Fach- und sprachintegrierter Unterricht an der Universität

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2.2 Forschungsperspektiven
2.2.1 Impulse

Der Beginn des Forschungsprojekts, das die Autorinnen und Autoren in diesem Band aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten werden, lässt sich nicht genau datieren. Es reiht sich nahtlos ein in eine Folge von Studien, die während der letzten 15 Jahre im Intensivprogramm für Deutschlandstudien an der Juristischen Fakultät der Keio Universität Tokio durchgeführt wurden (Kap. 2.8.2). Ein entscheidender Impuls ging jedoch von einer curricularen Veränderung im Jahr 2009 aus. Zu dieser Zeit wagten wir – u.a. als Konsequenz aus einer umfassenden Evaluation des Programms in den vorangegangenen Jahren – eine Neuausrichtung mit ungewissem Ausgang: wir1 stellten einen der Anfängerkurse konsequent auf die Prinzipien des aufgaben- und inhaltsbasierten Unterrichts um.

Seit diesem Neubeginn vor nunmehr fast zehn Jahren konzipieren wir die Aufgaben mit dem Anspruch, kollaborative Interaktion bzw. kollaboratives Lernen im Klassenraum zu fördern. Die Beschäftigung mit formalen Fragen der deutschen Sprache verlagern wir in reflexive Phasen, die der inhaltlichen Arbeit immer unter- bzw. nachgeordnet sind. Alle Materialien werden nach inhaltlichen Kriterien erstellt. Sie zeichnen sich durch einen relativ hohen Grad an Komplexität aus und bieten damit vielfältige Möglichkeiten zum selbstständigen Experimentieren und Entdecken. Die Lernenden sollen durch die Kombination von herausfordernden Aufgabenstellungen und Themen ermutigt werden, die Fremdsprache intensiver als zuvor bedeutungsbezogen und kreativ zu benutzen (siehe Kap. 2.5).

Im Zuge der Umstellung des Unterrichtskonzepts begannen wir zugleich damit, verstärkt Inhalte aus dem Fachstudium (Fachbereiche Jura und Politikwissenschaft) bereits in die ersten Unterrichtsmonate zu integrieren. Wir versuchen also, Überlegungen zum aufgabenbasierten Unterricht (TBLT), wie sie etwa von Samuda/Bygate (2008) oder Willis/Willis (2007) vorgelegt wurden, mit inhaltsbasierten Konzepten zu verbinden und unter den Bedingungen unseres Lehr- und Lernkontextes möglichst stringent umzusetzen (zum Unterrichtskonzept siehe ausführlicher Kap. 2.3 bis 2.6).

Es war nicht so, dass wir uns blauäugig in diese Herausforderung begaben. Van den Brandens (2006:1) Bedenken hinsichtlich der Alltagstauglichkeit der akademischen TBLT-Konzeptionen war für uns zu diesem Zeitpunkt weit mehr als eine Vermutung. Da wir in den Jahren zuvor bereits vielfältige Erfahrungen mit aufgaben- und inhaltsbasierten Unterrichtssettings gesammelt hatten – manche eher ernüchternd (Schart 2008), andere ermutigend (Schart 2005; Schart et al. 2010; siehe auch Kap. 2.8.2) – , waren wir uns im Klaren darüber, dass uns diese Form des Unterrichtens vor vielfältige Schwierigkeiten und Hindernisse führen würde. Wir wussten beispielsweise, mit welchen Bedenken und Widerständen wir auf Seiten der Studierenden zu rechnen hatten. Wir konnten somit absehen, dass uns ein langwieriger Prozess bevorstehen würde, in dem verschiedene Komponenten aufeinander abzustimmen wären: nicht nur die Materialentwicklung oder die Gestaltung der Interaktionsmuster, sondern auch Aspekte wie die Unterrichtsatmosphäre oder die Erwartungshaltungen sowie die Wahrnehmung des Geschehens auf Seiten aller Beteiligten. Unser gestalterischer Enthusiasmus war daher von Beginn an immer eingehegt von einer selbstkritischen Haltung und der Frage: Was bedeutet dieser Wechsel der Unterrichtskonzeption eigentlich für die Lernenden, für die Lernprozesse und für uns als verantwortliche Lehrende?

Somit ist das Erkenntnisinteresse, das dieser Studie zugrunde liegt, genuin aktionsforschender Natur, auch wenn es sich im Verlauf des Forschungsprozesses weiterentwickelte und sich letztlich zu einem multiperspektivischen Projekt mit mehreren Fragestellungen auffächerte. Unser wichtigstes Anliegen war und ist es, ein deutlicheres Bild von den Auswirkungen des eigenen Handelns als Lehrende zu bekommen, als dies durch spontane Reflexionen im oder nach dem Unterricht möglich ist. Diese ursprüngliche Motivation bringt es mit sich, dass der Charakter der vorliegenden Studie von den besonderen Merkmalen der Aktionsforschung geprägt wird (vgl. (Altrichter et al. 2018:113ff; Schart/Schocker 2013).

2.2.2 Aktionsforschung

Die Aktionsforschung1 basiert auf dem bereits von (Dewey 2012 [1916]:142) formulierten Grundgedanken, dass Forschung kein Privileg von Personen darstellen dürfe, die sich hauptberuflich mit akademischer Wissensproduktion beschäftigen. Und er verwies in seinen Arbeiten immer wieder auf die Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern, ihre alltäglichen Erfahrungen mit Unterricht und Schule eingehend zu reflektieren und anhand der gewonnenen Erkenntnisse das eigene Handeln zu verbessern. Seit Deweys Tagen erlebte die Idee von forschenden Lehrenden jedoch eine sehr wechselvolle Geschichte: Zeiten der besonderen Aufmerksamkeit folgten Jahrzehnte, in denen sie kaum Beachtung fand. Sie wurde immer wieder neu entdeckt und mit unterschiedlichen Akzentsetzungen beschrieben, so dass sie uns heute in einer zuweilen verwirrenden Vielfalt von Begriffen begegnet: als Aktionsforschung oder Handlungsforschung, LehrerInnenforschung oder Praxisforschung (siehe auch Altrichter et al. 2014:285f). Noch weitaus facettenreicher stellt sich die Situation im englischsprachigen Raum dar, wo sich unter dem Oberbegriff action research zahlreiche Konzepte subsummieren lassen.2

Ungeachtet der Unterschiede im Detail und der – nicht immer überzeugenden – gegenseitigen Abgrenzungsbemühungen steht bei all diesen Konzepten das bereits von Dewey vorgezeichnete Prinzip im Zentrum: Lehrenden arbeiten kontinuierlich und selbstverantwortlich an der Weiterentwicklung ihres Arbeitsumfeldes, indem sie die eigene Praxis systematisch untersuchen. Mit der so gewonnenen empirischen Evidenz ergänzen sie ihre Intuition und ihre Erfahrungen. Sie schaffen sich gleichsam einen weiteren Trittstein, der ihnen Standsicherheit verleiht, wenn sie in den komplexen, ungewissen und mitunter auch paradoxen Situationen ihres Berufsalltags Entscheidungen treffen müssen (vgl. Schart/Legutke 2012:157ff).

Seit den 1990er Jahren lässt sich beobachten, wie dieses Verständnis von Professionalität eine stetig wachsende Bedeutung erfährt und sich in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Fremdsprachenlehrenden etabliert.3 Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Diskussionen um die Aktionsforschung von Beginn an immer auch geprägt waren von den Zweifeln an ihrer Realisierbarkeit und ihrem Potenzial. Kritisiert wurden und werden in erster Linie all jene Aspekte, die diese Form einer vermeintlichen Laienforschung vor dem Hintergrund akademischer Qualitätskriterien als mangelbehaftet erscheinen lassen. Die Argumente der Skeptiker haben über die zurückliegenden Jahrzehnte hinweg mehrfach ausführliche Erwiderungen erfahren – von Blum (1955) über Altrichter (1990:157ff), Zeichner/Noffke (2002) bis hin zu Greenwood (2015). Sie brauchen daher an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert zu werden. Ich möchte mich hier auf die beiden zentralen Kritikpunkte an einer von Lehrenden in Eigenregie betriebene Forschung konzentrieren: Sie betreffen zum einen das methodische Vorgehen beim Forschungsprozess und zum anderen die Art des generierten Wissens.

Im Hinblick auf die wissenschaftlichen Gütekriterien ist die Kritik an der Aktionsforschung leicht nachvollziehbar. Daten zu sammeln und sie zu strukturieren, ergibt noch keine Wissenschaft, wie Greenwood (2002:136) treffend bemerkt. Wer einen bestimmten Wissenschaftsbereich mit neuen Erkenntnissen bereichern will, kommt nicht umhin, die Vorleistungen anderer Forscherinnen und Forscher zu rezipieren und sich mit den methodologischen und methodischen Gepflogenheiten des betreffenden Gebietes auseinanderzusetzen. Gütekriterien wie die Objektivität, verstanden als Distanz zum untersuchten Gegenstand, und die Validität, verstanden als Gültigkeit und Generalisierbarkeit der Ergebnisse, können dabei – je nach Fragestellung und Gegenstand – unerlässliche Qualitätskriterien darstellen.

Die Schwäche dieser Argumentation zeigt sich jedoch, sobald man die Beweggründe forschender Lehrerinnen und Lehrer in Augenschein nimmt. Einen Beitrag zur Wissenschaft zu leisten, gehört sicher nicht zu ihren dringlichsten Anliegen. Ihr Fokus ist vielmehr auf das eigene Arbeitsumfeld gerichtet. Der Versuch, persönliche Distanz zum Untersuchungsfeld zu schaffen, wäre somit geradezu kontraproduktiv. Und auch die Forderung nach generalisierbaren Erkenntnissen erscheint aus dieser Perspektive wenig zielführend. Ausschlaggebend ist letztlich, ob bzw. in welcher Weise der Forschungsprozess dazu beiträgt, die Praxis besser zu verstehen und sie weiterzuentwickeln.

Deshalb können forschende Lehrkräfte auch auf den zweiten der oben genannten Kritikpunkte – die Zweifel am Wert des generierten Wissens – mit Gelassenheit reagieren, liegt es doch im Wesen von Aktionsforschungsprojekten begründet, dass idiosynkratische Erkenntnisse entstehen. Eine enge Bindung des Wissens an einen lokalen Kontext erscheint unabdingbar und es ist für die Qualität solcher Unternehmungen vollkommen unerheblich, ob dabei der Stand des wissenschaftlichen Diskurses letztlich nur ein weiteres Mal bestätigt wird. Diese Sichtweise „demystifiziert“ (Bray et al. 2014) den akademischen Betrieb und stellt das traditionelle Prestigefälle zwischen Wissenschaft und Unterricht in Frage: eine nicht zu unterschätzende Triebkraft für das professionelle Selbstbewusstsein von Lehrenden.

Möglich wird diese Form von Aktionsforschung aber erst dadurch, dass Lehrende für ihre Untersuchungen auf Instrumente zur Datengewinnung und -analyse zurückgreifen können, die sie trotz ihrer vielfältigen Arbeitsaufgaben handhaben können. Prinzipiell steht ihnen zwar der gesamte Werkzeugkasten der empirischen Sozialforschung zur Verfügung, doch die begrenzten Ressourcen erfordern eine sehr genaue Abwägung von Aufwand und Nutzen. Und so sind in den letzten Jahren vielfältige alltagskompatible Ansätze von Aktionsforschung entstanden. Sie sollen Lehrende dabei unterstützen, die kritische Reflexion des eigenen Arbeitsumfeldes mit Evidenz anzureichern, ohne dafür einen wissenschaftlich fundierten und dementsprechend aufwändigen Forschungsprozess initiieren zu müssen. Zu solchen alltagskompatiblen Verfahren gelangt man beispielsweise, indem man übliche Lernaufgaben zugleich auch nutzt, um Daten über Lernprozesse zu gewinnen4, oder indem man Modelle bereitstellt, an denen sich Lehrende bei ihren Untersuchungen orientieren können5.

 

Sofern Lehrende ihre Aktionsforschung als eine Strategie der beruflichen Weiterentwicklung und der Verbesserung von Schule und Unterricht konzipieren, brauchen sie akademischen Qualitätsstandards nur sehr bedingt gerecht zu werden. Sie müssen weder generalisierbares Wissen anstreben noch sich punktgenau im wissenschaftlichen Diskurs verorten. Was in erster Linie zählt, ist die ökologische Validität des hervorgebrachten lokalen Wissens im Sinne der Bewährung im Unterrichtalltag. Der Frage, mit welcher Intention Lehrerinnen und Lehrer beginnen, ihr berufliches Umfeld systematischer in den Blick zu nehmen, und in welcher Rolle sie sich selbst dabei sehen, kommt somit eine maßgebliche Bedeutung zu. Diesem Punkt möchte ich mich daher genauer zuwenden.

2.2.3 Rollenfindung

Für mich als einen der Lehrer in all jenen Kursen, aus denen die Daten für dieses Forschungsprojekt stammen, nahm die Studie ihren Ausgang an der Reflexion des eigenen Unterrichts. Ich wollte wissen, inwiefern es mir gelingt, durch das Zusammenspiel von Aufgaben, Materialien und Lehrerhandeln Räume für dialogische Lernprozesse zu schaffen. Wie ich weiter unten (Kap. 2.6) noch ausführlicher beschreiben werde, ging es mir also darum, zu einem besseren Verständnis der interaktiven Prozesse im Klassenraum zu gelangen. Damit sind zunächst zwei zentrale Merkmale der Aktionsforschung angesprochen: die Studie setzt an Themen an, die sich unmittelbar aus der Unterrichtspraxis ergeben und sie wird von den betroffenen Lehrenden selbst konzipiert und durchgeführt. Meine Rolle verstand ich somit von Beginn als die eines forschenden Lehrers. Ich kann mich also im weiteren Textverlauf nicht als vermeintlich objektiver Beobachter hinter der Analyse eines Geschehens verbergen, an dessen Zustandekommen ich unmittelbar beteiligt war. Die persönliche Einbindung in die untersuchten Prozesse werde ich daher immer wieder thematisieren.

Eine weitere Besonderheit der Aktionsforschung liegt darin, dass sie auf langfristige Forschungszyklen setzt. Auch das trifft auf diese Arbeit zu, denn sie ist – wie im Detail noch zu zeigen sein wird – eng verknüpft mit weiteren Studien, die sich demselben Unterrichtskontext widmen. Als im Jahr 2003 mit der empirischen Erforschung des Intensivprogramms für Deutschlandstudien an der Juristischen Fakultät der Keio Universität Tokio begonnen wurde, geschah dies unter dem Leitbild der Nachhaltigkeit und in der Überzeugung, dass eine kontinuierliche Entwicklung von Curriculum und Unterrichtsgestaltung nur auf dem Fundament evidenzbasierter Entscheidungen möglich sein würde (siehe Kap. 3). Dass dieses Fundament durch unterschiedliche Perspektiven auf das Geschehen und methodische Herangehensweisen an Stabilität gewinnen würde, lag auf der Hand. Und so wurden von Beginn an kleinere Aktionsforschungsprojekte, die ich in einzelnen Lerngruppen durchführte, durch umfassendere Untersuchungen ergänzt, an denen auch andere Forschende teilnahmen.

Auch in der vorliegenden Studie war es daher ein naheliegender Schritt, nach Möglichkeiten zu suchen, weitere interne und externe Kolleginnen und Kollegen in den Forschungsprozess zu integrieren. In diesem Bestreben, verschiedene Sichtweisen einzubinden und das Projekt zugleich in der professionellen Gemeinschaft von Lehrenden zu verankern, spiegeln sich typische Eigenarten von Aktionsforschung. Zugleich führt diese Erweiterung jedoch auch dazu, dass der Charakter der Studie mit dem Begriff der Aktionsforschung nur unzureichend beschrieben werden kann. Da wir uns als Forschungsgruppe verstehen, die neben der kontinuierlichen Programmentwicklung auch einen Beitrag zum Wissensgenese in den Bereichen Deutsch als Fremdsprache bzw. in der Fremdsprachenforschung leisten möchte, weist unser Projekt ebenso einige Gemeinsamkeiten zum Konzept der Entwicklungsorientierten Forschung auf, was ich im Folgenden detaillierter begründen werde.

2.2.4 Entwicklungsorientierte Forschung

Es gibt eine Reihe guter Gründe dafür, weshalb sich die vorliegende Studie neben der Aktionsforschung zugleich auch der Entwicklungsorientierten Forschung1 zugerechnet werden kann. In der Fremdsprachenforschung der letzten Jahre trifft dieser Ansatz auf stetig wachsende Resonanz, was sich meines Erachtens auf die Hoffnung zurückführen lässt, endlich einen Weg gefunden zu haben, die oft beschriebene und viel kritisierte Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überwinden. Die Entwicklungsorientierte Forschung verheißt somit dem akademischen Betrieb, seine Legitimation gegenüber der Praxis zu stärken.

Auch die Fachdidaktiken haben diesen Ansatz im Rahmen ihrer Bestrebungen, das forschende Lernen zu fördern, für sich entdeckt (z.B. unter der Bezeichnung „Fachdidaktische Entwicklungsforschung“, Prediger et al. 2012). Er wird als eine effektive Möglichkeit wahrgenommen, um Studierende mit dem Einsatz empirischer Methoden vertraut zu machen, die Herausbildung einer „forschenden Grundhaltung“ bei angehenden Lehrerinnen und Lehrern zu fördern (Wissenschaftsrat 2001, siehe auch Fichten 2017; Lehmann/Mieg 2018) und nicht zuletzt, um Brücken aus der Welt der Theorie in den unterrichtlichen Alltag zu schlagen (z.B. (Grünewald et al. 2014; Lindner/Mayerhofer 2017). Die wissenschaftlich reflektierte Auseinandersetzung mit dem Design von Praxis wird so zu einem wichtigen Element der Vorbereitung auf die künftige Berufstätigkeit, wodurch sich wiederum die Lehramtsausbildung ihrem Charakter nach anderen Professionswissenschaften wie etwa die Architektur oder der Informatik annähert.

Aus akademischer Perspektive fällt dabei die Abgrenzung zur oben genannten Aktionsforschung leicht. Beide tragen zwar interventionistischen Charakter, aber letztere – so eine verbreitete Sichtweise – werde vornehmlich von Lehrenden selbst betrieben und kümmere sich um die Lösung vermeintlich kleinteiliger praktischer Probleme oder das Verstehen eng begrenzter Situationen (vgl. Bakker 2018:15). Die Entwicklungsorientierte Forschung tritt hingegen mit dem Anspruch auf, pädagogische Innovationen auf der Basis von Theoriewissen zu konzipieren und deren Umsetzung in der Unterrichtspraxis systematisch in einem iterativen Prozess zu untersuchen, um die Ergebnisse dann wieder in die wissenschaftliche Theoriebildung einspeisen zu können.

Ein erstes spezifisches Merkmal der Entwicklungsorientierten Forschung in der Fachdidaktik ergibt sich demnach aus der engen Verknüpfung von theoretischen und unterrichtspraktischen Aspekten. Im Unterschied zum experimentellen Zugang zu Lehr- und Lernprozessen, wie er beispielsweise von der psycholinguistischen Fremdsprachenforschung praktiziert wird, geht es nicht darum, die Faktorenvielfalt des Unterrichtsgeschehens auf laborähnliche Bedingungen zu reduzieren. Vielmehr akzeptiert die Entwicklungsorientierte Forschung die Komplexität gelebter Praxis und versucht, an deren Verbesserung mitzuwirken. Nicht das Überprüfen von Theorien steht im Fokus, sondern das Übersetzen von Theorien in einen konkreten unterrichtlichen Kontext. Als Ergebnis entstehen Ideen für die Entwicklung bzw. Weiterentwicklung unterrichtlicher Arrangements. Sie können zu neuen Materialien ebenso führen wie zu innovativen Lösungen für einzelne Unterrichtsaktivitäten oder komplette Programme. Immer jedoch wird die Intervention holistisch gedacht. Sie ergibt sich erst aus der Abwägung der im betreffenden Praxisumfeld wirkenden Faktoren und Interessen. In diesem Sinne muss sie als ein „Produkt eines Kontextes“ (Reimann 2005:63) gesehen werden. Die Qualität der Entwicklungsorientierten Forschung zeigt sich daher zunächst – und dabei deutliche Parallelen zur Aktionsforschung aufweisend – an der Innovationskraft der eingebrachten Ideen, der Nützlichkeit der Intervention und auch ihrer Nachhaltigkeit (Bakker/van Eerde 2015:6; Reinmann 2005).

Die zentrale Frage bei diesem Forschungsansatz ist somit, ob es den Handelnden tatsächlich gelingt, sich auf die Komplexität eines unterrichtlichen Kontextes einzulassen und erfolgreich Weiterentwicklungen in der Unterrichtspraxis anzustoßen. Dem steht die Gefahr entgegen, die Rolle des Interventionsdesigns überzubetonen, wie Richter/Allert (2017) anmerken. Denn das würde den Forschungsprozesses auf seine technologischen Aspekte verengen. Er empfiehlt daher als naheliegende Maßnahme, die Handelnden in der Praxis möglichst umfassend zu beteiligen, womit er freilich auf eine weitere Verbindungslinie zur Aktionsforschung verweist.

Das zweite spezifische Merkmal der Entwicklungsorientierten Forschung wird darin gesehen, dass die Akteurinnen und Akteure im folgenden Schritt auch die Verantwortung für ihre theoriebasierten Entwürfe übernehmen und der Frage nachgehen, welche Folgen sich aus diesen für den unterrichtlichen Alltag ergeben. Dafür steht ihnen die gesamte Palette der empirischen Verfahren zur Verfügung, denn die Entwicklungsorientierte Forschung versteht sich nicht als eine Forschungsmethode, sondern eher als ein forschungsmethodologischer Rahmen. Es wird ein iterativer Prozess in Gang gesetzt, um die Auswirkungen der Intervention gleichlaufend zu ihrer praktischen Umsetzung zu erfassen und auf der Grundlage datenbasierter Einsichten das Design immer wieder neu anzupassen. Die Unterschiede zur Aktionsforschung ergeben sich dabei wohl vor allem durch die Konsequenz, mit der die Instrumente empirischer Sozialforschung Anwendung finden und sind somit nicht grundsätzlicher, sondern allenfalls gradueller Natur.

Dass die Ergebnisse aus solchen praktischen Problemlösungen dann wiederum – vor allem in Form von Design-Prinzipien – in die Theoriebildung einfließen, macht das dritte spezifische Merkmal der Entwicklungsorientierten Forschung aus.2 Dieser Anspruch erzeugt jedoch ein Spannungsfeld zwischen der bereits genannten praktischen Relevanz als Gütekriterium und jenen Anforderungen, die an die Qualität wissenschaftlicher Theoriebildungsprozesse gestellt werden. Als Lösungsmöglichkeit bietet es sich an, die unterschiedlichen Perspektiven von Forschung und Praxis zum ersten anzuerkennen und zum zweiten zielgerichtet als Quelle für den Erkenntnisgewinn zu nutzen (Brahm/Jenert 2014:50). Mit ihrer Akzentuierung der Genese theoretischen Wissens hebt sich die Entwicklungsorientierte Forschung also zunächst deutlich von der Aktionsforschung ab, um sich ihr jedoch im nächsten Schritt gleich wieder anzunähern.

Diese Widersprüchlichkeit tritt auch an der Frage zu Tage, welche Reichweite die aus Entwicklungsorientierter Forschung resultierenden Theorien anstreben sollten. Während etwa Prediger (2018) den lokalen Charakter der Theorien erwähnt und damit – der Aktionsforschung gleich – die ökologische Validität betont, sehen andere Autorinnen und Autoren (z.B. Barab/Squire 2004; Collins et al. 2004; McKenney/Reeves 2012:8) den Wert dieses Vorgehens gerade in der externen Validität der Forschungsergebnisse. Sie verweisen auf das Potenzial, auch solche Theorien bzw. Gestaltungsprinzipien zu formulieren, die weit über den begrenzten Kontext hinausweisen, in dem sie entstanden sind.

Diese beiden Interpretationen zur Reichweite der Theoriebildung bei Entwicklungsorientierten Forschungsprojekten schließen sich bei genauerer Betrachtung allerdings nicht aus. Es muss vielmehr von einem Kontinuum an Möglichkeiten ausgegangen werden.3 Sie sind mithin eher ein Zeichen für die Variabilität des Ansatzes. Sowohl bei den Zielsetzungen als auch bei den Gegenständen und den beteiligten Personen bieten sich verschiedenartige Konstellationen an (Cobb et al. 2003:9f; van den Akker 2013:62ff).

So kann diese Art von Forschung beispielsweise eingesetzt werden, um theoretische Prinzipien in ein konkretes Umfeld zu überführen. Diese Variante findet sich beispielsweise dann, wenn – wie bereits eingangs dieses Kapitels erwähnt – Entwicklungsorientierte Forschung in die Ausbildung angehender Lehrender integriert wird (z.B. Gess et al. 2017; Grünewald et al. 2014; Prediger 2018). Der Ansatz erfüllt in solchen Fällen in erster Linie die Funktion, den Studierenden die Relevanz wissenschaftlicher Konzepte für Belange des Unterrichtsalltags näher zu bringen und damit ihren Professionalisierungsprozess zu unterstützen.

 

Eine ganz andere Situation ergibt sich, wenn es zu Kooperationen zwischen Akteuren aus der Wissenschaft und der schulischen Praxis kommt, wenn also Lehrende oder auch Schulverwaltungen nach Lösungen für ein bestehendes Problem in ihrem lokalen Kontext suchen und dabei auf akademische Expertise zurückgreifen (z.B. Sloane 2014:116). Nicht nur die Zielsetzung der Entwicklungsorientierten Forschung verschiebt sich dadurch, sondern vor allem auch die Rollenverteilung der Beteiligten. Dass letztlich die Definition der Rollen aller Beteiligten auch in der Entwicklungsorientierten Forschung ein entscheidendes Moment darstellt, wie Euler (2014b:20) hervorhebt, tritt an dieser Stelle besonders deutlich zum Vorschein. So spricht prinzipiell nichts dagegen, dass Lehrende diesen Forschungsansatz selbstverantwortlich anwenden, ohne zusätzlich externe Forschende als Experten hinzuzurufen. Gerade wenn sich die Untersuchung auf die Praxis des Hochschulunterrichts selbst bezieht, liegt diese Variante natürlich besonders nahe und sie wird im Bereich der Fremdsprachendidaktik der letzten Jahre auch zunehmend praktiziert (Aguado et al. 2013; Egbert et al. 2015; Hung 2017; Moreno/Kilpatrick 2018).

Allerdings verdeutlicht diese Tendenz auch einmal mehr, wie schwierig es ist, die Entwicklungsorientierte Forschung von der Aktionsforschung abzugrenzen.4 Für die vorliegende Studie lässt sich aus diesen Überlegungen der Schluss ziehen, dass sie an der Grenze dieser beiden Forschungsansätze anzusiedeln ist. Wie ich im vorangegangenen Abschnitt zeigte, folgt sie einerseits einem aktionsforschenden Impetus. Ich wollte als Lehrer der betreffenden Klassen in Erfahrung bringen, was eigentlich die Interaktion in meinem Unterricht ausmacht und welche typischen Muster sich erkennen lassen. Es ging also zunächst um das Verstehen, Erklären und Verbessern einer konkreten unterrichtlichen Situation. Andererseits untersucht dieses Forschungsprojekt aber nicht nur, was ist, sondern auch, was sein könnte, um eine prägnante Definition Entwicklungsorientierter Forschung von Schwartz et al. (2005:2) aufzugreifen. Damit schließt sie sich deren Anspruch an, auch Vorhersagen über Lehr- und Lernprozesse zu treffen und Designprinzipien zu formulieren (Bakker 2018:8).

Die Studie macht sich somit die Synergieeffekte nutzbar, die sich durch die Grenzgänge zwischen Forschungsansätzen ergeben. Den Prinzipien der Entwicklungsorientierten Forschung folgend, bindet sie Theorien an einen konkreten Kontext, sie beschreibt, wie auf dieser Basis Innovationen entwickelt wurden und begleitet deren Umsetzung aus verschiedenen Perspektiven. Die Untersuchung soll effektive praktische Lösungen für die Integration fachorientierter Materialien in den Anfängerunterricht und für die Organisation dialogischer Lernprozesse finden. Sie soll Aufschluss darüber erbringen, in welcher Weise dieses Design in der Unterrichtspraxis wirkt. Und nicht zuletzt soll sie einen Beitrag leisten zur Theoriebildung im Bereich des fach- und sprachintegrierten Unterrichts. Und in all diesen Zielsetzungen spiegeln sich die methodischen Prinzipien Entwicklungsorientierter Forschung, wie ich sie in diesem Abschnitt nachgezeichnet habe.