Kommissar Schlemperts zweiter Fall: Recht & Unrecht

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Montag

Als ich in der Früh ins Revier komme, wundert sich niemand. In so einem Fall scheint es üblich zu sein, dass der Urlaub und die Familie zurückstehen müssen.

Es ist kurz nach sieben und unser Büro ist noch verwaist, also Rechner hochfahren, die Post durchsehen, Kaffee holen und Mails abrufen, das übliche morgendliche Ritual eben. Die französische Polizei bestätigt, dass in Toulon ein Charles van de House gemeldet ist. Im Laufe des Tages wollen sie eine Streife bei ihm vorbeischicken, um zu sehen, ob er am Leben ist.

So oder so ähnlich soll der Wortlaut der E-Mail sein, meint zumindest der Onlineübersetzer. Die Mail ist auf Französisch, weshalb ich mir mit dem Übersetzer helfen musste, denn Französisch verstehe ich gar nicht. Portugiesisch, Arabisch, Türkisch und Andalusisch auch nicht. A little bit english vielleicht, aber null Komma gar nix Französisch. In einem Schuhgeschäft in der Champs-Elysées begrüßte mich einst ein freundlicher Verkäufer mit „Bonjour“, worauf ich ihm ebenso freundlich mit „Ja, ein Paar braune bitte“ antwortete. Meine Familie konnte darüber herzlich lachen. Ich nicht!

„Kommissar Timo Gebauer wünscht dem Außenstellenleiter Dieter Schlempert einen wunderschönen guten Morgen.“ So begrüßt mich nun mein Kollege und fühlt sich auch noch spaßig dabei.

Dass ich Timo nach meinem Urlaub mit den Worten „Halt die Fresse, Idiot“ begrüße, hätte ich mir zuvor nicht träumen lassen.

Aber er reagiert relativ gelassen: „Hab dich auch lieb.“

Nun kommt auch Laura zur Tür herein und sieht wieder zum Dahinschmelzen aus, zumindest wenn man auf Terminator steht, mit khakifarbener Hose und einem hautengen Top. Darüber trägt sie eine kurze offene Lederjacke, sodass man die beiden Pistolenhalfter sieht.

Da wir nun komplett sind, setzen wir uns an den Besprechungstisch. Davor stellen wir unsere Tafel, auf der wir in bunten Lettern die Namen unserer Beteiligten eintragen. Viel zu schreiben gibt es nicht. In der Mitte steht in Rot geschrieben „Charles van de House“, von dem wir noch nicht viel wissen, außer dass er vermutlich bei der Gerichtsmedizin auf dem Seziertisch liegt. In Grün steht noch „Phillip Hubertus“ an der Tafel, was bedeutet, dass er nicht unter Mordverdacht steht. Damit ist nicht viel anzufangen. Wir müssen dringend Indizien, Fakten und alle möglichen Hinweise sammeln.

„Timo, recherchiere du mal im Internet nach dem Namen van de House, ob da was zu finden ist“, beginne ich mal Aufgaben zu verteilen. „Und Laura, da du etwas Französisch sprichst, könntest mit Toulon telefonieren. Behörden und so weiter. Schaut mal, was ihr so rausfindet.“

„Ach ja, da wäre noch was“, beginnt nun Timo herumzustottern.

„Was ist? Heraus mit der Sprache“, sage ich ungeduldig.

„Der Heuler möchte die Ermittlungen leiten und eins zu eins, also quasi just in time, über jeden unserer Schritte informiert sein.“

„Der kann mich, quasi just in time, dort, wo die Sonne nicht hinscheint.“ Nun bin ich ja fast schon cholerisch, aber der Mann treibt mich noch in den Wahnsinn. Also der Heuler, nicht Timo.

Der arme Kerl sitzt nun da wie ein geläutertes Kind und jammert vor sich hin: „Wenn du den Feind nicht hast, dann steinige den Boten.“

„Kommt, Leute, wir fangen an, und lasst Herrn Heuler meine Sorge sein“, bringe ich nun wieder Ruhe in die Situation.

Timo hämmert fleißig in die Tastatur und was Laura treibt, kann ich nicht sagen, denn ich verstehe kein Wort. Sie telefoniert reichlich auf Französisch und verwendet in jedem zweiten Satz den Namen Charles van de House, was mich glauben lässt, dass die Telefonate tatsächlich dienstlich sind. Mich selbst stört nur das ausländische Geplapper bei meinem Brainstorming. Jetzt beginne ich auch noch mit dem eingedeutschten Gelaber. Also, keinen klaren Gedanken bekomm ich auf die Reihe bei dem unverständlichen Gerede.

So beschließe ich, nun nach Neustadt zu fahren und mir das Autowrack anzuschauen. Eine Entscheidung, die ich Minuten später auch schon wieder bereue. Auf dem Hof der Landauer Polizeiwache steht nämlich nur der alte Opel Kadett Diesel, mit dem ich heute Morgen zur Arbeit gekommen bin. Klar, mein eigentlicher Dienstwagen, ein Mini GP mit vielen Gimmicks und über dreihundert Pferdestärken, steht zu Hause in der Scheune. Na gut, so eiere ich mit fünfundachtzig über die Autobahn und bete, dass das Ding nicht schlappmacht.

Auch die schönste Fahrt hat einmal ein Ende und so parke auch ich irgendwann auf dem Hinterhof des Neustädter Präsidiums ein. Die Kapuze ins Gesicht gezogen, dass der Heuler mich nicht durchs Fenster entdeckt, schleiche ich mich in Klaus Reuters Werkstatt, die im Keller untergebracht ist.

„Ja, der Dieter, welch seltener Glanz in meiner bescheidenen Hütte“, begrüßt er mich auch gleich überschwänglich. Er ist der beste Mechaniker, der mir je begegnet ist. Unter Kollegen nennen wir ihn „Daniel Düsentrieb“ der Neustadter Wache.

„Hallo, Klaus, wie geht’s?“, begrüße auch ich ihn freundlich.

„Ach, du weißt ja: Schaffe, schaffe, schaffe. Der Tag hat vierundzwanzig Stunden und wenn die nicht reichen, soll ich eben die Nacht durcharbeiten. So meint es zumindest der Heuler.“

Ich weiß schon, was er meint. Bei jeder erdenklichen Gelegenheit prahlt unser gemeinsamer Vorgesetzter mit den Fähigkeiten von Klaus und so kommt es, dass er sämtliche Sonderumbauten an polizeilichen Fahrzeugen machen muss. Nebelwerfer oder Lachgaseinspritzungen wie bei meinem Mini sind da die leichteren Übungen. Es kommt schon mal vor, dass ein schwimmender Porsche oder ein BMW mit Düsentriebwerk seine Werkstatt verlässt. Und so ganz nebenbei hilft er auch noch der Spurensicherung wie im aktuellen Fall, weshalb ich gleich mal nach dem Fiat frage.

„Viel kann ich dir noch nicht sagen“, meint er erwartungsgemäß. Immerhin haben wir es erst kurz nach zehn. „Die Blockade am Gasgestänge kann jeder Laie ausgeführt haben und auch sonst gibt es außen keine Auffälligkeiten. Den Innenraum schauen wir uns erst heute Mittag an. Bis dahin ist dann auch der Martin mit seinem Team hier.“

Okay, das bringt uns wirklich nicht weiter, also bitte ich ihn, mir das Fahrzeug zu zeigen.

Ja. Tatsächlich ein Fiat. Um genau zu sein, ein roter Panda mit französischem Kennzeichen. Modell anno dazumal. Und ihm sieht man auch sein Alter an. Tellergroße Rostflecken, zum Teil sogar mit Löchern, zieren sein Äußeres, bepflastert mit jeder Menge vergilbter Aufkleber, die anzeigen, dass dieses Fahrzeug anscheinend einen großen Teil der Welt gesehen hat. Die Algen und die anderen Wasserpflanzen, die an Wischern und den Außenspiegeln getrocknet herunterhängen, runden das traurige Bild ab. Dass die Rückbank mit Decken, Konservendosen, einem Campingkocher und sonstigem Krimskrams belagert ist, deutet an, dass es sich bei unserem Opfer um einen Globetrotter handelt.

Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein Weltenbummler ohne feste Wurzeln. Gemeldet in Frankreich, mit holländischem Namen, auf der ganzen Welt zu Hause. Ermordet, ausgerechnet in meinem Revier. Wo soll ich da nur ansetzen? Mensch, wäre ich doch nur zu Hause geblieben. Dann hätten wir den Panda einfach in Lingenfeld oder so in den See geschmissen und somit hätte sich jemand anderes damit rumärgern müssen. Mich macht das verrückt, so im Dunkeln zu tappen.

Da ich mir das Leichenschauhaus nicht antun will, fahre ich zurück nach Landau. Leichen sind nicht so meins. Manche Kollegen sagen, dass der Gesichtsausdruck oder die Körperhaltung so viel über den Fall aussagen würden. Ich brauche das nicht. Immerhin hab ich eine Aufklärungsquote von einhundert Prozent. Und das, obwohl ich die Opfer nie gesehen habe, also zumindest nicht nach ihrem Ableben. So soll es auch bleiben.

Als ich zurück in unser Büro komme, telefonieren alle. Laura auf Französisch, Timo auf Deutsch. Logischerweise versuche ich Timos Gespräch zu folgen.

„Wird erledigt“, sagt er. „Ja, selbstverständlich werden wir alle Presseanfragen an Sie verweisen. Natürlich überprüfen wir stündlich unseren Maileingang, um Ihre Memos sofort umzusetzen. Ja, Herr Heuler, mir ist es eine außerordentliche Ehre, unter Ihren fähigen Händen arbeiten zu dürfen. Auf Wiederhören.“

Mit „du alte Schleimbacke“ mache ich mich bei Timo sicher nicht gerade beliebt, aber ich konnte eben nicht anders.

Jetzt setzt auch Timo an: „Hör mal zu, Dieter. Wenn du dich weiter so mit dem Heuler anlegst, musst du damit rechnen, dass er dich austauschen wird. Dann will ich gerüstet sein. Ich brauche den Job hier. Außerdem rechne ich mir eben Chancen aus, deine Position zu übernehmen, wenn du es dir komplett verschissen hast.“

So, das hat gesessen. Schlagartig wird mir klar, dass ich den Fall lösen sollte, um meinem Vorgesetzten und meinem Kollegen die Grundlage für irgendwelche Intrigen zu entziehen. Nur, wie soll das gehen? Auf der Tafel stehen nach wie vor nur zwei Namen und ich habe keinerlei Anhaltspunkte. Ich muss dringend nachdenken. Aber umso mehr ich mir das Hirn zermartere, umso weniger kommt dabei raus. Vielleicht wäre es ja auch das Beste, wenn Timo die Abteilung leiten würde. Gut, er ist noch sehr jung, aber immer motiviert und zuverlässig. Alles Dinge, die man von mir nicht gerade behaupten kann. Polizist bin ich eigentlich nur geworden, weil mir ein Sandkastenfreund immer davon vorgeschwärmt hat. Dementsprechend oft haben wir damals Räuber und Gendarm gespielt. Das war ja auch cool, so im Wald herumzurennen und den anderen zu jagen. Schnell musste ich aber feststellen, dass man in dem Job die meiste Zeit am Schreibtisch verbringt. Endlos Berichte tippen und so ein Scheiß. Dann wurde in Landau die Arbeitsgruppe Kapitalverbrechen gegründet. Das war meine Chance, aus den grünen Klamotten herauszukommen und einen coolen Dienstwagen zu fahren. Zudem hab ich noch zwei Mitarbeiter bekommen, die die ungeliebten Sachen übernehmen, wie den Schreibkram eben. Was ich dabei allerdings vergessen hatte, war, dass ich weder Leichen noch Blut sehen kann, ohne dass es mir elend wird.

 

Ich glaube, ich sollte erst mal wieder mit Timo Frieden schließen. Ich meine, dass es sehr unproduktiv wäre, wenn wir nun auch im Team gegen- anstatt miteinander ermittelten.

„Komm, Timo, lass uns reden“, winke ich deshalb mit der weißen Flagge.

Gemeinsam gehen wir nach draußen und ich ziehe am Automaten noch zwei Kaffee. Unten auf der Terrasse setzen wir uns an einen kleinen Tisch, auf dem ein Aschenbecher überquillt.

„Sorry, Timo“, beginne ich das Gespräch, „das alles ist jetzt ein wenig blöd gelaufen. Meine Familie ist nicht gerade begeistert, dass ich den Urlaub abgebrochen habe. Das kannst du dir ja denken. Und ganz ehrlich, der Heuler geht mir so was von auf die Nerven, dass ich schon mit Widerwillen zur Arbeit komme. Das wird mir einfach alles zu viel. Vielleicht hast du recht und unsere Arbeitsgruppe wäre besser in deinen Händen.“

„Komm, Dieter, auch du weißt, dass ich große Stücke auf dich halte.“ Will er sich nun auch bei mir einschleimen? „Aber ich will weiter von dir lernen und nicht sehen, wie du in einer Depression versinkst. Komm, geh doch wieder joggen, das hat dir immer geholfen. Bekomme deinen Kopf in den Griff, dann knacken wir auch den Fall.“

Nun glaub ich doch, dass er es ehrlich meint und nicht nur schleimen will. So gehen wir wieder nach oben und nehmen erneut am Besprechungstisch Platz.

Zuerst berichte ich von meinem Besuch bei Klaus Reuter. Viel Interessantes habe ich ja nicht zu erzählen. Laura hat halb Südfrankreich angerufen. Anscheinend hat Charles van de House seine Wohnung nur als Unterstellort für seine Habseligkeiten genutzt und äußerst selten dort übernachtet. Selbst direkte Nachbarn können ihn nur vage beschreiben. Was sie allerdings beschrieben haben, würde zu der Wasserleiche passen, die Laura gestern gesehen hat.

Timo hat auch nicht viel im Internet gefunden. Eigentlich nur, dass van de House ein in Frankreich nicht gerade geläufiger Name ist, während es in Holland Tausende Einträge gibt. Ich hoffe, dass das Meldeamt von Toulon uns bald das Meldeblatt zukommen lässt, damit wir endlich mal irgendwo anfangen können.

„Gibt es das denn“, lass ich nun meinen Frust heraus, „können wir denn nichts tun als warten?“

Und so ist es. Genau so ist es. Warten, dass etwas von Frankreich kommt. Warten, bis der Obduktionsbericht kommt. Warten, bis jemand eine Vermisstenanzeige aufgibt und unser Opfer identifiziert. Warten auf den Bericht der Spurensicherung. Es ist einfach zum Mäusemelken. Da es eh schon auf siebzehn Uhr zugeht, beschließen wir, Feierabend zu machen und uns zum Ausgleich morgen eine halbe Stunde früher zu treffen. Laura erklärt sich noch spontan dazu bereit, mich nach Hause zu fahren, damit ich den ungeliebten Kadett loswerde und wieder in meinem Mini herumdüsen kann.

Zu Hause angekommen, nehme ich mir Timos Rat zu Herzen und krame meine Laufsachen hervor.

Wie ich so losjogge, muss ich schon sagen, dass mein Kollege absolut recht hatte. Bei so einer sportlichen Betätigung ändert sich schlagartig das Stimmungsbild. Inzwischen stehen schon zweihundertfünf Meter auf meiner Fitness-App und ich habe das Gefühl, Berge versetzen zu können. Bei dreihundertzwanzig Metern öffnen sich die Poren und bei dreihundertfünfundfünfzig Metern bade ich im eigenen Schweiß. Bei dreihundertneunzig Metern passiere ich endlich das Ortsschild und bereue, mich auf die Körperertüchtigung eingelassen zu haben. Schlagartig drossele ich die Geschwindigkeit um zwei Drittel mit dem Vorsatz, wenigstens das Stück Radweg, das an der B48 entlangführt, im Laufschritt zu schaffen.

Ich schaffe es. Auch wenn ich dabei sicher wie ein Gehbehinderter auf der Flucht ausgesehen habe. Zwischendurch hat auch mal ein Autofahrer gehupt. Warum weiß ich nicht. Der Schweiß lässt meine Augen dermaßen brennen und tränen, dass ich im Blindflug dem heiß ersehnten Vollochweg entgegentaumle. Das Hupen war sicher nur der Gruß eines Bekannten, könnte aber auch eine Warnung gewesen sein, weil ich nichts sehend den Radweg verlassen habe und der Fahrbahn gefährlich nahe gekommen bin. Wieder so eine Sache, die ich nie erfahren werde.

Jetzt stehe ich am Anfang des Vollochwegs und habe eine ausgeprägte Schnappatmung. Anstatt meiner Beine fühle ich nur ein Brennen. Das Höllenfeuer fühlt sich sicher identisch an. Ein Wunder, dass sie mich noch tragen, meine Beine. Dabei war ich noch vor nur einem Jahr topfit. Urplötzlich ist alles aus dem Ruder gelaufen. Ganz schnell war der Spaß am Laufen einfach weg. In der gleichen Zeit haben Axel und Stan die Dashwings verlassen. Ja, die Deutschrockband, in der ich die Leadgitarre gespielt habe, war somit auch Geschichte. Wie ich so am Anliegerfreischild lehne, hab ich schon das Gefühl, dass es schwarze Katzen von links auf mich herabregnet.

Glücklicherweise geht der Nachhauseweg bergab, was dazu führt, dass ich ihn im Trab bewältige. Meine App interessiert mich schon längst nicht mehr. Als ich in unsere Straße einbiege, sehe ich mitten auf der Fahrbahn meinen Nachbarn stehen.

Der Reiner ist ja schon ein seltsamer Kauz. Ich würde wetten, dass er ursprünglich Rainer hieß, sich aber, wegen einer aus seiner Sicht genialen Geschäftsidee, den Vornamen auf Reiner umschreiben ließ. So vertreibt er nun sehr fragwürdige Produkte von Reiner Buttermilch.

Da steht er nun, der Nachbar, und grinst und winkt mich zu ihm her. Wer kann da schon Nein sagen. Ich könnte schon, doch das gute Benehmen verbietet es mir. So kommt es, dass ich trotz meines erbärmlichen Zustands bei ihm stehen bleibe.

„Hey, Dieter, ich muss dir unbedingt von meiner neuen Geschäftsidee erzählen“, sprudelt es aus ihm heraus und das ohne Begrüßung. Bin mal gespannt, was nun kommt. Sicher macht er nun Pudding aus Kuhdung oder so. Seine Buttermilch holt er auch als Abfallprodukt aus einer Butterfabrik und das mit einem alten Güllefass. Wenn man das sieht, vergeht einem die Lust auf Bio. Wobei erwähnt werden muss, dass er menschlich echt okay ist, der Reiner. Als letztes Jahr unser Haus brannte, hat er meine Musikinstrumente aus dem Keller vor einem Wasserschaden gerettet, während meine Familie und ich mit Rauchvergiftung im Krankenhaus verweilten.

„Wir haben jetzt auch Gästezimmer mit Wellness-Kur“, erzählt er voller Stolz. „Schönheit von innen mit Reiner Buttermilch.“

Hab ich es mir doch gedacht. Seine Ideen werden immer abstruser.

„Toll. Hast du das Gewerbe denn schon beim Fremdenverkehrsamt angemeldet?“, sag ich, weil mir gerade nichts anderes einfällt.

„Woher denn. Ich melde doch nichts an. Das spart Steuern, weißt du?“

Ja, das weiß ich. Aber dass ich nun offizieller Mitwisser bin, stört mich ungemein. „Steuerhinterziehung nennt man das!“, warne ich ihn.

Doch er sagt trocken und allen Ernstes: „Nicht meine, deine!“ Hä? „Schau doch, da der Staat nichts von meinem landwirtschaftlichen Betrieb weiß, braucht er mich auch nicht zu subventionieren. Das spart Steuern.“

Nun sag ich nichts mehr, weil mir einfach nichts mehr einfällt.

Dafür ist mein Nachbar umso gesprächiger: „Heute ist auch schon unser erster Kurgast eingetroffen. Ich kann dir sagen, ein ganz heißes Gerät! Eine Dame der besseren Gesellschaft von Frankfurt. Irgendeine Kaufhauserbin. Schau doch nur mal zur Wäscheleine! Solche Teile sollte sich Kordula auch mal zulegen. Dann wäre mal wieder was los auf der heimatlichen Pritsche, wenn du verstehst, was ich damit sagen will.“

Und ob ich verstehe. Sofort verbiete ich meinem Gehirn, die dazugehörenden Bilder zu liefern. Es verweigert mir den Gehorsam. Nun bin ich nicht nur deprimiert, jetzt ist mir auch noch übel.

Durch den Blick zur Wäscheleine wird dieses Gefühl noch verstärkt, was nicht an den schwarzen Teilen aus Spitze und Nylon liegt, die dort hängen, sondern an den selbst gehäkelten Schafswolleunterhosen, die Kordula gehören und gleich daneben hängen. Reiners Lebensgefährtin ist eben der Inbegriff von Öko.

Ohne ein weiteres Wort gehe ich nun nach Hause. Ob zum Kotzen oder zum Duschen, weiß ich noch nicht. Das entscheide ich dann spontan.

Papa. Mein Gebet richtet sich an meinen geliebten Papa. Lieber Papa im Himmel, der mich immer beschützt hat, mich großgezogen hat nach Mutters Tod. Der für mich gesorgt hat. Dann im Kampf für ein freies Land gefallen ist. Papa, ich habe die Ukraine verlassen. Anstatt für die Freiheit zu sterben, bin ich in die Freiheit geflüchtet. Ich weiß, dass du es sicher als feige empfindest, einfach bei Nacht und Nebel abzuhauen, um dann illegal in einem fremden Land zu sein. Aber mir ist es das wert. Keine Schüsse. Keine Leichen auf offener Straße. Kein Rauch in der Luft und keine Einschlagkrater.

Das ist es mir wert, mich zu verstecken. Ich wurde aufgenommen und kann ein wenig arbeiten. Und lerne Sprachen. In jeder freien Minute lerne ich. So kann ich schon etwas Deutsch, Englisch und Französisch. Das sei wichtig, wenn ich dann mal voll arbeite, wurde mir gesagt.

Außerdem gibt es einen Mann. Er hat mich auf der Flucht gefunden und über die Grenzen gebracht. Er ist anders als die anderen. Er ist einzigartig und trotzdem wie du, Papa. Ich liebe ihn und er liebt mich. Ich weiß das. Er ist der Mann meines Lebens. Endlich weiß ich, warum ich lebe. Endlich weiß ich, für wen ich lebe.

In Liebe, deine Veroschka.

Dienstag

Der Weg zur Arbeit macht heute deutlich mehr Freude, was daran liegt, dass ich nach den Tagen im Wohnmobil und in dem alten Streifenkadett endlich wieder in meinem Mini sitze. Das Teil ist schon der Hammer. Der ist es doch wert, meinen ungeliebten Job zu machen. Das Fahren macht mir so viel Freude, dass ich nun einen Umweg über Annweiler in Kauf nehme, um eines meiner Lieblingsteile der B48, die Ebersbach, zu fahren. Und das gleich dreimal, zweimal runter und dazwischen einmal hoch.

So kommt’s, dass ich als Letzter im Büro erscheine. Laura und Timo sitzen schon fleißig an ihren Bildschirmen.

„Moin, Dieter“, begrüßen mich die beiden und Laura fügt hinzu: „Heut ist richtig was zu tun. Es gibt E-Mails aus Frankreich, von der Gerichtsmedizin und von der Spurensicherung.“

Obwohl ich es hasse, am Schreibtisch zu sitzen, fahre ich meinen Rechner hoch und hoffe darauf, den alles entscheidenden Hinweis in den Schriftstücken zu finden.

Meine erste Mail bremst gleich wieder meinen Enthusiasmus. Klar, jedes Wort ist französisch. Zum Glück hab ich ja Laura und durch ihre Hilfe erfahre ich dann, dass unser mutmaßliches Opfer am 07.04.1986 in Venlo, Holland geboren wurde. Mutter Charlotte van de House, geborene Bouchet, französische Staatsbürgerin, verstorben 2002. Vater Jan van de House, verstorben 1989. Da werden uns die Eltern wohl nicht mehr bei der Identifizierung helfen können. Ich beauftrage Lara damit, in Holland zu recherchieren, ob es irgendwo Verwandte gibt, die uns wenigstens bei der Identifizierung helfen können.

Als Nächstes nehme ich mir den Obduktionsbericht vor. Widerwillig schaue ich mir die Fotos vom Leichnam an. Man muss zugestehen, es war ein junger, gut aussehender Bursche, langes, blondes Haar, braun gebrannte Haut. Einzig der ungepflegte Bart passt nicht so zu seinem Gesicht. Sieht eigentlich gar nicht nach Bart aus, eher als würde der Träger eben nur alle paar Monate dazu kommen, sich zu rasieren. Das alles passt ja prima zu meiner Globetrotter-Theorie.

Wieso wird so ein Weltenbummler ausgerechnet in meinem Gebiet ermordet? Zum Mäusemelken ist das.

Auf der nächsten Seite ist dann eine Großaufnahme seines Halses zu sehen, auf dem deutlich ein Hämatom zu erkennen ist, ein Knutschfleck, um es beim Namen zu nennen. Auf den nächsten Seiten ist detailliert sein Intimbereich abgelichtet. Bilder, die ich im Normalfall schnell überblättern würde, wenn da nicht die ganzen Blutergüsse wären, zudem jede Menge Verletzungen und Risse in der Haut. Entweder hat der Mann an einem absolut bizarren Liebesspiel teilgenommen oder es wollte ihm jemand im wahrsten Sinne des Wortes die Eier herausreißen.

Nun lese ich doch gespannt den Text. Im Großen und Ganzen werden meine Eindrücke von den Bildern darin bestätigt. Durch UV-Strahlung gebräunt, Hämatom am Hals durch Saugeinwirkung, Genitalverletzung durch Zugeinwirkung einer Hand. Jetzt wird es aber interessant. In seiner Harnröhre befanden sich noch Spermarückstände. Auch der Hormoncocktail in seinem Blut hat es in sich. Zum einen das Übliche, was jemand im Blut hat, wenn man so dem sicheren Tod entgegenrast, also Adrenalin und so, zum anderen hatte er aber auch Testosteron und Östrogen im Blut und das in hohem Maße, alles eindeutige Anzeichen dafür, dass er noch kurz vor seinem Tod sehr erregenden Verkehr hatte. DNA-Spuren im Intimbereich zeigen an, dass es sich um eine Sexpartnerin gehandelt hat.

 

Eine Frau kommt wiederum für die Verletzungen kaum infrage. Die Größe der Hand und die Kraft, mit der sie zugefügt wurden, deuten eindeutig auf einen Mann.

Was suchen wir nun? Eine Frau mit dem Oberkörper und den Händen von Arnold Schwarzenegger oder doch einen Mann nach Geschlechtsumwandlung? Sind es am Ende zwei verschiedene Personen? Wenn dem so ist, sind sie dann unabhängig voneinander oder arbeiten sie zusammen? Fragen über Fragen. Mir platzt gleich der Schädel. Am liebsten würde ich Urlaub beantragen.

Jetzt nehme ich mir den Bericht von meinem Freund Martin Schneider zur Brust. Er hat eigentlich zwei Berichte angefertigt, den vom Tatort und den vom Fahrzeug.

Am Tatort war nicht viel zu finden, ein paar Fasern, eine Motorrollerspur, die aber nicht mit dem Fall zusammenhängen muss, und Fußspuren am Startpunkt des Fahrzeugs. Die sind interessant. Einmal Frauenschuhe Größe 37, vermutlich Ballerinas, viele Spuren von unserem Opfer, aber auch welche von Herrensportschuhen, die wesentlich größer sind als die des Opfers. Also handelt es sich tatsächlich um zwei weitere Personen.

Reichlich Urinspuren an einem benachbarten Baum, die vom Opfer stammen, weisen darauf hin, dass er sich dort am See etwas häuslich eingerichtet hatte. Inklusive Freilufttoilette. Luxus pur!

Die Inventarliste des Autos beinhaltet mehr Positionen als die meines Wohnmobils. Wieder ein deutliches Anzeichen für ein Globetrotter-Dasein. Wird uns das weiterbringen? Fehlanzeige! Da wird meine Stimmung auch nicht besser.

Nun rufe ich erst mal den Förster an, weil ich wissen will, ob er den Panda schon mal gesehen hat, was er bejaht, allerdings nicht in den letzten beiden Tagen, an denen er auch nicht am See war. Nein, das war etwa vor einem Vierteljahr, als ihm der Panda mit französischer Nummer schon einmal aufgefallen war.

Aha. Dann muss doch ein Bezug zu unserem Landkreis da gewesen sein. Ich glaube ja nicht, dass er sich nur wegen der Schönheit des Sees des Öfteren zu uns verlaufen hat.

Ich bedanke mich bei Phillip Hubertus und in mir keimt endlich etwas Hoffnung. Wenn es uns gelingt, herauszufinden, was Charles wiederholt hierhergelockt hat, dann haben wir endlich eine Spur. Nun beauftrage ich Timo, sich mit dem am See ansässigen Angelverein und dem Sportverein in Verbindung zu setzen. Irgendwer muss doch den Panda und seinen Insassen gesehen haben.

Sofort setzt sich mein Kollege an seinen Monitor und sucht nach Vorstandsmitgliedern und Telefonnummern.

Zur gleichen Zeit unterbricht Laura ein Telefonat auf Niederländisch, um „Bingo“ auszurufen. Sofort eile ich zur ihr rüber.

Nachdem sie aufgelegt hat, berichtet sie: „Die Großmutter väterlicherseits lebt nach einem Schlaganfall in einem Pflegeheim in Venlo und ist linksseitig gelähmt, aber bei klarem Verstand. Sie kann unser Opfer also identifizieren.“

Richtig! Bingo!

Nach der Hoffnung entwickelt sich sogar so etwas wie Dynamik. Nun ruft auch der Dritte im Bunde „Bingo“.

„Was gibt es, Timo?“, will ich sofort wissen.

„Ich habe den Vorstand des Angelvereins am Telefon“, klärt er uns auf, „und ihm seien der Wagen und sein Insasse nicht unbekannt.“

„Her mit dem Mann“, nun werde ich sogar etwas euphorisch, „ich brauch ihn umgehend hier.“

Timo regelt das direkt und kann den Mann dazu überreden, dass er sich im Laufe der nächsten Stunde hier einfindet.

Nach so vielen guten Nachrichten muss ja doch was Blödes passieren. Etwas, das den in mir aufkommenden Tatendrang wieder bremst. Aber er wird nicht gebremst. Nein, nicht gebremst. Er wird zunichtegemacht, denn es klingelt. Ganz unschuldig ist’s, das Klingeln. Das Display meines Diensttelefons auf meinem Schreibtisch zeigt ein freundliches, neutrales „Nummer unbekannt“.

„Kripo Neustadt an der Weinstraße in Landau, Schlempert!“, sag ich. Keine Ahnung, ob das einen Sinn ergibt. Ist mir auch völlig egal.

„Klappt doch schon viel besser“, vernehme ich meinen Chef aus dem Hörer. „Wir werden das nun noch einmal üben. Tun Sie doch einmal, als würden Sie mich anrufen.“

„Herr Heuler, ich bitte Sie. Wir haben hier einen Arsch voll Arbeit. Da bleibt keine Zeit für Rollenspiele.“

„Papperlapapp“, kommt da von ihm, „da müssen Prioritäten gesetzt werden. Wenn die Basis stimmt, dann lernen wir den Rest. Los, tun Sie, als würden Sie anrufen.“

Einen Moment denke ich daran, einfach aufzulegen, um dann die Leitung zu blockieren. Doch ich muss an Timos Worte denken. Gut, spiele ich eben mit. „Palim palim“, trällere ich in den Hörer.

„Kripo Neustadt an der Weinstraße, Kommissariatsleiter Rüdiger Heuler, Ehrendoktor GGB, einen wunderschönen guten Tag wünsche ich Ihnen, was darf ich für Sie tun?“, meint er allen Ernstes.

Und überhaupt? Was ist ein Ehrendoktor GGB? Bei seiner Intelligenz kann es nur Gegen GeBühr heißen.

Ich antworte dann mal ganz zuckersüß: „Das haben Sie aber schön gesagt. Ich werde es mir zum Beispiel nehmen. Was darf ich denn für Sie tun?“

„Tja, Herr Schlempert, da ich von Ihrer Abteilung erwartungsgemäß noch keinen Bericht erhalten habe, bin ich nun gezwungen, mich selbst um den Informationsfluss zu kümmern.“

Was werfe ich ihm denn nun vor die Füße? Den Mailverkehr hat er selbst auf dem Schirm. Damit kann ich schon mal keinen Eindruck schinden. Ich hab’s: „Wir haben die Großmutter des mutmaßlichen Opfers gefunden und auch noch einen Zeugen ausfindig gemacht, der ihn sogar lebend am See gesehen hat. Der Zeuge wird in den nächsten Minuten hier in der Wache vorstellig werden.“

„Ja prima“, ist der Heuler nun von unserer Arbeit begeistert. „Sofort in die Gerichtsmedizin mit dem Mann.“

„Mit dem Zeugen?“, frage ich verwundert. „Was soll er denn dort?“

„Ja, Schlempert, machen Sie Ihren Job zum ersten Mal? Identifizieren soll er den Toten. Identifizieren, wissen Sie, was das ist?“

Klar weiß ich das. „Und was bitte schön soll er identifizieren? Dass der Tote sich am See aufgehalten hat? Das wissen wir schon. Nur zur Identität wird er uns wohl keine rechtlich verwertbare Aussage machen können. Er hat ihn ja nur gesehen und ist nicht mit ihm aufgewachsen.“

„Gut“, sagt mein Chef dann unverdrossen, „dann schaffen Sie eben die Großmutter bei.“

So langsam kommt er auf die richtige Fährte, doch leider muss ich ihn wieder enttäuschen: „Geht leider nicht. Sie lebt im Heim und ist ein Pflegefall.“

„Ja, haben Sie denn auch einmal eine eigene Idee?“, wird er nun aufbrausend. „Dann müssen Sie eben hinfahren. Mein Gott, Schlempert, ist das denn so schwer?“

Schwer ist das nicht, aber ich hab absolut keine Lust, einen ganzen Tag im Auto zu sitzen, um eine Omi zu besuchen, die ich nicht einmal kenne. „Nein, da mailen wir ein paar Fotos zu den Kollegen in Venlo“, sag ich deshalb, „dann können die das machen.“

„Das kommt überhaupt nicht infrage“, überschlägt sich Heulers Stimme, „dass die am Ende noch die Lorbeeren einheimsen? Das machen schön Sie! Sie persönlich.“

„Aber hier wäre ich doch nützlicher.“

„Hören Sie, das ist doch eine Kleinigkeit für Sie. Sie fahren da morgen hin. Die paar hundert Kilometer sitzen Sie doch auf einer Pobacke ab. Ist doch nur eine Fahrzeit von gut drei Stunden.“

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