltestelle »Lappan« hatten. Vielleicht sollte sie sich ihn mal ansehen. Da am folgenden Tag Samstag war, beschloss sie, dann mit Timo einen Bummel durch die Innenstadt zu unternehmen.

Der Bus fuhr auf seine nächste Haltestelle zu, an einigen hübschen Häusern vorbei. Davon hatte das Stadtviertel, in dem ihr Haus lag, wirklich viel zu bieten. Editha sah auf den Stadtplan, damit sie nicht aus den Augen verlor, wo sie entlangfuhren.

»Haarenufer ... Ofener Straße ...«, murmelte sie vor sich hin.

Sie wollte sich die Straßen einprägen. Sich hier in Oldenburg bald auszukennen, konnte nicht so schwierig sein. Von Hamburg war sie da schließlich wesentlich Schlimmeres gewohnt. Oldenburg war vergleichsweise klein und überschaubar.

»Wofür sind die?«

Timo deutete mit seinem winzigen Zeigefinger auf einen der roten mit »STOP« beschrifteten Taster, der an der senkrechten Haltestange vor seinem Sitz angebracht war.

»Wenn man die drückt, weiß der Fahrer, dass man bei der nächsten Haltestelle aussteigen möchte.«

Editha zog die Ärmel von Timos Jacke wieder nach unten. Ständig schoben die sich durch seine Bewegungen von selbst hoch. Eine Fehlanschaffung diese Jacke, dabei war sie ausnahmsweise nicht einmal gebraucht gekauft.

»Warum weiß er das denn, wenn man da drückt?«

Ihr Sohn war gerade in einer Phase, in der er unzählige Fragen hintereinander stellen konnte. Auch, wenn es ja gut war, dass er neugierig war, ging ihr das manchmal ziemlich auf die Nerven.

»Hm, wahrscheinlich leuchtet dann bei ihm ein Lämpchen auf.«

Sie ahnte seine mögliche nächste Frage: »Wieso leuchtet ein Lämpchen auf, wenn man da drückt?« Aber offenbar musste Timo darüber erst mal nachdenken. Er betrachtete weiterhin mit einer beachtlichen Menge an Runzelfalten auf seiner kleinen Stirn den Taster.

Links glitt eine Kirche vorbei und geradeaus fuhren sie auf einen halbrunden Platz zu. Editha warf wieder einen Kontrollblick auf ihren Stadtplan.

»Julius-Mosen-Platz. Sieht ja ganz nett aus«, flüsterte sie.

Sie entdeckte ein Eiscafé, in das sie sich vielleicht mal setzen und das Geschehen beobachten könnte.

Der Bus fuhr links ab und folgte anschließend einer seichten Rechtskurve. Die automatische Frauenstimme erklang betonungslos aus den Lautsprechern und sagte den Lappan als nächste Haltestelle an. Das ging ja schnell. So kurze Fahrten war sie von Hamburg gar nicht gewohnt. Ohne Timo wäre sie das kleine Stück zu Fuß gegangen. Zusammen hätten sie das Fahrrad nehmen können. Aber so hatte sie zugleich das Busfahren in ihrer neuen Heimat kennengelernt.

»Jetzt kannst du den Knopf mal drücken«, sagte sie zu ihrem Sohn, der sich gleich danach reckte. Bevor er ihn erreichte, erklang ein Gong, und die Anzeigetafel zeigte »Wagen hält« und »Lappan« an. Timo, der davon nichts mitbekommen hatte, streckte sich noch ein Stück, drückte die Stopptaste und ließ sich zufrieden lächelnd wieder in den Sitz plumpsen. Editha lächelte zurück.

Ruppig bremste der Fahrer an der Haltestelle den Bus ab und die Türen öffneten sich mit einem Zischen. Die meisten Fahrgäste drängten zusammen mit Editha und Timo zum Ausgang. Dieses Gewühl war genauso wie in Hamburg. Erst als sich der Menschenstrom in die Breite verteilte, stellte sie fest, dass sie sich auf einem großen Platz befanden.

Das war also die viel genannte Haltestelle Lappan. Sie gingen ein paar Schritte, bis sie in der Mitte des Platzes ankamen. Hier standen sie direkt vor der Fußgängerzone der Innenstadt in einer Ecke einer großen Straßenkreuzung. Auf der anderen Straßenseite konnte sie das Gebäude einer Versicherung und weitere Geschäftsgebäude erkennen. Von einem Komplex die Straße weiter runter wusste sie, dass es ein Museum war. Sie drehte sich um und sah vor sich eine schmale Gasse, die schon zur Fußgängerzone gehörte, wie sie am Schild erkannte. Rechts der Gasse stand ein altes, weißes Haus, in dem sich eine Gaststätte befand.

»Krieg ich ein Eis?«

Timo zog an ihrem Arm.

»Wenn wir an einem Eisladen vorbei kommen, kannst du eine Kugel kriegen, okay?« Sein Gesicht strahlte und er zerrte stärker, damit sie sich beeilte. »Aber vorher musst du Mama in Ruhe gucken lassen.«

Schon wieder die kleine Runzelstirn. Kaum zu glauben, dass man mit drei Jahren so viele Falten aufbringen konnte.

»Was willst du hier denn gucken?«

»Ich will mir nur diesen Platz und diese Gasse ansehen. Das dauert ein paar Minuten.«

Er gab Ruhe und folgte ihr, als sie in die Gasse ging. Sie war nicht lang, schnell hatten sie das Ende erreicht. Das musste der Ort sein, der in dem Buch geschildert wurde. Sie sah nach rechts und nach oben, wo der alte Turm stand, der Namensgeber für die Haltestelle war, der Lappan. Was für ein eigenartiger Name für einen Glockenturm, fand Editha.

Auf der linken Seite der Gasse ragte die Hauswand ein wenig weiter vor. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es hier vor ein paar hundert Jahren ausgesehen haben mochte. Der Halunke aus der Erzählung, ob es nun Tagebuch oder Fiktion war, musste sich an dieser Stelle versteckt und darauf gelauert haben, dass der Mann, aus dessen Perspektive alles geschildert wurde, aus der größeren Straße von links kam. Das war die Lange Straße, was sie dem Schild an dem Haus gegenüber entnehmen konnte. Sie hoffte, dass Timo nicht den Burger King sah, der dort untergebracht war, denn obwohl sie nur sehr selten in Fast-Food-Läden aßen, hatte er schon eine Vorliebe für dieses Essen entwickelt. Wenn er es sah, war die nächste Quengelei so gut wie sicher.

Sie drehte sich mit ihrem Sohn zur anderen Seite und ging Schritt für Schritt in die Lange Straße hinein, in die Richtung, aus der der Mann in der Erzählung gekommen sein musste. Denn er kam von der Innenstadt und lief auf den Lappan zu. Sie malte sich aus, wie die alten Häuser damals ausgesehen haben mochten, welcher Geruch hier geherrscht haben musste - wahrscheinlich kein guter, wegen der Verschmutzungen in den Straßen.

Sie gingen wieder ein paar Schritte und näherten sich gleichzeitig der Straßenmitte. Dort blieben sie kurz stehen, um eine junge Mutter vorbei zu lassen, die einen Kinderwagen in beinahe gefährlichem Tempo vor sich herschob, und bummelten dann weiter.

Welche Geräusche man wohl damals gehört hatte? Da es keine Autos gab, war es vermutlich völlig still, vor allem, da es ja Abend war. Genau: Es war natürlich dunkel, als der Erzähler das Erlebnis hier hatte.

Und dann wurde es schlagartig dunkel.