Nomaden

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JO

Ich schleppte mich zurück in das Wohnzimmer, an das der Balkon, von dem aus ich sie beobachtet hatte, grenzte, ließ mich auf die Couch aus grünem Leder fallen, die den Raum regierte, und starrte in das Bücherregal gegenüber. Hegel und Goethe, offensichtlich alte Gesamtausgaben, dazu Reader’s-Digest-Auswahlbände und zerlesene Taschenbücher, pseudohistorische Schmachtliteratur. Was war das denn für eine Zusammenstellung? Ich kam langsam wieder zu mir.

Wahrscheinlich tat ich ihnen Unrecht, aber das, was ich gesehen, und die Wortfetzen, die ich gehört hatte, hatten mich noch mehr irritiert. Als ich meinen Platz in der Zuschauerloge einnahm, war die Versammlung offenbar schon seit einiger Zeit im Gange. Ich hatte auf meinem Weg nach Quettingen die Glocke gehört, scheppernd und unmelodiös, aber das hatte aufgehört, lange bevor ich ankam. Vielleicht hatten sie vorher darüber spekuliert, was passiert war, waren ebenso wenig zu einem Ergebnis gekommen wie ich und hatten sich dann praktischeren Fragen zugewandt. Dennoch – diese Anpackatmosphäre, wenn ich mal von Susi und Daniela absah …

„Vielleicht haben sie sich einfach nur gefreut, nicht mehr alleine zu sein“, warf mein neuer Freund ein, die Stimme im Kopf. „Vielleicht bist du ja nicht ganz normal, dass du dich vor den einzigen Menschen versteckst, die es außer dir noch zu geben scheint. Und du kennst sie sogar. Eine davon hast du mal geliebt.“

„Ja, habe ich“, sagte ich ungeduldig, um sofort zu erschrecken. Ich hatte es laut gesagt, ich sprach schon wieder mit mir selbst. Das war überhaupt kein gutes Zeichen. Während ich hier herumsaß und hart über Menschen urteilte, die zumindest eine Idee zu haben schienen, wie das Leben weitergehen sollte, ging es mit meiner eigenen geistigen Gesundheit weiter den Bach runter. Es war dieser Gedanke, der mich dazu brachte, das Sofa, die Wohnung und das Haus zu verlassen und zurück zu meinem Fahrrad zu eilen. Mochte sein, dass die anderen sich fremdartig benahmen. Aber ich wollte doch nicht die Chance verpassen, mit jemandem zu reden, solange ich selbst noch halbwegs bei Sinnen war.

Ich radelte los, so schnell ich konnte, aber schon an der ersten Straßenkreuzung blieb ich verwirrt wieder stehen. Wo sollte ich denn jetzt hin? Sie waren alle in verschiedene Richtungen verschwunden, und ich hatte nicht gehört, ob und wann sie sich wieder treffen wollten. Dann erinnerte ich mich, was Jan im Bunker hinterlassen hatte, und fuhr zur Kirche. Er enttäuschte mich nicht – an der Tür der Kirche klebte ein weiterer Zettel:

„Hallo! Du hast das Treffen leider verpasst. Danke, dass du trotzdem gekommen bist. Wir treffen uns heute (Montag) um 20.00 Uhr wieder hier. Bring dein Gepäck mit, wir werden von hier aus weiterziehen. Bis heute Abend.

DU BIST NICHT ALLEINE!“

Wirklich, wahnsinnig pragmatisch. Ich schüttelte den Kopf, nun aber eher belustigt als erschüttert. Mein Gepäck. Was für Gepäck denn? Dann fielen mir meine Habseligkeiten im Hotel ein. Einige davon mochten nützlich sein, außerdem hatte ich die meisten gerade erst gekauft. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber der Sonne und der Hitze nach konnte es nicht weit nach Mittag sein, 13 Uhr vielleicht. Mit dem Motorrad würde ich ganz sicher nach Köln und zurück kommen, lange vor dem Abend. Ich konnte mir sogar noch irgendwo einen Rucksack für „mein Gepäck“ besorgen, oder ein paar Satteltaschen für die Harley. Plötzlich stand das Bild der abgesägten Schrotflinte vor meinen Augen, ein Wetterleuchten aus meinem Traum. Ich musste lachen. Ja, klar. Ich würde ganz bestimmt meine Zeit damit verschwenden, eine Schrotflinte zu finden und kaputt zu sägen. Nein, ich hatte Wichtigeres zu tun. Und schon die Tatsache, dass ich wieder etwas zu tun hatte, machte mir Mut. Ich machte mich auf den Weg zurück zum Bunker.

Ich fuhr die Quettinger Straße hinunter und kürzte den Weg dann durch die Siedlung im Quettinger Feld ab. In solch reinen Wohnsiedlungen kam mir die Leere weniger unnatürlich vor, das hatte ich inzwischen festgestellt. Stille Miets- und Einfamilienhäuser in der Mittagshitze waren nicht so ungewohnt wie menschenleere Einkaufszeilen und Hauptstraßen mit liegengebliebenen Autos. Selbstverständlich war auch diese Illusion flüchtig, es war einfach zu menschenleer, die Häuser zu still, die Umgebungsgeräusche zu laut, als dass ich mich diesem Trost hätte hingeben können, wenn ich auch nur einen Moment darüber nachdachte. Aber ich musste ja nicht unbedingt nachdenken. Mitten auf der Straße lag ein roter Trolley. Überall hatte ich solche Spuren der Verschwundenen gefunden – aber nur Dinge, die Menschen hatten fallen lassen, keine Kleidung, keine Brillen, Implantate oder Herzschrittmacher. Das konnte nur bedeuten, dass die Menschen zwar fallen gelassen hatten, was sie in den Händen hielten, aber was immer sie direkt am Leib getragen hatten, war mit ihnen verschwunden.

Die Idee, dass nicht irgendetwas, sondern irgendjemand die Ursache von alldem sein konnte, kam mir zum ersten Mal in diesem Moment. Ich war nicht gläubig, die letzte Vorstellung eines Gottes oder Teufels, die für mich einen Sinn hatte, hatte ich als Jugendlicher verloren. Danach waren diese Begriffe für mich sinnleer gewesen. Bis jetzt schien mir der Gedanke, dass etwas das Verschwinden der Menschen ausgelöst hatte, als einzig sinnvolle Idee. Aber alle Tiere schienen noch da zu sein. Ich hörte die Vögel ohne Pause, Insekten und Spinnen waren überall, wie gewohnt, ich hatte Katzen, Kaninchen und einen Frosch gesehen. Es mochte sein, dass neben dem Homo sapiens auch andere Tierarten verschwunden waren, aber auf den ersten Blick schien es nicht so, von Pflanzen gar nicht zu sprechen. Diese auf den ersten Blick so umfassende Katastrophe betraf bei genauerem Hinsehen nur eine einzige Art – uns. Machte das nicht einen sehr zielgerichteten Eindruck? Konnte ich mir irgendein natürliches Ereignis vorstellen, das gleichzeitig so momentan und so selektiv war? Ich setzte ein vorsichtiges Fragezeichen hinter den Gedanken einer natürlichen Ursache und nahm mir vor, bei weiteren Überlegungen nicht nur die Wirkung von „Etwas“, sondern auch die von „Jemand“ in Betracht zu ziehen.

Von dieser Idee immer noch verwirrt, bog ich gerade in die Feldstraße ein, als ich vor mir Stimmen hörte. Ich stieg von meinem Rad und zog mich hinter den Sichtschutz einer Bushaltestelle zurück. Vielleicht würde ich mich der Aufbruchstimmung meiner Schulfreunde heute Abend anschließen. Noch war ich nicht so weit. Ein ganzes Stück vor mir gingen Susi, David und Matthias. Sie hatten mich nicht bemerkt, und ich folgte ihnen vorsichtig.

SONJA

„Just a perfect day

drink sangria in the park

and then, later, when it get’s dark

we go home.“

Endlosschleife. Martin hatte ihr das Lied irgendwann in ihre Facebook-Chronik gepostet, unter einem unverfänglichen Namen und kommentarlos. Sie hatte verstanden, was es bedeutete – ein Bekenntnis. Sie hatte geheult vor Glück, und sie heulte selten. Oder hatte es selten getan. Bevor sie entdeckt hatte, was passiert war, draußen, in der Welt.

„Just a perfect day

feed animals in the zoo

then later a movie, too

and then home.“

Den MP3-Player zu suchen war eine der letzten produktiven, rationalen Handlungen gewesen, zu denen sie sich hatte aufraffen können. Es war ein altes Ding das noch mit einer Batterie lief, sie hatte verstanden, dass der Strom bald weg sein würde. Wie alles. Wie alle. Wie er. Sie hatte sich aufs Sofa gelegt und in eine Decke gehüllt, draußen mochte es warm sein, hier drinnen war es kühl und in ihr betäubend kalt, so kalt, dass sie nichts mehr wollen konnte, nur frieren.

„It’s such a perfect day

I’m glad I spend it with you …“

Auf dem Player fand sie eine uralte, selbst zusammengestellte Playlist, die einer Logik folgte, die sie nicht mehr nachvollziehen konnte, aus einem Grund, den sie nicht mehr kannte. Ruhige Musik, um sich treiben zu lassen, ein kleiner aufpeitschender Block in der Mitte. Lou Reed kam an dritter Stelle, und nach einer Weile wiederholte sie den „Perfect Day“ immer wieder und wieder und wieder und wieder … vielleicht stundenlang, vielleicht tagelang? Sie wusste es nicht. Die Welt hatte aufgehört und vielleicht würde ja auch die Zeit aufhören … und dann?

„Oh such a perfect day

you just keep me hanging on …“

Er war noch wach gewesen, als sie von der Party nach Hause gekommen war, wie er es versprochen hatte. Die Nacht war schön, innig, lang, ein Versprechen für das Wochenende, die gestohlenen Stunden, die kommen würden. Als Sonja am Mittag aufgewacht war, hatte er nicht neben ihr gelegen, aber das war normal, er wachte immer früher auf als sie. Sie rief nach ihm, spielerisch, sie hatte Lust, sich von ihm in den Tag holen zu lassen. Martin war nicht gekommen, und sie war aufgestanden, um nach ihm zu sehen. Sie fand ihn nicht in der Wohnung, das war ungewöhnlich, aber immer noch kein Grund zu irgendeiner Sorge. Es war das zweite Wochenende, das er bei ihr verbrachte, und es hatte drei Nächte und einen Morgen gegeben … Einmal, am Samstag des ersten Wochenendes, war er wagemutig genug gewesen, sich auf die Suche nach frischen Brötchen und Croissants fürs Frühstück zu begeben. In der Bäckerei hatte ihn niemand erkannt – in Jeans und Pulli, unrasiert, unfrisiert und mit vom Bett noch zerknittertem Gesicht sah man ihn nicht öffentlich oder in den Medien. Und die Sonnenbrille hatte ihr Übriges getan. Seinerzeit hatte er eine kleine Nachricht hinterlassen …

 

Sonja hatte diesmal keine Nachricht gefunden, stattdessen seine Kleidung von gestern. Alles. Unterhose, T-Shirt, Hemd, Socken, Hose. Und die Schuhe. Hatte er zwei Paare mitgebracht? Warum sollte er so etwas tun, sie hatten keine Wanderung geplant. Die Dusche – unbenutzt. Seine Zahnbürste – trocken. Sein Smartphone auf dem Tisch, seine Armbanduhr auf dem Nachttisch. Die streifte er stets als Letztes ab und als Erstes über. Immer wenn er das Bett endgültig verließ, zog er die Uhr über, eine instinktive Bewegung, er schaute nicht mal hin, wenn er das tat. Und jetzt lag die Uhr da, und alle Kleidung und die Schuhe … als sei er einfach so aus dem Bett verschwunden.

Sie hatte ratlos die Indizien seines Verschwindens durchwühlt, immer wieder, um einen Hinweis zu finden, irgendetwas, um dieses Rätsel zu lösen, das immer unheimlicher zu werden begann. Schließlich hatte sie sich ein Herz gefasst und seine Frau angerufen. Martin und Anke waren mitten in der Trennung gewesen, als Sonja ihn kennengelernt hatte, und auch wenn die Trennung noch geheim bleiben musste und die Liebe zu Sonja noch geheimer – zwischen Anke und ihr herrschte Spannung, aber kein böses Blut. Die Kinder mochten sie sogar. Und wenn jemand ihr bei der Lösung helfen konnte, dann die Frau, mit der er sechzehn Jahre verheiratet war, wer kannte ihn denn besser?

Die Mailbox ging ran, und Sonja begann zu stammeln. Fluchend trennte sie die Verbindung, fasste sich, überlegte, was sie eigentlich sagen wollte, rief noch mal an und sprach einen kurzen, ruhigen Text. Zur Sicherheit schickte sie Anke auch noch eine SMS. Sie überlegte, was sie noch tun konnte. Die Polizei rufen? Weil ihr Geliebter seit geschätzt zwei oder drei Stunden verschwunden war? DIESER Geliebte? Wohl kaum. Schließlich entschied sie sich, selbst zum Bäcker zu gehen und Gebäck zum Frühstück zu kaufen. Für zwei.

Sie kam drei Stunden später zurück und brachte die Kälte mit in ihrem Inneren. Nachdem sie die Wohnung betreten hatte, ging sie in die Küche und machte sich Kaffee. Die ganze Zeit über stand sie regungslos vor der Kaffeemaschine und starrte sie an. Als der Kaffee fertig war, goss sie ihn mechanisch in eine Thermoskanne, dann starrte sie weiter die Kaffeemaschine an. Zeit verging. Schließlich wandte sich Sonja von der Kaffeemaschine ab, ging in ihr Schlafzimmer, kramte die Trekkingausrüstung hervor, holte den Campingkocher heraus und trug ihn in die Küche. Fand die alte Kanne. Den Keramikfilter und eine ungeöffnete Packung Filtertüten, vergessen seit Jahren, stellte sie daneben.

Sie trug den Kaffee zum Sofatisch, setzte sich, trank, weinte und wartete. Darauf, dass sie auch verschwinden würde. Man hatte sie offenbar vergessen. Aber sie vertraute darauf, dass jemand diesen Fehler korrigieren würde.

***

Sie verschwand nicht. Er kam nicht zurück. Niemand kam zurück. Die Kälte blieb und wurde schärfer und schärfer. Und Sonja nahm ihre Fluchttür, die Musik, und sie verschwand in sich selbst. Es gab Momente, in denen sie ganz klar funktionierte, sie aß, sie trank, sie kochte sich Kaffee und Tee, am Nachmittag des Sonntags machte sie fast drei Stunden lang eine Inventur, überlegte, welche Überlebensmittel sie brauchen würde, sammelte, was sie in ihrer Wohnung davon fand, machte eine Liste. Aber sie war nicht wirklich dabei, etwas in ihr tat das, etwas Zähes, Schlaues, Überlebensfähiges, und sie überließ diesem Etwas die Regie, während ihr Selbst sich zur Musik bewegte, trauerte, fürchtete, weinte, schrie, sich erschöpfte, schlief.

Der Moment, als sie auf dem Balkon stand, die leere Welt um sich, unter sich, menschenstill und laut von all dem, was nie so deutlich zu hören gewesen war. Sie sah nach unten, aber sie fürchtete, nicht zu sterben. Sie dachte an Medikamente, an Putzmittel, aber sie hatte Angst vor dem Schmerz.

Die meiste Zeit lag sie auf dem Sofa, und die Musik klang, und ihre Gedanken kreisten. Manchmal beschäftigte sie sich mit ganz praktischen Fragen: Wie lange würde es fließendes Wasser geben? Was war mit den Chemiefabriken, mit Atomkraftwerken? Wo konnte sie Lebensmittel finden, und was würde sie tun, wenn sie so lange durchhielt, bis auch die Konserven verdorben waren? Die meiste Zeit aber lag sie einfach da, tief in sich selbst verloren, in Erinnerungen und Bildern, in einer Zukunft, die erodierte, in einer Parallelwelt, von der sie glaubte, glauben wollte, mehr als alles andere, dass sie real war. Vielleicht war das nur ein fürchterlich langer, realistischer und hässlicher Traum. Vielleicht war es die Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, in der sie einfach aus der Welt gefallen war, sie, nicht alle anderen, das war doch viel wahrscheinlicher und viel tröstlicher. Und wenn sie es sich wünschte, wenn sie sich ganz konzentrierte, wenn sie nur genug wollte, dann würde sie wieder zurückfallen in die Realität.

„Just a perfect day …“

„Sonja!!!“

„… feed animals in the zoo …“

(Das war einer ihrer schönen Pläne – mit den Kindern in den Zoo zu gehen, bald, wenn es heraus und öffentlich war, wenn sie endlich …)

„Hey! Sonja! Bist du da?“

„… then later a movie, too …“

(Er würde es bei dieser Filmpreisverleihung offiziell machen, zu der er eingeladen war. Mit Partnerin. Und die Partnerin sollte sie sein, zum ersten Mal an seiner Seite. Er hatte gesagt, dass das doch gut passen würde, weil es ein kulturelles Ereignis wäre und sie Musikerin sei und sie sich über ihre Musik kennengelernt hatten …)

„Sooooonja! Komm! Komm mit uns!“

„… and then home …“

(Nach Hause, mit ihm, in Sicherheit. Wo sie geborgen war, gehalten …)

„Sonja! Du bist doch da, oder? Du bist nicht alleine!“

Sie schrie, schrie noch einmal, schrie ihren ganzen Schmerz und ihren Verlust heraus und öffnete die Augen. Es war hell, trotz der zugezogenen Vorhänge und der halb gesenkten Jalousie. Es musste mitten am Tag sein. War nicht eben noch Nacht gewesen?

„Sooooooooonja!“

Sie brüllte, ein tierischer Laut äußerster Verwundung. Dann riss sie den Vorhang beiseite, öffnete die Balkontür und trat hinaus, schaute hinunter. Dort standen David, Susi und Matthias. Von der Party? Was sollte das, die Party war … wie lange war das her? Zwei Tage? Vier? Hundert?

Susi winkte, David beschattete seine Augen mit einer Hand und spähte zu ihr herauf, Matthias stand reglos und glotzte. Sonja starrte sie an wie die Erscheinungen, die sie waren. Was hatten sie hier zu suchen? Die Welt war leer, sie war die Letzte, was wollten die plötzlich in ihrer Welt? Warum störten die sie?

„Sonja!“, rief Susi. „Toll, dass du da bist! Komm mit uns!“

„Wir müssen zusammenbleiben“, erläuterte David, als hätte Sonja etwas gefragt. „Gemeinschaften bilden, weißt du? Und helfen, uns gegenseitig unterstützen. Deine Familie … wir haben alle jemanden verloren, wir können uns helfen, gegenseitig. Komm runter, wir sammeln gerade alle … von unserer Versammlung hast du nichts mitbekommen, oder?“

Er schien etwas zu erwarten, eine Antwort. Sonjas Zorn begann Worte zu formen, aber noch konnte sie sie nicht sprechen. Was war das? Sie hatte so gehofft, dass etwas passieren würde, dass jemand kommen würde – aber doch nicht die. Und wieso mitkommen? Wohin? Was geschah hier – und was bildeten die sich ein?“

„Du könntest dir schon mal überlegen“, rief David jetzt, „was du besser fändest. Auf so einer Art Bauernhof zu versuchen, von Beginn an als Selbstversorger zu leben, oder erst mal herumzuziehen und aus den vorhandenen Vorräten zu leben. Sag doch mal, was denkst du? Können wir hochkommen und darüber reden? Ich glaube ja …“

Sonja brüllte. Sie konnte später nicht mehr sagen, was sie gebrüllt hatte, es kam etwas davon darin vor, dass sie nicht um Besuch gebeten hatte, dass sie nicht wegkönne, weil sie auf jemanden warte, dass sie sich zum Teufel scheren sollten.

David entgegnete etwas, und sie brüllte lauter, sah sich wild auf dem Balkon um, fand die Kisten, in denen sie ihre alte Küchenausstattung ausgelagert hatte, fein getrennt nach Metallverwertung und Polterabend. Sie warf Teller, Tassen, Löffel, Messer und Gabeln. Mit einer der Gabeln traf sie Matthias gut, sie konnte Blut sehen. Susi fing laut an zu weinen, worauf Sonja gezielt mit den Messern nach ihr warf. Die drei flüchteten vom Hof, und Sonja blieb schwer atmend auf dem Balkon zurück, das Haar wirr, das Gesicht gerötet.

Sie kam herunter, langsam, der Zorn verrauchte, und sie begann sich zu fragen, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Aber der Gedanke kam ihr weiterhin absurd vor. Gemeinschaft? Und was war das mit dem Bauernhof gewesen? Die Tatsache, dass sie offensichtlich nicht der einzig verbliebene Mensch war, tauchte kurz auf und verschwand sofort wieder. Eine oder vier oder vierzig oder vierhundert, was machte das? Die Welt war leer. Und bevor sie sich ausgerechnet jetzt in irgendwelche Gruppendynamiken einbinden ließ, wollte sie lieber alleine bleiben, mit allem, was sie konnte, und allem, was sie fürchtete. Sie vertraute nicht leicht, und sie vertraute sich erst recht nicht leicht jemandem an. Wenn es schnell ging, wie mit Martin, dann war das ein Zeichen. Wieso sollte sie ausgerechnet diesen dreien trauen, nur weil sie noch da waren? Und wohin sollte sie auch gehen? Wenn die drei Clowns zurückgekommen waren, warum sollte Martin dann nicht auch zurückkommen?

Sonja verließ den Balkon und ging in die Küche, sie hatte Durst. Sie war kaum angekommen, da setzte der Lärm wieder ein, diesmal riefen sie nicht, sondern trommelten an die Haustür, so laut, dass sie es bis hier oben hörte. Das Scheppern hallte im Hausflur wider. Sonjas Zorn kam zurück, sie riss das Fenster auf, sah unten eine Bewegung, griff ihren großen, irdenen Zwiebeltopf und schleuderte ihn in diese Richtung.

„Verpisst euch endlich!“, brüllte sie. „Ich komme nirgendwo mit hin!“

Stille. Dann, laut hörbar, aber ruhig: „Sonja? Ich bin’s, Jo!“

Sie hatte gerade nach dem großen Brotmesser gegriffen, doch nun stockte sie. Jo. Sie schaute aus dem Fenster und sah ihn da stehen. Nur ihn. Er trug nicht mehr den Anzug, sondern Jeans. Sein T-Shirt war schwarz, und sie fragte sich, ob es wohl dasselbe war wie am Freitagabend. So wie er da stand und zu ihr hochschaute, sah er so verloren aus, wie sie sich fühlte.

„Ich will auch nirgendwohin“, sagte er.

Sie starrte ihn wortlos an, verließ das Fenster, suchte kurz, fand ihren Schlüssel und warf ihn zu Jo hinunter.