Nomaden

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„Er hat mich nicht überredet. Er hat mich gekauft“, sagte ich. „Mit 14.400 Euro.“

Thomas’ Gesicht hellte sich auf, ein breites Lächeln erschien darauf, offener und viel fröhlicher als dieses halbe Grinsen von vorher.

„Wie viel?“

„14.400.“

Seine Augenlider zuckten, und im nächsten Moment platzte ein Lachanfall aus ihm heraus, so spontan und ehrlich wie nichts, was er bis dahin gezeigt hatte.

„Du“, prustete er und zeigte auf Erkan, „du hast ja wirklich Humor. Hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

Erkan grinste fröhlich und zuckte mit den Schultern. Ich hatte genug. Ich hätte wirklich gerne gewusst, warum Erkan mir meinen Suizid abgekauft hatte. Aber mir war klar, dass ich keine vernünftige Antwort bekommen würde, zumindest solange Thomas dabei war. Ich stand auf: „Ich geh dann mal.“

Zu meiner Überraschung nahm Erkan meine Hand, drückte sie und sah mir in die Augen.

„Alles Gute“, sagte er. „Wir werden uns wiedersehen.“

„Yup“, sagte Thomas, ohne von seiner neuerlichen Betrachtung des Schachbretts aufzusehen. „Man sieht sich.“

Als ich ging, hörte ich, wie er zu Erkan sagte: „Wie wäre es – um Geld? Ein Cent pro Figur?“

Erkan lachte.

SONJA

Sie tanzte, um zu vergessen, dass sie nicht hier sein wollte, sondern zu Hause, bei Martin. Musik war Sonjas Fluchthelfer, ihre Tür zu sich selbst, ihr Schutz. Sie tanzte, versank, es gab nichts mehr als den Rhythmus, der in ihr widerhallte. Sie hatte nicht herkommen wollen, als klar war, dass Martin es möglich machen konnte, ein Wochenende, zwei Tage, ein paar mehr von diesen wertvollen, gestohlenen Stunden. Bald würde das vorbei sein, bald würden sie nicht mehr stehlen müssen, kein Verstecken, keine Blicke in die Runde, kein Raum zwischen ihnen, den sie erst überwinden durften, wenn die Zeugen fort waren. Aber noch waren es gestohlene Stunden, selten, die man nicht verschwenden durfte.

Er hatte sie ermutigt, hatte gesagt, dass es keine Verschwendung sein würde, und sie war gegangen, weil sie gesehen hatte, dass er es gegen seinen Willen gesagt hatte. Wieder seine Angst, sich in ihr Leben zu drängen, ihre Flügel zu kappen, was ihr, angesichts der Tatsachen, fast lächerlich abwegig vorkam.

„Es sind deine Freunde. Deine Vergangenheit, deine Party. Ich will nicht, dass du das verpasst, nur meinetwegen.“

„Ich habe da keine Freunde, Martin. Ich will bei dir sein.“

„Versuch es doch. Nur ein paar Stunden … ich bleibe wach, ich warte auf dich. Aber ich möchte nicht, dass du nachher traurig bist, etwas verpasst zu haben. Wir haben das ganze Wochenende.“

Sie hatte gelacht, nachgegeben und war gegangen. Sie hatte sich ein Limit gesetzt und tanzte ihm entgegen. Kein verdammtes Gerede. Die Leute hier waren ihr genau so egal, wie sie es vorausgesehen hatte, vielleicht abgesehen von Doris Jovic. Die wiederzusehen hatte wirklich gutgetan, sie waren sofort wieder auf einer Wellenlänge gewesen, als wäre gar keine Zeit vergangen. Sie hätte sich gerne noch länger mit ihr unterhalten, aber Doris hatte so ziemlich jeden auf dieser Party irgendwann schon einmal abgeschleppt – im wörtlichen Sinne, sie war Juniorchefin des größten Berge- und Abschleppunternehmens in Leverkusen –, und dauernd wollte irgendjemand mit ihr darüber reden, sie hatten keine Ruhe gehabt. Letztlich hatten sie aufgegeben, sich lachend umarmt, Facebooknamen ausgetauscht und sich versprochen, die alte Freundschaft zu erneuern.

Und nun tanzte sie, durch „Jolly Roger“ und „The Voice“, „Pressure“ und „Fatman“, das ganze alte Zeug der 80er Stufe, völlig durcheinander, unpassend und chaotisch eigentlich, aber es war gut, eine neue Erinnerung, ein neuer Rhythmus mit jedem Lied.

DAF hatte sie eben aufgefordert, „Den Mussolini“ zu tanzen, als sie spürte, dass jemand neben ihr war, sich mit ihr bewegte. Sie schaute auf und grinste. Es war der Schriftsteller, Jo, der Typ, von dessen Buch plötzlich alle sprachen, weil es wichtig zu sein schien, dass er ein Promi war, zumindest so eine Art-von-Promi, und dass er aus ihrer Stufe hervorgegangen war. Sie hatte das Buch gelesen, vor ein paar Jahren schon, und es hatte ihr nicht gefallen. So eine Endzeitgeschichte, nicht unspannend, aber so sehr an den Haaren herbeigezogen, dass sie weder die Situation noch die Figuren hatten fesseln können. Was ihr allerdings gefallen hatte, den ganzen Abend und von weitem, war, dass es Jo peinlich und unangenehm zu sein schien, dauernd darauf angesprochen zu werden. Sie hatte ein paarmal mitbekommen, wie ihn jemand darauf angequatscht hatte, und jedes Mal schien er sich nach einer Fluchtmöglichkeit umzusehen. Damit gewann er ebenso an Punkten wie damit, dass er hier mit Sakko und passender Hose über einem schwarzen T-Shirt aufgetaucht war. Bei einer Veranstaltung, in der so viele so viel verlorene Jugend wieder zurückzugewinnen versuchten, schien ihm das völlig egal zu sein. Sie hatte Jo zu Schulzeiten kaum gekannt, aber hier schien er einer der wenigen Lichtblicke zu sein – und eben nicht, weil er einen Anflug von Prominenz hatte, davon hatte sie nachhaltig genug. Wie oft hatte sie sich in den letzten Monaten gewünscht, der Prominente, der jetzt zu Hause auf ihrem Sofa saß und sich wahrscheinlich irgendeinen Film auf DVD reinzog – Arbeit hatte sie ihm verboten –, sei weniger berühmt.

Jo hatte sie nicht angetanzt, aber er fing ihren Blick auf, lächelte ebenfalls und bewegte sich mit ihr. Sie hatten Spaß daran, gemeinsam, unausgesprochen, und machten weiter, durch „Enola Gay“ und den „Turkish Song of the Damned“, bis Kim Wilde begann, die „Kids in America“ zu besingen. Sonja stöhnte hörbar, ihr Tanz fiel in sich zusammen, Jos ebenso. Sie lachten, und Sonja deutete mit dem Kopf gegen die Decke, Jo nickte.

Oben nahm sie sich einen Wodka Lemon vom Buffet, Jo tat es ihr nach. Sie setzte sich auf ein Sofa und erfreute sich an seinem ratlosen Blick. Er versuchte offensichtlich, sie einzuordnen, und scheiterte bei dem Versuch.

„Sonja“, sagte sie.

Jo schaute verdattert. „Was?“

Sonjas Stimmung stieg stetig, sie grinste wieder. „Sonja Krings. Mein Name. Du hast mich eben so fragend angesehen. Du hast keine Ahnung, wer ich bin, oder?“

Jo machte eine ertappte Geste. „Ahnung schon. Du hast was mit Musik gemacht, oder? Und warst früher blond.“

, Was mit Musik gemacht‘ – so konnte man das auch nennen, ja. Sonja war ihm nicht böse, es war alles so lange her. Hatte er damals auch schon geschrieben? Für die Schülerzeitung vielleicht? Sie wusste es nicht, und es war auch nicht wichtig, ebenso unwichtig wie die Frage, ob er die miese Schulband noch auf dem Schirm hatte, die ihr Sprungbrett gewesen war. Aber es war gut, hier zu sitzen und Spaß an einer völlig belanglosen kleinen Konversation zu haben mit jemandem, der sich und die allgegenwärtige Vergangenheit offenbar nicht besonders wichtig nahm.

„Hey!“, gab sie spielerisch erbost zurück. „Ich war die Schlagzeugerin unserer legendären Schulband., Hanno and the Bruces‘, remember? Was mit Musik gemacht, tststs … Und ich war nie wirklich blond. Ich bin eher so langweilerhellbraun.“

Jo schaute auf ihre Stirn, in die Fransen ihres kurzgeschnittenen Haares fielen. Blauschwarze Fransen. „Ah.“

„Man nennt es färben.“

„Und die Band“, er schnippte mit den Fingern, „der Frontman war ein Lehrer, Hanno …“

„… Statthaus, ja. Hanno Statthaus. Hielt sich für den verlorenen Zwillingsbruder von Bruce Springsteen. Daher der Name. Er hat es nie kapiert.“ Sie hätte fast gekichert bei der Erinnerung. Hanno war wirklich zu albern gewesen, wenn er versucht hatte, seine lange verlorene Jugend als Frontman einer Schülerband wiederzubeleben.

„Ihr wart gar nicht schlecht“, versuchte Jo, und es war ihm überdeutlich anzusehen, dass er keine Ahnung hatte, wovon er sprach. Sonja konnte nicht mehr anders, sie prustete los.

„Mann, bist du ein mieser Lügner“, lachte sie. „Wir waren schlecht. Hanno hat gesungen wie Kermit der Frosch, von seinem Gitarrenspiel gar nicht zu reden. Carmen hat uns gerettet. Die konnte nämlich echt Gitarre spielen. Und ich, weil ich eine gute Schlagzeugerin bin. Und damals schon war. Du erinnerst dich aber an Carmen, oder?“

Er nickte. „Ja. Die habe ich aber noch gar nicht gesehen.“

Sonja hatte Carmen früher am Abend getroffen, gerade als sie durch die Eingangstür des Bunkers gekommen war, den Gitarrenkoffer in der Hand. Ein paar Worte über Belanglosigkeiten und alte Zeiten, dann waren sie getrennte Wege gegangen. Aber wenn Carmen die Gitarre auspacken würde … „Sie ist hier. Vielleicht spielt sie ja später noch, könnte sich lohnen.“

Jo zuckte mit den Schultern. „Mag sein.“

Sonja schaute ihn erstaunt an, dann verstand sie. Ihm war das alles hier egal, ebenso egal wie ihr, und das machte sie zu Komplizen, wie seltsam das auch anmutete. Sie sahen sich eine Weile wortlos an, sie wartete, er suchte. Schließlich lachte sie wieder und half ihm: „Hallo Sonja, schön, dich wiederzutreffen, was machst du denn jetzt so … und lächeln. Lächeln ist wichtig.“

Jo lächelte wirklich, unsicher, wie widerwillig. „Du hast selbst gesagt, dass ich mich nicht an dich erinnere. Tut mir leid, aber …“

„Touché.“ Mit einem Mal mochte sie ihn wirklich und lächelte zurück, mochte ihn so sehr, dass sie in Betracht gezogen hätte, ihn mit nach Hause zu nehmen, wenn da nicht Martin gewartet hätte, den sie so viel mehr mochte als jeden anderen, der so viel wichtiger und wirklicher war. Dennoch – das versprach interessant zu werden. Sie entschloss sich, die unangenehme Wahrheit auszuprobieren: „Ich weiß aber, wer du bist, Jo. Und ich habe …“

 

„… das Buch gelesen“, vollendete er den Satz.

„Hmja.“ Sie suchte nach den richtigen Worten. Wahrheit, ja, aber wehtun wollte sie ihm nun auch nicht.

„Und?“

„Na ja.“ Sie räusperte sich, nach Worten suchend. „Es … äh …“

„Es hat dir nicht gefallen.“

Sonja fühlte sich ertappt und fürchtete, dass das nette Gespräch jetzt doch ins Unangenehme kippen würde. Das hatte sie nicht gewollt, sie hätte besser ihre Klappe gehalten, einmal mehr. Verdammt. „Also … nein, nicht richtig …“

Und zu ihrer grenzenlosen Verblüffung lachte Jo, ehrlich und wie befreit. Er ließ sich in die Lehne des Sofas fallen, Sonja suchte nach einem Zeichen von verletztem Stolz oder überspieltem Ärger in seinem Gesicht, aber da war nichts dergleichen. Er schien im Gegenteil zum ersten Mal tatsächlich gelöst, erst jetzt wurde ihr klar, wie angespannt er die ganze Zeit gewirkt hatte. Dennoch – die Veränderung war so plötzlich und verblüffend, dass sie automatisch eine Entschuldigung suchte. „Tut mir ehrlich leid, aber …“

Er atmete tief durch und schenkte ihr einen zutiefst freundlichen Blick. „Vergiss das blöde Buch, Sonja, ich hasse es. Also: Schön, dich wiederzutreffen, was machst du denn jetzt so?“

Sonja war erleichtert – sie hatte sich nicht getäuscht. Sie begann zu erzählen, im Schnelldurchgang, von ihrer Zeit an der Kölner PH und vom Ende ihres Kindertraums, Musiklehrerin zu werden – sie hatte während eines Schulpraktikums einen Lehrer niedergeschlagen. Das Arschloch hatte einer völlig verstörten Fünfzehnjährigen an die Brüste gefasst, um sie davor zu warnen, was „manche Jungs machen“. Es hatte kein Nachspiel gegeben – für niemanden, aber damit war ihr klar gewesen, dass sie um Schulen in Zukunft lieber einen Bogen machen würde. Sie erzählte von der Freundin ihrer Mutter, der Landschaftsgärtnerin, und von der Lehre, die eigentlich eine Verlegenheitslösung gewesen war und die Sonja aus Versehen zu ihrem Traumberuf geführt hatte – oder der Nummer zwei unter ihren Traumberufen. Sie überlegte, ob sie ihm auch von der Musik erzählen sollte, dem, was eigentlich wichtig war, aber sie fürchtete, ihm jetzt schon auf die Nerven zu gehen. Was machte sie hier? Die Rolle der Plaudertasche gefiel ihr nicht, und hier schon erst recht nicht. Aber jetzt, da er Mut gefasst hatte, stellte Jo auch noch die richtige Frage:

„Und was ist mit der Musik?“

Sie lächelte innerlich, dankbar. Nach außen blieb sie im Plauderton. „Oh, ich spiele immer noch. Professionell sogar, in einem Jazzprojekt und einer Punkband.“ Jo schaute verdutzt, klar, das machten alle. Sein Staunen über die Kombination und sein ehrliches Interesse danach waren auch die Eisbrecher bei Martin gewesen. Sonja lachte. „Doch, das geht. Es ist die Musik, nicht die Schublade.“

Er grinste, und sie verstand, dass er verstand. „Ganz schön volles Leben.“

Sie zwinkerte. „Sport mache ich auch. Kampfkunst.“ Sie nannte ihm die wichtigsten Disziplinen, die, in denen sie Meistergrade hielt, und er machte ein angemessen verwirrtes Gesicht – er hatte keine Ahnung und schämte sich nicht dafür. Das wurde ja immer besser. Sonja lachte.

„Und Familie?“, arbeitete Jo den Rest des Fragenkataloges ab. „Mann? Kinder?“

Reflexhaft wollte sie ihm die Geschichte erzählen, mit der sie sich heute Abend alle vom Leib gehalten hatte – oder eher die Floskel. Von der Familie, die zu Hause wartete und zu der sie früh zurückmüsse. Erwartungsgemäß führte das dazu, dass niemand weiter nachfragte. In fünf Jahren würde das anders sein, vermutete sie, dann würden Kinder das Hauptthema sein – aber im Moment war „Familie“ hier noch ein Synonym für „gebremstes Leben“. Und die Hoffnung, dass die Jugend, die in Wahrheit bereits vorbei war, noch möglichst lange anhalten möge, war der geheime Kitt, der den Abend zusammenhielt und die meisten der anderen verband. Aber sie hatte Lust, Jo gegenüber bei der Wahrheit zu bleiben.

„Ein Freund. Seit ein paar Monaten.“ Sonja bemerkte, wie sie verträumt wurde. „Es ist alles etwas kompliziert. Wir … wir können uns nicht oft sehen, und dieses Wochenende hat es mal geklappt. Er ist heute Nachmittag angekommen. Und jetzt sitzt er bei mir in der Wohnung rum, weil wir ja ausdrücklich keine Partner mitbringen durften.“

Jo bekam große Augen. „Was machst du dann hier? Wenn ich ’ne Freundin hätte, frischverliebt dazu … Ich würde meinen Abend nicht damit verbringen zuzusehen, wie 100 Leute wieder in ihre Pubertät zurückretardieren.“

Sie hatte den spontanen Drang, ihn zu umarmen, und schaute stattdessen auf ihre Hände. „Ich wollte auch nicht. Aber er hat mich gedrängt. Familie und Freunde … Das alles ist ihm so wichtig. Er hat gesagt, er will sich nicht zwischen mich und meine Freunde drängen. Ich soll unbedingt gehen. Na ja, ich werde wohl nicht lange bleiben, ich will nach Hause zu ihm. Und Freunde, hier …“ Sie schnaubte – und Jo nickte.

„Willkommen im Club.“

Sie sah ihn an. „Sind dir auch alle hier so fürchterlich egal?“

„Nicht alle. Aber ich wollte eigentlich auch gar nicht kommen.“

„Und warum bist du hier?“

„Erkan hat mir eines von diesen Angeboten gemacht, die man nicht ablehnen kann“, antwortete Jo. „Und jetzt ist er nicht mal hier. Sitzt drüben vorm Pentagon, spielt Schach mit Thomas und gibt den Smartass.“

„Erkan …“, sinnierte Sonja. Für einen Moment hatte sie nicht die geringste Ahnung, von wem er sprach – sie hatten einen Erkan in der Stufe gehabt? Hatices kleiner Bruder hatte Erkan geheißen, so viel wusste sie noch, aber der war zwei Stufen darunter gewesen … Dann kam die Erinnerung zurück, seltsam klar und stückweise, ein Erinnerungspuzzle, das begann, ein Bild zu ergeben.

„Ach ja, der“, sagte sie vage, unsicher, was das Bild ihr sagen wollte. „Es ist komisch, oder? Nachdem Martin – also mein Freund – mich bequatscht hat, doch hierhinzugehen, habe ich noch gedacht, es könnte interessant sein, einfach um mal zu sehen, wie die Leute sich so entwickelt haben. Aber es ist egal. Es ist völlig egal, wer Arzt geworden ist, wer Banker, wer Bildhauer, wer immer noch studiert. Nach zwei Stunden sind wieder alle die Alten.“ Sie grub in den geistigen Gesprächsnotizen, die sie in dem ganzen leichtgewichtigen Geplauder gesammelt hatte. „Jan zum Beispiel. Es ist echt eine Schande, er gibt wieder den dämlichen Clown, den er neun Jahre lang gegeben hatte. Weißt du, was der im wirklichen Leben jetzt macht?“

„Nö“, sagte Jo, und sie sah, dass er sich zu erinnern versuchte, wer Jan war. Er stand ganz in der Nähe, unübersehbar, hünenhaft. Sonja deutete mit dem Kopf auf ihn.

„Der ist Oberleutnant bei der Bundeswehr! Der war vor ein paar Wochen noch in Afghanistan. Ich meine – so etwas ist doch interessant, das ist die Wirklichkeit. Stattdessen macht er wieder einen auf Mario Barth.“ Sie kramte weitere Notizen aus dem Gedächtnis, Notizen, die sie spätestens übermorgen schon verbrannt haben würde. „Susie ist gerade nach München gezogen, weil sie da in Beratung macht. Hier ist sie nur die kleine Maus von früher. Oder David. Der ist jetzt Chef von so einem Oberwichtigcharitylogistikunternehmen.“ Sonja lachte bitter. „Aber heute interessieren sich alle nur dafür, dass er die Nummer hier organisiert hat und dass er früher Schülersprecher war. Das ist doch völlig albern.“

Jo zuckte mit den Schultern. „Aber die Mucke ist gut.“

Sie starrte ihn kurz erstaunt an und grinste dann. Er hatte verstanden, wieder. Wie angenehm. „Genau. Tanzen?“

„Tanzen!“

Sie kehrten zurück nach unten und tanzten lange, bis sie schließlich wieder getrennte Wege gingen. Später in der Nacht, als sie ihr Zeitlimit erreicht hatte und die Sehnsucht sie nach Hause zerrte, stand er plötzlich wieder vor ihr. Schwer betrunken, aber immer noch die angenehmste Erinnerung, die sie mitnehmen würde. Von Doris und ihm würde sie Martin erzählen, von niemandem sonst. Sonja hatte die Jacke schon an und freute sich, sich noch von Jo verabschieden zu können. Sie umarmte ihn, und er erwiderte die Umarmung – etwas verblüfft, leicht schwankend und herzlich.

„Grüß deinen Martin“, sagte er mit etwas schwerer Zunge. „Unbekannterweise …“ Das Wort bekam er gut heraus und war sichtlich stolz darauf. Sonja lachte.

„Mache ich. Melde dich mal, ja? Facebook?“ Sie dachte kurz nach und sagte dann: „Und schreib noch ein Buch. Ein besseres, das kannst du, ich bin sicher.“

„Klar“, sagte er. „Sicher.“

Sonja schaute ihn prüfend an, er wirkte mit einem Mal wie verloren. Aber dann lächelte er wieder und zwinkerte ihr zu. Sonja winkte, Jo winkte zurück und wandte sich in Richtung des Raumes, den sie zur Lounge ernannt hatten. Sonja schaute ihm kurz nach, dann wandte sie sich um, lief die Treppen hinunter und hinaus.

Nach Hause.

DAVID

„Da oben pennen immer noch welche“, sagte Kerstin. „Das muss doch echt nicht sein, die sollen sich jetzt auch mal nützlich machen oder nach Hause gehen, wir haben noch eine starke halbe Stunde, dann müssen wir hier raus sein.“ David, Matthias und sie hatten gerade den Tanzboden gefegt, langsam mussten sie hier raus, wenn sie nicht noch den halben Samstag zusätzlich bezahlen wollten.

„Ich kümmere mich darum.“ David stellte den Besen ab und ging nach oben, Matthias folgte ihm, einen Müllsack hinter sich her schleifend. Oben begann er, Becher, Pappteller und Plastikbesteck einzusammeln, während David die Decken entfernte, mit denen sie die Fenster abgehängt hatten. Das half. In die meisten der dösenden Gestalten auf Sofas, Sesseln und Fußboden kam Bewegung. Direkt vor ihm kroch Daniel aus seinem Schlafsack. Erst hatte er sie alle mit seinen Karikaturen unterhalten, dann hatte er sich fürchterlich besoffen und war hier zusammengesunken. Immerhin hatte er es noch in seinen Schlafsack geschafft, das konnte man nicht von allen behaupten. David überlegte, ob er Daniel erzählen solle, dass Esther sich seine Adresse hatte geben lassen, ließ es dann aber. Er wusste ja gar nicht, warum sie die hatte haben wollen, vielleicht plante sie eine Überraschung oder so etwas.

Doris und Carmen waren beide wach, saßen in zwei Sesseln und unterhielten sich in aller Ruhe, als wollten sie die Party einfach fortsetzen. Etwas Sorgen bereitete ihm dagegen Jo. Der Schriftsteller hatte sich auf einem viel zu kleinen Sofa zusammengerollt, schon bei seinem Anblick bekam David fast Rückenschmerzen. Jo schnarchte zum Steinerweichen. David rüttelte sanft an seiner Schulter.

„Jo? Hey, Mann, wach mal auf. Jo?“

Er schüttelte noch mal vorsichtig. Jo machte kurz die Augen auf und schloss sie sofort wieder. Dann blinzelte er mehrmals, öffnete die Augen endgültig und ließ sie kurz durch den Raum schweifen, bis sie auf David zur Ruhe kamen. Jo sah erbarmungswürdig aus, blass und verschwitzt mit tiefen Schatten unter den Augen.

„Alles gut mit dir?“, fragte David besorgt.

Jo versuchte zu nicken, ließ es aber nach dem ersten Versuch sofort wieder. „Ja, klar“, murmelte er verschliffen. „Hab’ nur ’was verkrümmt geschlafen. Und ’n Kater.“

David lachte. „Da bist du nicht der Einzige. Tut mir leid, aber ich musste dich wecken, wir müssen um zehn hier raus sein.“

Jos Blick wurde klarer, er setzte sich auf, blinzelte zweimal heftig und stand auf. „Wie viel Uhr ist denn?“

„Halb zehn durch.“ David schaute ihn noch einmal prüfend an. „Willst du ein Aspirin?“

Jo schüttelte den Kopf und verzog sofort das Gesicht. „Nee, vertrage ich nicht. Hast du ’ne Ibuprofen?“ David verneinte. Er hatte gestern einfach die erstbeste Schachtel aus dem Schrank genommen, bevor er zur Party gekommen war, es waren ASS-Tabletten gewesen. Und die waren jetzt auch fast alle.

„Ich habe Ibuprofen“, sagte jemand hinter ihnen. „Vierhunderter?“

„Klar“, sagte Jo, „danke.“ Sie drehten sich gemeinsam um und sahen in Daniels Gesicht. Er sah immer noch reichlich zerknautscht aus. Mit der Rechten streckte er Jo den zerdrückten Rest eines Blisters entgegen, in dem sich eine einzelne pinke Tablette befand. Jo nahm sie. „Danke“, sagte er noch einmal und zwang seinen Mund in ein Lächeln. Daniel lächelte, ähnlich gequält, und David musste innerlich grinsen. Ja, für die beiden hatte der Abend hart geendet.

„Nicht dafür“, erwiderte Daniel, klopfte Jo auf die Schulter, schüttelte David die Hand, verabschiedete sich und trollte sich durch die Tür zum Treppenhaus. Jo schluckte die Tablette mit Hilfe des Inhaltes eines Pappbechers, den Matthias hinter dem Sofa übersehen hatte. Was immer darin gewesen war, es musste widerlich sein. Jo schüttelte sich angeekelt, klaubte sein Jackett vom Boden, klopfte es aus und zog es über. David sah ihn zweifelnd an. Er war vorhin draußen gewesen, es war jetzt schon so heiß, dass er keine Menschenseele vor der Tür gesehen hatte, an einem Samstagvormittag nicht weit von der Opladener Innenstadt. Das würde ein gnadenloser Sommertag werden.

 

„Du wirst ganz schön schwitzen“, warnte er Jo. „Draußen ist es jetzt schon verdammt heiß.“

Der zuckte mit den Schultern: „Mir egal.“

Der Mann hatte offenbar Todessehnsucht. „Okay. Na dann …“ Er stockte, dann schnippte er mit den Fingern. Sonja war ihm eingefallen und ihr seltsames Verhalten gestern. Und dass sie eine ganze Zeit mit Jo herumgehangen hatte. „Ich wollte dich noch was fragen. Du hast dich doch gestern länger mit Sonja unterhalten, oder? Sonja Krings.“

„Ja. Und mit ihr getanzt. Warum?“

„Kennst du sie noch gut? Also … habt ihr viel Kontakt oder so?“

Jo lachte. „Nein. Ich habe sie gestern zum ersten Mal seit dem Abi gesehen.“

„Hm.“ David versuchte, den Grund seiner Sorge zu fassen. „Du weißt nicht, ob irgendwas mit ihrer Familie ist oder so?“

„Familie? Nein, wieso?“ Er schien irritiert.

David überlegte. „Nur so. Sie sagte gestern, dass sie zu ihrer Familie müsse, und war dann ganz schnell weg. Sie war so komisch. Ich dachte … Ich habe mir irgendwie Sorgen gemacht.“

Jo zuckte mit den Schultern. „Echt, keine Ahnung, David.“ David schüttelte seine Sorge ab.

„Ist ja auch egal. Jedenfalls … tschüss, Jo.“ Er reichte ihm die Hand, Jo nahm und drückte sie – einmal und dann noch mal, mit überraschender Herzlichkeit.

„Danke für die Party und alles.“

David lächelte. Einen Dank hatten Kerstin, Matthias und er heute Morgen selten zu hören bekommen, obwohl augenscheinlich alle eine gute Zeit auf der Party gehabt hatten. „Hat’s dir gefallen?“

„Ja, wirklich. Und es hat gutgetan, mal wieder mit ein paar Leuten zu reden.“

„Freut mich.“ Er lachte fröhlich. „Matthias, Kerstin und ich haben gedacht, wir machen das nächste Treffen schon in fünf Jahren, was hältst du davon? Wir haben immer noch Geld in der Kasse vom Abiball und …“

„Ach ja, das Geld“, unterbrach Jo ihn. „Ich habe noch gar nicht bezahlt. Wie viel? Zwanzig Euro?“

David wehrte ab. „Musst du aber nicht jetzt machen. Du kannst mir das nächste Woche überweisen oder so.“

„Nee, besser jetzt.“ Jo griff in die hintere Tasche seiner Hose, zog einige Scheine heraus und drückte sie David in die Hand. „Hier. Der Rest ist für die Abiballkasse. Trinkt was auf mich, falls ich beim nächsten Mal nicht dabei sein sollte.“ David schaute verdutzt auf das Geld. Das waren mehr als hundert Euro. „Warum …“, begann er, aber Jo war schon durch die Tür des Bunkers verschwunden.