Nomaden

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„Hallo?“, rief ich. „Hallo, ist da jemand?“

Unverändert: Stille.

„Hallo! Ich habe etwas gegessen und getrunken. Ich wollte nichts klauen! Ich bezahle das! Hallo?“

Was hatte ich erwartet? Ich langte in meine Hosentasche, aber dann erinnerte ich mich, dass ich mein letztes Geld David in die Hand gedrückt hatte, für das nächste Revival. Heute Vormittag. In einem anderen Leben. Wieder wollte ein Gedanke in den ferneren Tiefen meines Verstandes Form annehmen, wieder schob ich ihn fort. First things first. Ich ging zum Verkaufstresen und notierte:

„1 Fl. Gerolsteiner (1 Liter)

1 Fl. Fanta (1 Liter)

1 Pkg. Kochschinken

1 Pkg. Gouda

2 Snickers“

Ich addierte die Preise, schrieb die Summe dazu, ebenso Name und Adresse. Mir fiel ein, dass das ja schon seit Wochen gar nicht mehr meine Adresse war, dass ich im Hotel wohnte, aber damit hielt ich mich nicht weiter auf. Sie würden mich schon finden. Hinter dem Tresen sah ich ein altmodisches Radio. Ich schaltete es ein und suchte einen Sender, aber auf dem ganzen UKW-Band gab es nur statisches Rauschen. Kein WDR 2 oder WDR 5 mehr, kein 1Live, kein Radio Leverkusen oder Radio Berg, kein SWR. Auf der Mittelwelle sah es nicht anders aus. Ich starrte das Radio an und begriff, dass das, was immer da passiert war, nicht nur Leichlingen und Opladen betraf, sondern mindestens den größten Teil von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Ein zweiter Versuch, ein dritter, nachdem ich das Radio ein- und wieder ausgeschaltet hatte – es blieb dabei. Wie groß war das?

Stunden später wusste ich es. Ich saß im Wohnzimmer und schaute fern. Das Wohnzimmer gehörte zu einer Wohnung in einem der Mehrfamilienhäuser, die ich am frühen Nachmittag gesehen hatte, direkt an der Wupper mit dem Balkon auf der Rückseite zum Fluss hin. Die Balkontür stand offen, die Nachtbrise wehte herein und kühlte sanft und angenehm. Die Familie, die hier wohnte, hieß Müller, und das schien mir nur angemessen. Ich war in ihr Heim eingebrochen, der letzte Mensch in Leichlingen, in Nordrhein-Westfalen, wahrscheinlich in Deutschland und Europa, möglicherweise auf der ganzen Welt? Nachtfalter kamen durch die Tür herein, flatterten auf den Fernseher zu, prallten dagegen, flatterten davon, kamen zurück, prallten wieder dagegen, flatterten davon. Im Fernseher war nichts. Dieses altbekannte Fernseher-Nichts, irritierenderweise Schnee genannt, obwohl ich doch immer das Gefühl hatte, der Hintergrund sei weiß und die tanzenden Punkte schwarz. Ein Echo des Urknalls, hatte ich irgendwo einmal gelesen, die Hintergrundstrahlung des Universums. Das letzte Fernsehprogramm, das geblieben war. Denn sonst gab es nichts. Familie Müller hatte die programmierten Programme mit Namen versehen, so dass ich wusste, wo überall ich nichts sah. ARD, ZDF, RTL, SAT1, Pro7, Vox, arte … nichts. BBC – nichts. CNN und TV5 – nichts.

Die Familie Müller bestand aus drei Menschen, so viel hatte ich den herumliegenden Fotos, Notizzetteln und Visitenkarten entnommen: Vater Markus, ein Schlacks mit Halbglatze, Key Account Manager bei einem Unternehmen mit englischem Phantasienamen in Düsseldorf. Mutter Cordula, eine dickliche Blondine mit freundlichem Lächeln, Senior-Irgendwas bei Lanxess. Sohn Marcel, um die 15, Schüler und offensichtlich Fan von Green Day, den Toten Hosen und dem 1. FC Köln. Marcel hatte einen Laptop in seinem Zimmer, der freundlicherweise nicht durch ein Passwort gesichert war. Der Router im Wohnzimmer blinkte brav und diensteifrig, aber das Internet war vom Informationsstrom zur Slalomstrecke geworden. Ich bewegte mich durch eine virtuelle Ruinenlandschaft, sie erodierte, zerfiel, brach zusammen, ringsumher. Viele Seiten funktionierten noch, besonders Homepages älteren Datums. Andere gaben Fehlermeldungen oder meldeten, der Server sei kurzzeitig nicht zu finden, so Facebook, so Amazon. Das freundliche Vogelsymbol von Twitter erklärte, das Problem würde bald gelöst. Google hingegen suchte immer noch eifrig und zuverlässig und speicherte meine Suchanfragen sicher mit ebensolchem Eifer auf fernen Servern, die niemand mehr auslesen würde. Denn so viel war nun klar: Das Ereignis, das Verschwinden, wie immer ich es nennen wollte, es betraf alles. Buchstäblich die ganze Welt.

Als mir das völlig klar geworden war, ging ich ins Wohnzimmer, machte den Fernseher an und starrte in den Schnee, als wäre in dem Echo des Urknalls eine Botschaft für mich verborgen, die es zu entschlüsseln galt.

***

An den folgenden Tag erinnere ich mich nur als Strom wirrer Bilder. Habe ich in dem Fernsehsessel geschlafen oder in einem der müllerschen Betten? Wann bin ich aufgestanden, was habe ich gegessen, was habe ich gedacht oder gefühlt, als ich das Haus verlassen habe? Warum habe ich es überhaupt verlassen? Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr, ich sehe nur Bilder:

Ich stehe vor der Buchhandlung in der Fußgängerzone und starre durch das Schaufenster. Ich will ein bestimmtes Buch haben, ich weiß nicht mehr, welches. Ich traue mich nicht, das Schaufenster oder die Glastür einzuschlagen.

Ich sitze in einer Kirche, es ist die evangelische Kirche an der Marktstraße, neben dem Schulzentrum. Ich singe die lästerlichsten Lieder, die ich kenne, und brülle die Figuren auf einem Bild des letzten Abendmahls an.

Ich hocke nackt neben dem großen Schwimmbecken im Freibad. Ich bin nicht nass, mir ist nicht kalt. Ich bin entschlossen zu schwimmen. Ich weiß nicht, ob ich es wirklich getan habe.

Ich klettere die steile Straße zum Bahnhof hinauf. Es ist dieselbe Straße, die ich am Tag zuvor hinuntergekommen bin, und im Grunde ist sie gar nicht so steil. Es ist eine ganz normale, abschüssige Straße, wer gesund und kräftig ist, kann sie in zügigem Tempo hinaufspazieren. Ich bin gesund, ich bin sportlich. Ich habe das Gefühl, einen Berg zu erklimmen, ich schwitze und keuche. Ich bin durchnässt vom Schweiß, aber ich will mein T-Shirt nicht ausziehen, weil ich einen Sonnenbrand fürchte.

Ich stehe im Gleisbett am Bahnhof, wieder. Ich wünsche mir verzweifelt, dass ein Zug kommt und mich überfährt. Ich weiß, dass keiner kommen wird. Ich spüre die Sonne in meinem Gesicht und auf meinen Ohren. Ich will endlich sterben. Und ich fürchte einen Sonnenbrand.

Es ist Abend, und ich sitze wieder in der Tankstelle. Ich habe es nicht über mich gebracht, mich noch einmal an den Vorräten der Müllers zu vergreifen, aber hier habe ich keine Hemmungen. Die Aral-Tanke ist mein Basislager geworden. Aus der müllerschen Wohnung habe ich einige Decken und ein Kissen hergebracht, dazu ein paar Bücher, alles in Marcels Wanderrucksack. An dem stecken Badges diverser Städte und Jugendherbergen, aus Belgien, England, Schottland und Irland. Marcel war in den Osterferien mit einem Freund unterwegs. Interrail, ich hatte gar nicht gewusst, dass es das immer noch gab. Aber ich hatte ja Zeit gehabt, mich mit seinem Fotobuch zu beschäftigen. Elektrische Geräte funktionieren nicht mehr. Irgendwann, während ich durch die Stadt irrte, ist der Strom ausgefallen. Die Erinnerung beginnt wieder zu fließen. An diesem Abend in der Tankstelle, während ich Frikadellen, Sandwiches, Kekse und Snickers aß und mich wieder an Mineralwasser und Fanta labte (keine Notiz diesmal, ich hatte die Hoffnung, es irgendwann bezahlen zu müssen, aufgegeben), versuchte ich die Fakten klar zu bekommen. Es war ganz offensichtlich so, dass alle Menschen verschwunden waren. Mit Sicherheit in Leichlingen und Opladen, mit großer Wahrscheinlichkeit in ganz Westdeutschland. Und wenn der Rest der Menschheit nicht aus Trauer um die Rheinländer Fernsehen, Radio und Internet aufgegeben hatte, womöglich auch der. Was mich zum letzten Menschen auf Erden machte. Vielleicht. Wahrscheinlich. Irgendein Fehler war in dieser Logik, die Stimme, die mich seit gestern permanent nervte, war davon überzeugt, aber ich hörte sie nur murmeln und nuscheln, mir wurde nicht klar, was sie meinte.

Ich war also alleine.

Der Gedanke hätte schwer wiegen müssen, aber als ich ihn einmal gefasst, begriffen und formuliert hatte, war er eine gewaltige Erleichterung. Mir war schon klar, was passiert war. Mein Suizid war nicht missglückt, im Gegenteil. Irgendwann, während ich auf den Gleisen unterwegs gewesen war, war wirklich ein Zug gekommen und hatte mich überfahren. Wahrscheinlich ganz zu Anfang, bevor ich am Opladener Bahnhof angekommen war. Ein ICE wahrscheinlich, der Nahverkehrszug wäre an dieser Stelle noch langsam genug zum Bremsen gewesen. Doch es war so schnell gegangen, dass ich es nicht gemerkt hatte, oder ich hatte die Erinnerung verloren. Das Einzige, womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass es danach tatsächlich weiterging. Ich hatte zwar gerne über ein Leben nach dem Tod philosophiert, alleine und in Gesellschaft, aber wirklich damit gerechnet hatte ich nicht. Was für eine Vorstellung hat man von so etwas? Ein lichtdurchflutetes, wolkiges Paradies? Ein brennender Höllenschlund? Wärme, Licht am Ende des Tunnels, und als Letztes die Stimme der Hebamme: „Es ist ein Junge!“, bevor man dieses Leben vergisst und in ein neues eintaucht? Klischeebilder, aber ich hatte mit jedem davon und einigen mehr gespielt, ohne wirklich eine Idee zu haben. Meine einzige Erfahrung mit dem Tod, oder zumindest seiner Familie, war mein allnächtlicher Schlaf gewesen, tief, normalerweise, gesund und traumlos. Und nun das hier.

Ein Paradies stellte ich mir anders vor. Aber ich war ein Selbstmörder, nach den religiösen Ideen, die ich kannte, war ich damit wohl nicht für die ewige Seligkeit qualifiziert. Andererseits – die Hölle war das hier auch nicht, jedenfalls nicht die, die mir von Bildern und aus Filmen vertraut war. Mir war schon klar, dass mir diese leere Welt sehr bald sehr höllisch vorkommen würde. Ich hatte in letzter Zeit von Menschen gründlich genug gehabt, aber im Grunde war ich schon ein recht soziales Wesen, ich war ungern allein. Und alleiner als jetzt ging wohl nicht. Ich spielte ein wenig mit dem Gedanken, diese Theorie gleich mal auf die Probe zu stellen und von einem Haus oder einem der beiden nahen Kirchtürme zu springen, sparte mir das aber für später. Noch war ich nicht verzweifelt genug, und noch war ich neugierig genug auf diese Welt, die mir ganz alleine gehörte. Die Verzweiflung würde früh genug zurückkommen, dann war immer noch Zeit, ein Ende zu machen. Noch mal.

 

***

„And as I sit and talk to you

I see your face go white

This shadow hanging over me

Is no trick of the light …“

Ich war wieder auf der Party. The Turkish Song of the Damnded. Ich tanzte, Sonja tanzte mit mir. Um uns war eine Menschenmenge, die Partygäste, aber sie waren Schemen im Dunkel, nur Sonja war klar und hell, schien zu leuchten. Wir tanzten näher zueinander und begannen, uns synchron zu bewegen, immer näher, immer näher. Sie lächelte und sagte etwas, aber ich verstand sie nicht und zuckte mit den Schultern. Sie kam noch näher und flüsterte in mein Ohr. Eigentlich hätte sie brüllen müssen, aber das hier war ganz offensichtlich ein Traum, also zur Hölle mit der Logik. Ihre Lippen kamen meiner Haut so nahe, dass ich schauderte.

„Es hat vorher angefangen“, hauchte sie.

„Was?“

Sie bewegte sich wieder ein Stück von mir weg, gerade genug, um mir in die Augen sehen zu können. Diesmal konnte ich sie gut verstehen, obwohl die Musik immer noch hämmerte und sie ebenso leise sprach wie eben.

„Bis bald.“

Die Party war fort, übergangslos, und mit einem Mal war mir kalt. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass es höllisch kalt sein müsste, dann aber merkte ich, dass ich warme Kleidung trug. Der leichte Anzug, den ich seit zweieinhalb Tagen anhatte, in dem ich eingeschlafen war und den ich auch auf der Traumparty getragen hatte, hatte sich in eine Jeans, Kapuzenpulli, eine wattierte Jacke und Schnürstiefel verwandelt. Auf dem Rücken trug ich einen kleinen, offenbar dicht gepackten Rucksack. All dies registrierte ich, während mir weiterhin ganz bewusst war, dass ich träumte. Mir war sogar klar, dass das außergewöhnlich war – oder nicht? Vielleicht träumte ich ja jede Nacht so und konnte mich nach dem Aufwachen nur nicht mehr daran erinnern. Aber wiewohl ich träumte, fühlte ich den kalten, nassen Wind und roch den herbstkalten Wald, durch den ich mich bewegte. Ich jagte sie und fürchtete sie gleichzeitig. Sie … wer? Ich fühlte Gewicht in meiner Hand, schaute an mir herunter und sah, dass ich Lederhandschuhe trug, und in meiner Rechten – nein, das war zu albern. Zuerst erkannte ich die Form gar nicht, die sich da so sicher und traumvertraut in meine Hand schmiegte, doch dann verstand ich. Es war ursprünglich vielleicht eine Jagdwaffe gewesen, eine doppelläufige Schrotflinte. Jemand hatte die Läufe kurz hinter der Handstütze abgesägt – eine Klischeewaffe, die in keinem modernen Western fehlte. Was machte sie in meiner Hand und in meinem Traum? Doch während ich mich das fragte, wusste ich auf der Ebene meiner Traumrealität, dass das meine Waffe war, dass ich mit ihr vertraut war und mich auf sie verließ. Ich wusste, obwohl mein Zeigefinger sicher an der Seite der Waffe lag und ich nur die Oberseite sehen konnte, dass sie zwei Abzüge hatte, wusste, wie sie klang, wenn ich sie abfeuerte.

„Du musst sehr vorsichtig sein“, sagte eine Stimme neben mir. Ich drehte mich erstaunt in ihre Richtung – mir war klar, dass ich nicht alleine war, Freunde oder Verbündete waren mit mir in diesem Wald und auf der Suche nach … was auch immer. Aber so nah hatte ich niemand vermutet. Doch da war Erkan, ebenfalls kältefest gekleidet, er trug einen Parka. Er schien aber unbewaffnet zu sein.

„Wie bitte?“, raunte ich – mir schien ganz selbstverständlich, dass ich leise sein musste. „Sie“ würden mich sonst hören.

„Du musst sehr vorsichtig sein“, wiederholte er.

„Ah“, machte ich. War ich nicht vorsichtig? „Was meinst du?“

Aber er schaute nur in die Dunkelheit vor uns, als erwarte er, tief darin etwas zu erkennen.

„Es ist passiert“, sagte er. „Es hat schon vorher angefangen. Verstehst du? Es hat schon vorher angefangen.“

„Ich verstehe kein …“, begann ich, doch im nächsten Moment erhob sich der grauenvollste Ton, den ich je gehört hatte. Ein Heulen, laut, grell und allumfassend, überall um mich, als würde der ganze Wald heulen. Das Heulen spülte meinen Kopf leer und ließ nichts zurück als weiße Panik, ich fiel zu Boden und schrie lautlos, denn ich wusste, was nun geschehen würde, ich hatte es gesehen, sie würden kommen, und ich …

***

… wachte auf.

Im ersten Moment hörte ich immer noch das Echo des Heulens in meinem Kopf und wagte weder, mich zu bewegen, noch auch nur die Augen zu öffnen. Dann merkte ich, dass die Dunkelheit hinter meinen Augenlidern heller war, als ich erwartet hätte, und öffnete die Augen. Der Tankstellenshop war lichtdurchflutet, ein heller Tag. Kein Wald, kein Erkan, keine Kälte und schon gar keine abgesägte Schrotflinte. Kein Heulen. Dafür aber eine erstaunliche Erkenntnis: Ich erinnerte mich an den Traum, erinnerte mich an jedes Detail, zum ersten Mal in meinem Leben. Nein, nicht in meinem Leben, rief ich mir ins Gedächtnis. Ich war ja tot, und das hier war das Fegefeuer oder eine sehr ausgeklügelte oder detailreiche Vorhölle, ganz für mich alleine. Immer noch stimmte etwas nicht an dieser Idee, irgendein Detail …

Und dann fiel es mir ein, mit einem Mal, völlig klar. Wie hatten Sonja und Erkan in meinem Traum gesagt? „Es hat schon vorher angefangen.“

Vorher? Wovor?

Nun – ganz offensichtlich, bevor ich in Opladen zum ersten Mal die Gleise betreten hatte. Ich hatte mich gestern mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass die absurd leere Welt um mich herum mein ganz persönliches Leben nach dem Tode sei, das Ergebnis meines so lange gesuchten, finalen Schrittes. Aber das konnte nicht stimmen, denn auch schon auf meinem Weg zur Bahn hatte ich niemanden mehr gesehen. Ich konnte mir das wieder mit dem Vormittag und der Hitze schönlügen, aber das war albern. Die Karlstraße, in der der Bunker lag, in dem wir gefeiert hatten, verband die Humboldtstraße und die Kölner Straße. Und ich wusste immer noch genug über meinen alten Stadtteil, um zweifelsfrei sicher zu sein, dass, von tiefer Nacht abgesehen, die Humboldtstraße selten und die Kölner Straße nie menschen- und autoleer war, Hitze hin oder her. Sie waren es aber gewesen. In meinem vorgestrigen Zustand hatte ich dem kaum Beachtung geschenkt, nun aber stand es mir leider nur allzu klar vor Augen. Wie der verdammte Traum. Was immer geschehen war, schien meine inneren Sinne geschärft zu haben. Die ganze Zeit, von dem Moment an, in dem ich den Bunker verlassen hatte, bis zu dem Punkt, an dem ich auf die Gleise gestiegen war, hatte ich keine Spur eines Menschen gesehen oder gehört, auch nicht die irgendeines Fahrzeuges. Der letzte Mensch, den ich bewusst wahrgenommen hatte, war: David.

Ich setzte mich auf, die leichte Decke, in die ich mich für die Nacht gewickelt hatte, rutschte mir von der Schulter. David.

David war dort gewesen, ebenso der Zeichner mit der Ibuprofentablette, Matthias, Carmen … Der ganze Rest meiner alten Stufe, die verbliebenen Partygäste. Dann hatte ich den Bunker verlassen und – niemand mehr. Entweder war also der Moment, als ich das Gebäude verlassen hatte, der entscheidende gewesen, oder die Gesellschaft, in der ich mich befunden hatte. Ich rieb mir aufgeregt durchs Haar und merkte es kaum. Das bedeutete doch, dass es vielleicht ein Tor gab, ein Tor zurück in die Welt, die ich gekannt hatte. Die Tür des Bunkers. Wenn ich sie in die andere Richtung noch einmal durchschreiten würde …

„Vor nicht allzu langer Zeit warst du noch soooo erpicht darauf, diese Welt zu verlassen“, nörgelte die altbekannte Stimme. „Und jetzt willst du unbedingt zurück?“

„Halt die Fresse“, murmelte ich, stand auf, sah mich in der Tankstelle um und begann automatisch, mir ein Frühstück zusammenzustellen. Meine neuerdings übliche Diät: Saft, Wasser, Wurst und Käse, Süßigkeiten. Diesmal trank ich noch etwas H-Milch dazu. Während ich so frühstückte, kam mir ein weiterer Gedanke, ein Backup für den Fall, dass die Bunkertür doch nicht das Portal zwischen der leeren und der übervollen Welt war: Falls der Bunker nicht das zentrale Tor zwischen den Welten war (er war eine zugegeben bizarre Wahl dafür), sondern einfach nur irgendein Ort, so bedeutete dies, dass zumindest die Leute, die ich am Morgen dort gesehen hatte, nicht verschwunden waren. Die Welt mochte menschenleer sein, der Bunker war es nicht gewesen. Wenn ich noch übrig war, würden es auch die anderen sein. So oder so: Ich musste dringend zum Bunker zurück.

Nachdem ich gegessen und die Toilette des Tankstellenpersonals benutzt hatte (fließendes Wasser funktionierte noch), legte ich die Decken und das Kissen auf einen ordentlichen Stapel und verließ den kleinen Shop. Draußen stand die Sonne hoch am Himmel, es musste also um die Mittagszeit sein. Ich selbst trug keine Uhr, und um irgendwo einzubrechen und eine funktionierende mechanische oder batteriebetriebene Uhr zu suchen, erschien mir die Frage nicht wichtig genug. Ob ich um 12, 13 oder 21 Uhr zurück zum Bunker kommen würde, war völlig gleichgültig. Wichtig war, dass ich herausfand, was er war: ein geheimnisvoller Ort zwischen den Dimensionen oder einfach nur ein alter Bunker inmitten einer irrsinnig geleerten Welt? Kurz machte ich mir Gedanken darüber, ob es überhaupt klug wäre, nach Leverkusen zurückzukehren. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, was in den Fabriken des Bayerwerkes kochte und gärte und wie es sich verhalten würde, wenn zwei volle Tage lang niemand darauf aufpasste. Aber auch das war gleichgültig: Je nachdem, wie der Wind stand, war Leichlingen im schlimmsten Falle auch nicht sicherer als irgendein Ort in Leverkusen, und wenn ich sterben würde – ja, was dann? Wäre die Welt dann eben völlig leer? Wäre ich, falls meine derzeitige Haupttheorie zutraf, noch toter, als ich es ohnehin schon war? Müßige und sinnfreie Gedanken. Der einzige Ort, der im Moment irgendeine konkrete Erkenntnis versprach, war der Bunker. Also musste ich da hin, und alles andere war Nebensache.

Ich probierte einige der herumstehenden Autos aus. Überall steckten die Zündschlüssel, aber alle Batterien waren leer. Grundsätzlich war das gar kein Problem, schließlich hatte ich es nicht eilig, aber ich hatte einfach keine Lust, zurückzuwandern. Ich brannte nun auf die Antwort, die der Bunker bergen musste. In der Tasche meines Jacketts befand sich der Zündschlüssel meiner geliehenen Harley, fiel mir ein. Aber die Harley stand beim Bunker, und mein Jackett lag auf der daran angrenzenden Humboldtstraße. Ohne feste Absicht führte mein Weg mich zum Parkplatz am Rathaus. Dort standen ein paar Autos, deren Batterien sicher noch vollgeladen waren. Vielleicht konnte ich eines davon kurzschließen? Ich entschied mich für einen Passat älteren Baujahrs. Schon das Einschlagen der Seitenscheibe gestaltete sich viel schwieriger, als es in den Filmen immer aussah. Schließlich schaffte ich es mit Hilfe eines Steins, den ich aus dem Pflaster des Parkplatzes gelöst hatte. Als die Scheibe barst, schaute ich mich instinktiv um – etwas in mir weigerte sich immer noch zu glauben, dass derartige Akte der Zerstörung völlig straffrei bleiben sollten. Aber es war selbstverständlich genau so. Niemand schaute, niemand rief, niemand war hier.

Die Kunststoffverkleidung unter dem Lenkrad erwies sich ebenfalls als sehr viel widerspenstiger als im Fernsehen, aber schließlich gelang es mir, sie abzureißen. Darunter fand ich mehrere Kabelbündel, und ich hatte nicht die geringste Idee, mit welchem der vielen bunten Stränge ich sinnvollerweise anfangen sollte. Zum Autoknacker war ich wohl nicht geeignet. Das passte – mir waren Motorräder immer lieber gewesen, von deren Motoren und Mechanik verstand ich sogar etwas. Elektronik hingegen … Ich würde wohl doch laufen müssen.

Musste ich schließlich doch nicht, wenige Meter vom Parkplatz entfernt lag ein tadelloses Treckingrad auf dem Boden. Ich hätte über Waldwege und an der Wupper entlang zurück nach Opladen fahren können. Neben der Tatsache, dass dieser Weg weniger Steigungen aufwies als jede Alternative, hätte das vor allem den Vorteil gehabt, dass mir der Unterschied zwischen vorher und jetzt nicht so aufgefallen wäre. Aber jetzt wollte ich mich dem aussetzen. Als ich auf den Gleisen nach Leichlingen gegangen war, war ich so in mir selbst und von meinem eigenen Empfinden der Welt in mir eingenommen gewesen, dass ich gar nicht wahrgenommen hatte, dass die Welt um mich sich in einem unbegreiflichen Ausmaß verändert hatte. Der Gedanke erfüllte mich mehr und mehr mit Scham, noch einmal sollte mir das nicht passieren. Ich radelte also aus der Innenstadt heraus und die steile Straße zum Bahnhof hinauf. Die körperliche Anstrengung war ungewohnt, und für einen Moment fragte ich mich, ob es besonders klug war, mich dermaßen anzustrengen. Noch war es früher Vormittag, die Mittagshitze kündigte sich zwar erst an, aber was sollte das? Ich ließ die Gedanken fahren, legte einen noch niedrigeren Gang ein und strampelte entschlossen weiter, schnaufend und schwitzend. Denn das war etwas Handfestes: Ich spürte meinen Körper, das Blei in meinen Beinen, mein pochendes Herz, den Schweiß, der mir über Gesicht und Nacken lief und sich auf meinem Rücken ausbreitete. Ich fühlte mich lebendig. Diese Theorie, dass ich tot war, mochte als Gedankengebäude einen gewissen Trost bieten. Und gestern noch, nachdem ich nur halbwach durch die Stadt getaumelt war, umgeben von einer geistleeren Watte, die mich gegen den Irrsinn der Leere um mich abgeschirmt hatte, war ich nur zu bereit gewesen, daran zu glauben. Aber als ich den Hügel endlich erklommen hatte, links abbog, die Gleise überquerte und endlich absaß, mich auf mein Fahrrad stützte, keuchend, tropfend, mit pochenden Oberschenkeln und brennenden Wangen, da lebte ich. Selbstverständlich gab es eine Unmenge vernünftiger Argumente dafür, dass ich dennoch tot war, beginnend damit, dass niemand je bewiesen hatte, dass tot zu sein sich anders anfühlte als lebendig zu sein. Aber das war leeres Gedankenklingen. Wenn es wirklich so war, dann war das Wort „tot“ an sich sinnlos. Denn ich lebte, ich fühlte mein Leben, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich es ohne Hoffnungslosigkeit und Selbstmitleid. Und plötzlich lebte ich gern.

 

Bevor ich weiterfuhr, entledigte ich mich der Anzughose, die ich seit Freitagnachmittag getragen hatte und die inzwischen in jeder Hinsicht bewiesen hatte, dass sie für so lange Zeiträume nicht gemacht war. An zwei Stellen war sie gerissen, sie war fleckig, ich zog sie aus und warf sie zwischen die Schienen. Darunter trug ich schwarze Retro-Shorts, die von weitem sogar als knappe Radlerhose durchgehen würden, auch wenn die Monkey-Boots den Eindruck wieder zerstörten. Aber – wer sollte mich schon von weitem sehen? Ich hätte auch nackt radeln können, wenn mir danach gewesen wäre.

Der Fahrtwind strich angenehm kühlend um meine Oberschenkel, als ich von der Hochstraße in die Unterschmitte einbog, Tempo aufnahm, das mich die nächste Steigung hinauftrug, und dann hinabschoss, über die Trompeter Straße hinweg, an der Tankstelle vorbei und den Rothenberg hinab, in immer halsbrecherischerem Tempo, bis ich schließlich die Gütergleise überquerte und, nun schon auf Leverkusener Seite, die Steigung zur Sandstraße fast ohne jede Anstrengung nahm. Die ganze Zeit über zwang mich mein Tempo, meine Umgebung aufmerksam zu beobachten, einem herumliegenden Motorroller oder einem Kinderfahrrad auszuweichen und immer wieder Autos zu umkurven, die alleine oder in kleinen Knäueln die Straße blockierten. Alles irritierend intakt, ganz wie bei der ersten Ansammlung dieser Art, die ich in Leichlingen gesehen hatte. Vielleicht war es diese Fahrt, die mir half, klarer zu denken, trotz des Irrsinns, der mich umgab. Während ich die abschüssige Straße hinabgerast war, hatte ich die Realität dieser leeren Welt akzeptieren müssen, um nicht gegen einen Teil dieser Realität zu knallen und vom Rad zu fliegen. Andererseits hatte die Konzentration auf die Fahrt keine weiteren Gedanken zugelassen, keine Grübeleien über das Wie und Warum, während ich über den Asphalt schoss und in engen Kurven haarscharf Rückspiegeln und Anhängerkupplungen auswich. Nun radelte ich die Sandstraße in gemächlichem Tempo entlang und stellte zufrieden fest, dass ich vorerst meinen Frieden mit meiner altvertrauten Umgebung in ihrem völlig neuen Gewand gemacht hatte. Die Welt hatte sich also verändert. Die Menschen waren verschwunden. Ich war noch da. Alles andere, soweit ich das beurteilen konnte, auch. Die Häuser standen noch, die Sonne schien noch, Vögel zwitscherten. Die Fragen, die sich dahinter auftürmten, waren gewaltig, und mir war klar, dass ich irgendwann versuchen musste, sie zu beantworten, wenn ich nicht wahnsinnig werden wollte. Aber nicht jetzt. Jetzt musste ich mit meinem neuen Fahrrad das letzte Stück fahren, den Wupperberg hinab, über die Wupper nach Opladen hinein und hinauf in die Neustadt. Dort war der Bunker. Er würde die erste Antwort geben. Oder alle.

***

Während ich durch die Fußgängerzone rollte, blieb mein Blick an einem Modegeschäft hängen. Ich hatte gerade darüber nachgedacht, was ich mir von dem Bunker eigentlich erhoffte und was ich tun wollte, wenn er sich wirklich als ein Tor zurück in meine bekannte Welt entpuppte. Für eine Selbsttötung wäre die mit einem Mal viel zu interessant. Meine Nöte, das verdammte Buch, selbst Lynn, all das war so klein geworden, angesichts dessen, was hier geschehen war. Je näher ich dem Bunker kam, desto größer wurde in mir die Gewissheit, dass er die Lösung war. Nicht die Lösung des Rätsels, im Gegenteil, aber die Lösung für mein drängendstes Problem. Wenn ich erst einmal im Bunker war, würde ich wieder in meiner Dimension sein, wo ich mich auskannte, wo Menschen waren, wo die Welt den Lauf nahm, den ich von ihr erwartete. Die Fragen zu lösen, die bleiben würden, hatte ich dann den Rest meines Lebens und einen Planeten voller Wissen Zeit. Allerdings, fiel mir bei dem Blick auf den Klamottenladen ein, würde ich womöglich zunächst einmal ganz andere und sehr viel handfestere Probleme bekommen, wenn ich am Vormittag eines Werktages mitten in Deutschland nur mit T-Shirt, Unterhose und einem Paar Boots bekleidet ein öffentliches Gebäude betrat.

Der Laden stellte sich widerspenstig an, natürlich. Er war verschlossen, so wie auch alle Läden in der Leichlinger Fußgängerzone verschlossen gewesen waren, als ich vorgestern – war das wirklich erst vorgestern gewesen? – voller Unglauben dort entlanggetaumelt war. Ich drückte mit den Händen unschlüssig gegen das Glas der Tür und der Schaufensterscheibe. Irgendwann hatte dieser Moment kommen müssen, das war klar, aber ich hatte ihn dennoch gemieden. Die Tankstelle hatte mich mit ausreichend Nahrung verpflegt, und Müllers hatten mich durch den Balkon eingelassen. Jetzt war es also so weit. Ich scheute den Schritt – er war eine weitere Kapitulation, ein weiteres Akzeptieren des Irrsinns. Andererseits brauchte ich eine Hose. Ich würde, wenn ich nach Hause käme, pleite sein, das Gefühl kannte ich. Aber pleite und halb nackt?

Es war einfacher, als ich dachte, einen der roten Steine aus dem Pflaster der Fußgängerzone zu lösen. Nach dem dritten Wurf zerbarst das Sicherheitsglas der Tür und regnete in Tausenden kleiner Krümel auf den Boden. Ich betrat den Laden, fand schnell die winzige Herrenabteilung und ebenso schnell eine passende Jeans. Meine Größe war so langweilig normal, dass jeder Laden, der Jeanshosen führte, unweigerlich auch eine für mich hatte. Ich wählte, nahm noch einen Gürtel vom Accessoires-Ständer und machte mich bereit für die Rückkehr.