Fach- und sprachintegrierter Unterricht an der Universität

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2.5.3 Kursgestaltung

Diesen sechs Prinzipien aufgabenbasierten Unterrichtens kann man sicherlich entgegenhalten, sie blieben im Ungefähren und seien somit kaum dazu geeignet, Lehrenden eine Hilfestellung für ihre Planungsprozesse zu bieten. Tatsächlich wäre es ja auch nicht das erste ambitionierte akademische Projekt, das erheblich an Strahlkraft verliert, sobald es sich im Unterrichtsalltag bewähren muss. Der für den aufgabenbasierten Ansatz so zentrale Leitgedanke der Selbstbestimmtheit beispielsweise findet sich auch schon in den frühen Entwürfen einer kommunikativen Didaktik (z.B. Piepho 1974). Dass er dazu beitragen konnte, die Spielräume für die Lernenden beträchtlich zu erweitern, lässt sich jedoch – wie weiter oben diskutiert – nur bedingt behaupten.

Das Prinzip der Lücke

Bei genauerer Betrachtung der Prinzipien wird jedoch erkennbar, dass der aufgabenbasierte Ansatz der Gefahr einer beliebigen Auslegung vorbaut, indem auch die konkrete Ausgestaltung unterrichtlicher Aktivitäten einbezogen wird. So spiegelt sich etwa die Maxime der Förderung von Selbstbestimmtheit und individuellen Lernwegen unmittelbar in der Art der Aufgabenstellungen wider. Wie am zweiten Prinzip der Liste deutlich wird, gehören vor allem sogenannte gap-activities zum unabdingbaren Inventar aufgabenbasierten Unterrichts (Ellis 2018:159; Johnson 1982; Willis 2004).

Die Aufgabengestaltung orientiert sich am Lernpotenzial von Heterogenität, sie nutzt die Spannung, die das Zusammentreffen von Unterschieden erzeugen kann. Mit Hilfe von Lückenaktivitäten lassen sich Situationen arrangieren, in denen die Lernenden ihre eigenen Ideen, Meinungen oder Lösungen einbringen können und sich zugleich mit anderen abstimmen müssen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Zum einen wird die bereits vorhandene Vielfalt der Lerngruppe genutzt, etwa wenn die Aufgaben dazu anregen, persönliche Meinungen oder Erfahrungen mit den anderen zu teilen. Zum anderen können die Aufgaben aber auch so gestaltet sein, dass sie Differenzen und Diskrepanzen selbst erst generieren, beispielsweise indem sich die Lernenden zunächst voneinander abweichende Informationen erarbeiten, diese vergleichen, diskutieren oder in einer Synthese zusammenzuführen.

Lückenaufgaben erhöhen die Chance, dass das Geschehen im Klassenraum tatsächlich von Situationen charakterisiert wird, in denen die Lernenden selbstbestimmt ihre sprachlichen und nicht-sprachlichen Ressourcen einbringen und erweitern können. Aus der etwas diffusen Idee der Selbstbestimmtheit wird dadurch ein greifbares Element der Unterrichtsgestaltung.

Solche Aktivitäten können natürlich in sehr unterschiedliche Konzepte von Fremdsprachenunterricht integriert werden. Das entscheidende Merkmal aufgabenbasierter Settings besteht deshalb darin, dass sie den Motor der Lehr- und Lernprozesse bilden. Im hier untersuchten Kursangebot äußert sich das Prinzip der Lücke beispielsweise in der wichtigen Rolle, die der sogenannten Think-Pair-Share-Technik (Lyman 1981) zukommt. Durch die Lernmaterialien mit Texten und Aufgaben bzw. Impulsen wird zunächst eine Lücke innerhalb der Lerngruppe erzeugt, oft in Form eines Informationsgefälles oder der Begegnung mit einem kognitiven Konflikt (vgl. Gillies 2014). Es folgt ein methodischer Dreischritt, der von der individuellen Auseinandersetzung mit der Problematik über den Austausch in Kleingruppen zur Präsentation und Diskussion im Plenum führt.

Auch wenn sich die Think-Pair-Share-Technik in besonderer Weise anbietet, um das Prinzip der Lücke in einen kohärenten unterrichtlichen Ablauf einzubinden, so lässt sich doch der aufgabenbasierte Ansatz nicht auf eine bestimmte Abfolge methodischer Schritte reduzieren. Über die oben genannten Prinzipen hinaus beschränkt er sich darauf, Hilfestellungen in Form von Aufgabentypologien bereitzustellen. Diese Typologien verdeutlichen die große Bandbreite an Gestaltungsvarianten. Sie schärfen das Bewusstsein für die verschiedenen Aspekte, die bei der Entscheidung für eine bestimmte Aktivität relevant sind. Sollen sich beispielsweise die Lücken in den gap activities auf Informationen beziehen, auf Meinungen oder auf Argumentationen (Nunan 1987:46ff)? Und welche kognitiven Fähigkeiten werden von einer Aufgabe angesprochen? Geht es eher darum, Informationen nur zu ordnen und aufzulisten, oder können und sollten größere Anforderungen an die Lernenden gestellt werden, etwa indem sie Vergleiche anstellen, Synthesen bilden oder eigenständig Problemlösungen entwickeln (Willis 1996). Die Typologien nutzen auch gerne Dichotomien, um das Spektrum an Einsatzmöglichkeiten aufzuzeigen: So können Aufgaben eher Input-fokussiert angelegt sein oder Output-fokussiert, schriftliche oder mündliche Aktivitäten auslösen, auf konvergente oder divergente Ergebnisse zielen, offen oder geschlossen gestaltet sein, einseitig – etwa im Sinne einer Präsentation – oder zweiseitig, wenn ein Austausch angestrebt wird.

Lehrenden wird somit eine sehr breite und flexibel handhabbare Palette von gestalterischen Optionen geboten, auf deren Grundlage sich ein abwechslungsreiches Unterrichtsgeschehen arrangieren lässt. Aber die Abwechslung allein, so wichtig und motivierend sie für erfolgreiche Lernprozesse auch sein mag, verleiht einem Kursangebot noch keine Stringenz. An dieser Stelle tritt das Kernproblem des aufgabenbasierten Unterrichts zutage (vgl. Nunan 2009:30): Wenn man bewusst auf das Gerüst verzichtet, das grammatische Progressionen bereitstellen, und wenn zugleich die empirische Aufgabenforschung kaum hilfreiche Erkenntnisse für eine systematische Unterrichtsplanung hervorbringt (siehe Kap. 2.5.1), welches Kriterium bleibt Lehrenden und Programmgestaltern dann, um das vielfältige Angebot an Aufgaben zu einem pädagogisch sinnvollen Verlauf anzuordnen?

Die Antwort ist offenkundig und sie kam in der bisherigen Argumentation bereits mehrfach zur Sprache: Soll ein „Schrotflinten-Syllabus“ (van Lier 1996:205), also eine mehr oder weniger beliebige Aneinanderreihung von Impulsen vermieden werden, dann bedarf die Planung aufgabenbasierten Unterrichts eines inhaltlichen Rahmens. Auch sehr kreative und anregende Aufgabenstellungen können zu frustrierenden Aktivitäten führen, wenn sie sich nicht zugleich auf Gegenstände beziehen, die von den Lernenden als interessant, herausfordernd oder motivierend empfunden werden. Fitzsimmons-Doolan et al. (2017:22) weisen daher meines Erachtens zurecht darauf hin, dass Lückenaktivitäten ohne überzeugende thematische Einbettung leicht als gekünstelte oder konstruierte Unternehmung wahrgenommen werden. Wie zutreffend diese Kritik ist, lässt sich am Beispiel der Aufgabensammlung von Ur (2015) illustrieren, in der ansprechende methodische Ideen unter der sie begleitenden inhaltlichen Beliebigkeit leiden.

Es kommt beim aufgabenbasierten Unterricht – ganz anders als es die Bezeichnung suggeriert – demnach keineswegs vor allem auf die Aufgabenstellungen an. Tatsächlich entfaltet sich sein Potenzial erst durch die Komposition von Aufgaben und Inhalten.

Verknüpfung von Aufgaben und Inhalten

Eine der stringentesten Konzepte für eine inhaltsbasierte Anordnung von Aufgaben zu einem Syllabus stammt von Long (2015). Er setzt an einer Bedarfsanalyse an, fragt also zunächst danach, auf welche Situationen in der Arbeits- bzw. Lebenswelt ein Kurs die Teilnehmenden vorbereiten soll. Diese Situationen werden dann in unterrichtliche Aufgaben übersetzt, sodass sich das Geschehen innerhalb des Klassenraums schrittweise jenem außerhalb annähert. Nur auf diese Weise, so Longs Argumentation, sei es überhaupt möglich, einen kohärenten Syllabus aufgabenbasierten Unterrichts zu erstellen. Die traditionelle Unterscheidung zwischen dem Gegenstand eines Unterrichts und der Methode wird somit weitgehend aufgehoben (vgl. auch van den Branden 2006:6).

Longs Vorgehensweise hat zweifellos Charme, denn sie erleichtert es Lehrenden erheblich, die Relevanz des Unterrichts zu verdeutlichen. Wenn beispielsweise die Teilnehmenden an einem fach- und sprachintegrierten Vorbereitungskurs für ausländische Pflegekräfte bereits im Klassenzimmer mit Aufgaben konfrontiert werden, die sich sehr eng an den Anforderungen ihrer künftigen beruflichen Tätigkeit orientieren, dann ist dieses Vorgehen unmittelbar einsichtig und bedarf keiner weiteren Begründung. Und es finden sich auch im Kontext japanischer Universitäten Versuche, Longs Ideen umzusetzen. So beschreibt Lambert (2010), wie er auf der Grundlage einer Bedarfsanalyse bei potenziellen künftigen Arbeitgebern seiner Studierenden den Englischunterricht neu konzipiert. Und Iizuka (2019) führt eine Bedarfsanalyse durch, um das bevorstehende Auslandsstudium seiner Lernenden besser vorbereiten zu können. Durch Umfragen und Interviews – beispielsweise mit erfahrenen Gastfamilien – versucht er systematisch die kommunikativen Anforderungen während des Auslandsaufenthaltes zu erfassen, die dann in einem zweiten Schritt in die Planung eines aufgabenbasierten Kurses einfließen.

Wie diese Beispiele verdeutlichen, überzeugt das von Long vertretene Konzept – das er selbst als das einzig sinnvolle betrachtet – durch seine Stringenz. Gleichwohl gehen Longs Überlegungen weit an den unterrichtlichen Bedingungen vorbei, wie sie viele Lehrende in den Bildungssystemen weltweit vorfinden. Zumeist lassen sich die Anforderungen, vor denen die Lernenden in Zukunft stehen werden, nur sehr grob umreißen. Daher gewinnen bei der Programmgestaltung neben den fremdsprachlichen und fachlichen Kompetenzen die generischen Kompetenzen als Bildungsziele eine besondere Bedeutung. Sie werden mit Themen verknüpft, die auf das Interesse der Teilnehmenden stoßen oder – wie im hier untersuchten Fall – sich am Studienfach orientieren. Je nach Kontext können auf diesem Wege sehr unterschiedliche Modelle einer Verknüpfung von Inhalten und Impulsen entstehen. Sie weisen letztlich nicht weniger Kohärenz als der von Long favorisierte Ansatz auf, auch wenn der unmittelbare Zusammenhang mit künftigen Gebrauchssituationen fehlt.

 

Als ein Beispiel lässt sich Breens (1987) Prozess-Syllabus anführen, der konsequent von den Interessen der Teilnehmenden ausgeht und seine Gestalt erst durch einen gemeinsamen Findungsprozess aller Beteiligten erhält. Wenn institutionelle Bedingungen jedoch diesem sehr offenen Ansatz entgegenstehen, bietet sich ein themenbasierter Syllabus an. Dessen Struktur wird eher von den Entscheidungen der Lehrperson bzw. curricularen Vorgaben geprägt.

Sowohl beim Prozess-Syllabus als auch beim themenbasierten Syllabus kann sich die konkrete inhaltliche Planung an unterschiedlichen Leitgedanken orientieren. So schlägt Cameron (2010) vor, jedes Rahmenthema in die Aspekte Menschen, Objekte, Aktionen, Prozesse, typische Ereignisse und Orte zu untergliedern. Ellis (2003) gruppiert in seinem „Themengenerator“ die Inhalte konzentrisch um das lernende Individuum. Im unmittelbaren Umfeld der Lernenden befinden sich somit die Gegenstände der alltäglichen Lebenswelt, am weitesten entfernt globale Themen und auch die Welt der Imagination. Mit fortschreitender fremdsprachlicher Kompetenz, so die Idee, erschließen sich die Lernenden nach und nach den derart vorgezeichneten Raum.

Diese Vorschläge für die Strukturierung der inhaltlichen Planung richtet sich an Kursangebote, deren Curriculum sich im Unterschied zu Longs Konzept nicht an fest umrissenen, zukünftigen (beruflichen) Anforderungen orientieren kann. Sie sind daher auch für das Intensivprogramm für Deutschlandstudien an der Keio Universität von besonderem Interesse. Wie bereits in Kap. 2.4.4 anklang, inspirierte vor allem der Themengenerator dessen inhaltliches Konzept. So befasst sich der Unterricht im ersten Studienjahr schwerpunktmäßig mit Fragen der Identität und richtet sich in den folgenden Studienjahren auf die Themenbereiche Generation und Gesellschaft. Die Übergänge sind jedoch fließend gestaltet, was sich gerade an den mit dieser Studie untersuchten Unterrichtseinheiten ablesen lässt. Obwohl sich die Lernenden mit einem Gegenstand beschäftigen, der ihre alltägliche Lebenswelt unmittelbar betrifft – die Beziehung zwischen den Menschen und den Dingen, die sie umgeben –, geht es zugleich um gesellschaftspolitische bzw. juristische Fragen (siehe Kap. 2.4.4).

Nach dem Abstecken des inhaltlichen Rahmens kann sich die Planung der Frage zuwenden, wie sich darin Aufgaben sinnvoll integrieren lassen. Auch hierfür wurde eine Reihe unterschiedlicher Vorgehensweisen entwickelt. Die einzelnen Aufgaben können beispielsweise so arrangiert werden, dass sie die Lernenden nach und nach zu einer Zielaufgabe führen. Der Planungsprozess setzt also an den Kompetenzen an, die Lernende entwickelt haben müssen, um ein bestimmtes Endprodukt hervorzubringen. Von diesem Punkt aus rückwärts blickend werden vorbereitende Aufgaben zu längeren Unterrichtssequenzen bzw. Lernszenarien (Legutke 2006; Piepho 2003) verknüpft.

Auch für Modelle, die auf Vorwärtsplanung gerichtet sind, finden sich in der Fremdsprachendidaktik Beispiele. Detailliert ausgearbeitet ist etwa der Six T’s approach von Stoller/Grabe (2017:53ff). Bei diesem Ansatz werden Rahmenthemen (themes) zunächst in Unterthemen (topics) zerlegt, und anschließend mit Materialien (texts) und geeigneten Aufgaben (tasks) zu Unterrichtssequenzen arrangiert. Gezielt geplante Übergänge (transitions) und sich im Unterricht eher spontan ergebende Verknüpfungen (threads) sorgen für eine insgesamte kohärente Struktur eines Kursangebots.

Auch das lineare Modell von Ellis (2018) setzt an einem Rahmenthema an, geht jedoch dann direkt zu den Aufgabenstellungen über: deren Verbindung führt zu der oben beschriebenen Lücke und der Entscheidung für einen bestimmtes Ergebnis. Erst dann werden die Materialien entwickelt, die im Modell von Stoller/Grabe als Bestandteil des Themas betrachtet werden.

Im hier untersuchten fach- und sprachintegrierten Kurs für Studierende auf Grundstufenniveau werden diese unterschiedlichen Planungsansätze zusammengeführt. Während also einige Unterrichtseinheiten aus einer Rückwärtsplanung hervorgehen (z.B. Schart 2013), entstehen andere eher aus einem vorwärts gerichteten Verfahren. In einigen Fällen stehen interessante Texte am Beginn der Entwicklung einer Unterrichtseinheit, in anderen beginnt die Planung bei zu fördernden Kompetenzen und entsprechenden Aufgabentypen.

Anders als es die oben beschriebenen linearen Modelle nahelegen, gestaltet sich die Planung jedoch in der Praxis normalerweise als ein iterativer Prozess. Die Auswahl und Formulierung von Aufgaben einerseits und die Gestaltung der Texte andererseits wird kontinuierlich aufeinander bezogen. Neben der Orientierung an einer inhaltlichen Kohärenz sind im Intensivprogramm für Deutschlandstudien dabei zwei weitere Prinzipien von zentraler Bedeutung. Zum einen werden die Unterrichtseinheiten so konzipiert, dass die Studierenden auf kognitive Konflikte stoßen. Die Planung wird also beständig dahingehend hinterfragt, inwiefern sie zu intellektuell herausfordernden Situationen führen kann (vgl. Gillies 2014:795). Im Einklang mit der inhaltlichen Relevanz liegt hierin eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass die Lernenden animiert werden, sich einer Thematik zu stellen, Problemstellungen motiviert anzugehen und sich auf den Austausch mit den anderen einzulassen. Interaktion wird dadurch zu einem inhärenten Merkmal des Unterrichtsgeschehens. Und hier zeigt sich das dritte Prinzip der Planung: die Inhalte und Aktivitäten werden so arrangiert, dass sie Austausch- und Aushandlungsprozesse nicht nur ermöglichen, sondern auch wahrscheinlich machen. Und weil sich daraus eine Art des Unterrichtens ergibt, die von bisherigen Darstellungen des interaktiven Geschehens in fach- und sprachintegrierten Programmen abweicht (Kap. 2.4.5), möchte ich sie im folgenden Abschnitt eingehender betrachten.

2.6 Unterrichtskonzeption III: Dialogisches Lernen

“CLIL students may be able to do more than we think, if we provide them with more interactional space to articulate their understanding.” (Llinares/Morton 2010:62)

Llinares/Morton formulieren ihre Annahme über die Bedeutung interaktionaler Räume für das Lernen in fach- und sprachintegrierten Unterrichtssetttings zurecht mit Bedacht, zeichnen doch bisherige empirische Studien in dieser Hinsicht ein eher desillusionierendes Bild (siehe Kap. 2.4.5). Sie geben jedenfalls nicht – oder nur sehr bedingt – zu erkennen, wie ein Unterricht aussehen könnte, der den Lernenden weitgehende interaktionalen Freiheiten zugesteht. Weitaus deutlicher führen sie vor Augen, dass die Kombination aus relevanten Inhalten und ansprechenden Aufgaben nicht zwangsläufig lebhafte Interaktionsprozesse in Gang setzt. Das Frage-Antwort-Rückmeldungs-Muster (Richert 2005) bzw. IFR/IRE-Sequenzen bleiben das Patentrezept für die Interaktion im Klassenraum, auch im fach- und sachintegrierten Unterricht, und das trotz aller Kritik aus dem akademischen Betrieb und entgegen all der Rufe nach einem Austausch, bei dem Rederechte und Redeanteile gleichmäßiger verteilt werden (z.B. Llinares et al. 2012:63ff; Lyster 2007:21; Moate 2011; Mehisto 2012:44ff; Mehisto et al. 2008). Dieses eher skeptisch stimmende Bild wird auch von Nikulas (2012) Studie kaum aufgehellt. Sie zeigt zwar, dass sich in CLIL-Settings eine größere interaktionale Symmetrie andeutet, die IRF-Sequenzen beispielsweise häufiger von den Lernenden selbst initiiert werden und zu längeren sowie komplexeren Redebeiträgen führen, aber das grundlegende Muster der Interaktion wird nicht durchbrochen.

2.6.1 Dialogische Wende

Dass Lehrende ungern auf das Mittel der engen Gesprächsführung verzichten, lässt sich natürlich sehr gut nachvollziehen. Es sichert ihnen nicht nur die Kontrolle über die Rollenverteilung im Klassenraum. Es hilft ihnen vor allem, die geplanten Stundenziele zu erreichen, denn Unterricht verläuft – selbst unter idealen Bedingungen – als unvorhersehbarer, von zahlreichen Faktoren beeinflusster Prozess. Zum Kern der pädagogischen Verantwortung zählt es, dieses potenzielle Chaos einzudämmen und den Fortgang des Geschehens auf dem gewünschten Kurs zu halten. Und dafür ist das Frage-Antwort-Rückmeldungs-Muster ein probates und von allen Beteiligten über Jahre hinweg eingeübtes Verfahren. Es hat die Lernbiografien vieler Menschen so nachhaltig geprägt, dass seine Nachteile leicht als missliche, aber leider unabwendbare Begleiterscheinungen wahrgenommen werden: die überbordende Dominanz der Lehrperson bei den Redeanteilen beispielsweise oder die tendenziell kurzen und nur wenig komplexen Äußerungen auf Seite der Lernenden.

Wenn sich die Lernenden auf einen Bruchteil der Redezeit in einer Unterrichtsstunde beschränken müssen, während die Lehrperson ausgiebig zu Wort kommt, dann lässt sich nur schwer von der Hand weisen, dass diese Art der Interaktion ein supoptimales Umfeld erzeugt, um fremdsprachliche Fähigkeiten zu fördern. Aber die Einwände gegen eine enge Unterrichtsführung beschränken sich keineswegs auf solche zeitökonomischen Überlegungen und sie zielen – obgleich sie den Fremdsprachenunterricht in besonderer Weise betreffen – auf die gesamte Interaktion in schulischen Lernprozessen. Denn Gesprächskompetenz zu entwickeln, also die Fähigkeit, in komplexen und inhaltlich anspruchsvollen Dialogen angemessen zu agieren und sich in Prozesse der Entscheidungsfindung und Meinungsbildung einzubringen, gehört zu den Kernaufgaben des Bildungssystems in demokratischen Gesellschaften (vgl. Ruf 2008).

Die Kritik reicht jedoch noch weiter und berührt letztlich die Frage, was Lernen in Gemeinschaften eigentlich ausmacht. Das große Potenzial von Klassenräumen liegt ja nur vermeintlich darin, Wissen effizient von einer Person auf zehn, zwanzig oder dreißig Lernende zu übertragen. Betrachtet man das Geschehen aus soziokultureller Perspektive (vgl. Kap. 2.2.7) erhellt sich, dass es vor allem dann Sinn macht, Menschen zum Lernen in Gruppen zu versammeln, wenn man ihnen die Möglichkeit gibt, zusammen an Herausforderungen zu arbeiten, um Erklärungen und Lösungen zu ringen und dabei nicht nur Wissen anzuwenden oder zu übernehmen, sondern auch gemeinsam neues Wissen zu produzieren. Solche Prozesse jedoch bedingen einen selbstbestimmten sprachlichen Austausch. In diesem Sinne ist die Qualität des Lernens in einem Klassenraum unmittelbar mit der Qualität der Interaktion verknüpft. Und diese Qualität lässt sich beobachten: sie zeigt sich an Anzahl und Umfang der Äußerungen von Lernenden, sie zeigt sich darin, wie Lernende mit ihren Redebeiträgen aufeinander reagieren, an zuvor Gesagtes anknüpfen, es erweitern oder hinterfragen. Und sie zeigt sich auch in den Hilfestellungen, die sie sich gegenseitig anbieten.

Ein Unterricht, der dieses intensive Miteinander zulässt und fördert, trägt einen vollkommen anderen Charakter als ein von enger Gesprächsführung durch die Lehrperson gekennzeichnetes Klassenraumgeschehen. Und selbst wenn man in Rechnung stellt, dass es sich beim Frage-Antwort-Bewertungsmuster um eine übermäßig reduzierte Variante des fragend-entwickelnden Unterrichts handelt, die dessen mäeutische Möglichkeiten bedauerlicherweise brach liegen lässt, bleiben die Unterschiede eklatant.

Gewährt man als Lehrkraft tatsächlich interaktive Freiräume, wie Llinares/Morten (2010) sie in ihren eingangs zitierten Überlegungen anmahnen, kann das gesamte „Kommunikationssystem des Unterrichts“ (Barnes 2008:2) ins Wanken geraten. Viele der Grundregeln unterrichtlicher Interaktion stehen dann zur Disposition, etwa die, dass nur die Lehrperson anderen das Rederecht erteilen darf, dass nur sie ohne Erlaubnis einzuholen spricht und andere ungefragt korrigiert, oder dass Lernende zügig auf die Impulse der Lehrperson reagieren sollten (vgl. Mercer/Howe 2012).

Es ist daher folgerichtig, dass Begriffe wie dialogische Wende (dialogic turn) bzw. dialogische Haltung (dialogic stance) geprägt wurden, um die grundsätzliche Verschiedenartigkeit des Interagierens zu markieren, die aus einem solchen Ansatz erwächst (vgl. Wegerif 2005; Wells 2009; Wells/Ball 2008). Der Begriff des Dialogs bezieht sich dabei – seiner ursprünglichen Bedeutung entsprechend – auf ein „Fließen von Worten“ zwischen allen am Unterricht beteiligten Personen. Die gebräuchliche Verwendung des Begriffs im Umfeld des Fremdsprachenunterrichts als Zwiegespräch mit Hilfe bestimmter Redemittel, führt also in doppelter Hinsicht zu einem verkürzten Verständnis: Ein Dialog ist nicht auf eine bestimmte Anzahl von Akteuren beschränkt und er verliert seinen Charakter, sobald er auf gelenktes oder sogar genötigtes Sprechen hinausläuft.