Wie viel Tier darf's sein?

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TEIL II:

Veganismus ist trendy (Sehen)

1. Wird Deutschland vegan(er)?

„Deutschland wird vegan!“ So kann man es im Internet seit einiger Zeit wortwörtlich auf zahlreichen Seiten lesen. Die meisten von ihnen berufen sich auf Schätzungen des Vegetarierbunds (VEBU), der im Jahr 2015 von nahezu 10 % vegetarisch oder vegan lebenden Deutschen ausgeht. Wohlgemerkt: Das sind erklärtermaßen Schätzungen, denn die empirische Datenlage ist alles andere als eindeutig. Wie so oft hat sich noch keine für alle Umfragen identische Formulierung etabliert, mit der man nach der Ernährungsweise in puncto Fleisch und tierischen Produkten fragt. Manche Forschungsinstitute fragen, ob sich die Menschen als VegetarierIn bezeichnen würden, ohne ausdrücklich zu thematisieren, was darunter zu verstehen ist. Oft bejahen dies Menschen, die Fisch essen und damit PescetarierInnen sind, oder Personen, die nur selten Fleisch essen und zu den FlexitarierInnen gehören. Im Folgenden werde ich daher v. a. jene Studien heranziehen, die weitgehend verlässlich die Zahlen der wirklichen VegetarierInnen und VeganerInnen abbilden.

Für die Jahre 2005 bis 2007 hat die Nationale Verzehrsstudie 2008 folgende Daten erhoben:6 2,2 % der Frauen und 1 % der Männer ernähren sich konsequent vegetarisch. 0,1 % der Frauen, jedoch 0 % der Männer leben konsequent vegan. Bis zum Jahr 2013 hat sich die Zahl der vegan oder vegetarisch lebenden Frauen laut AllensbachInstitut auf 4 % nahezu verdoppelt, während die der Männer unverändert bei 1 % verharrt. Ein Jahr später stellt Statista allerdings deutlich höhere Quoten fest, wenn auch nicht nach Geschlecht unterschieden: Danach gibt es 2014 in Deutschland etwa 6,6 % Flexi-VegetarierInnen, 4,3 % konsequente VegetarierInnen, 0,3 % Flexi-VeganerInnen und 0,7 % konsequente VeganerInnen. Von den Schätzungen des VEBU sind wir damit noch weit entfernt.

Im internationalen Vergleich wird deutlich, dass die genannten Zahlen ungefähr richtig sein dürften, dass jedoch die Schwankungsbreite hoch ist: Wer sich im einen Jahr als vegan oder vegetarisch lebend bezeichnet, kann sich im nächsten Jahr bereits anders entschieden haben – nicht immer zum noch strengeren Verzicht, sondern mitunter zum neuerlichen Fleischverzehr hin. Viele Menschen, die im Moment der Meinungsumfrage echte VegetarierInnen oder VeganerInnen sind, wären in Langzeituntersuchungen als „Langfrist-FlexitarierInnen“ zu bezeichnen. Eine echte Lebensentscheidung scheinen Vegetarismus und Veganismus bislang nur für eine Minderheit zu sein. Laut Statistik Austria ernähren sich in Österreich 2011 etwa 1,4 % der Männer und 3,9 % der Frauen vegetarisch oder vegan. Für Italien ermittelt der „Rapporto Italia“ von Eurispes im Jahr 2013 etwa 4,9 % vegetarisch und 1,1 % vegan lebende Menschen. Im Folgejahr 2014 sind es 6,5 % bzw. 0,6 %.

Was lässt sich aus den präsentierten Daten in einem ersten Überblick herauslesen? Zunächst einmal erkennt man gut, dass die Zahl der Deutschen, die sich ohne Fleisch und Fisch ernähren, in den letzten Jahren deutlich und konstant zunimmt. Allerdings geht der Zuwachs fast ausschließlich auf das Konto der Frauen. Während 2006 etwas mehr als doppelt so viele Frauen wie Männer vegetarisch oder vegan lebten, sind es 2013 viermal so viele.

Im Vergleich zu Deutschland fallen die Zahlen für die Männer in Österreich 2011 etwas günstiger aus, weisen aber in die gleiche Richtung. Das Verhältnis vegetarisch oder vegan lebender Männer zu Frauen beträgt hier ungefähr 1:3.

Vergleicht man Österreich und Deutschland mit Italien, liegt der deutschsprachige Raum hinter dem Mittelmeerland deutlich zurück. Das betrifft allerdings, wie ein genauerer Vergleich zeigt, nur die Zahl der VegetarierInnen, während die Zahl der vegan lebenden Menschen nördlich und südlich der Alpen etwa gleich hoch ist. Insgesamt steigt die Zahl der vegetarisch oder vegan lebenden Menschen beidseits der Alpen an, wenn auch auf unterschiedlichem Niveau.

1.1 Der Fleischverzehr sinkt nicht

Um die Zahlen der vegetarisch oder vegan lebenden Menschen richtig einordnen zu können, müssen wir sie mit den Mengen des durchschnittlichen Fleischverzehrs in Deutschland korrelieren. Jüngere Statistiken unterscheiden begrifflich zwei Maße: Unter Fleischverbrauch versteht man (brutto) das Gewicht der gesamten verbrauchten Tiere. Hier sind Knochen, Knorpel und Fette mit eingerechnet, auch wenn diese von den KonsumentInnen nicht verzehrt werden. Unter Fleischverzehr hingegen versteht man (netto) den Fleischverbrauch abzüglich jener Teile, die nicht verzehrt werden. Die

Differenz ist erheblich und beträgt zwischen 25 % und 33 % des Fleischverbrauchs. So betrug der Fleischverbrauch in Deutschland 2011 statistisch 89,2 Kilogramm pro Kopf. Die tatsächlich verzehrte Fleischmenge lag laut Deutschem Fleischerverband bei 61 Kilogramm pro Kopf. Knapp ein Drittel des verbrauchten Fleisches waren also Abfälle, die nicht in Deutschland verzehrt wurden. Ein Teil von ihnen wird allerdings in arme Länder exportiert und dort verzehrt.

Betrachtet man die Entwicklung des Pro-Kopf-Fleischverbrauchs in Deutschland von 1960 bis 2010, kann man Folgendes erkennen: Von knapp 53 Kilogramm im Jahr 1960 stieg der Verbrauch nahezu geradlinig auf fast 95 Kilogramm im Jahr 1990, sank dann bis zum Jahr 2000 leicht ab und hält sich seither fast konstant auf hohem Niveau bei knapp 90 Kilogramm. Die Entwicklung verläuft parallel zu jener des Wohlstands. Fleisch ist eines der signifikantesten Wohlstandssymbole.

Diese Beobachtung lässt sich relativ gut verallgemeinern: Sobald das durchschnittliche Einkommen eines Landes wächst, steigt auch der Fleischkonsum, der sich zugleich von Geflügel und Lamm zu Schwein und Rind verschiebt. Allerdings gibt es ein unsichtbares Maximum des Konsums bei rund 100 Kilogramm pro Kopf und Jahr – ab diesem Wert steigt der Fleischverbrauch trotz Einkommenserhöhungen nicht mehr an.7 Die Food and Agriculture Organization FAO hat das 2009 in das Schaubild auf Seite 31 gegossen:

In Verbindung mit den vorher präsentierten Zahlen des langsam steigenden Anteils an vegetarisch oder vegan lebenden Menschen in Deutschland heißt das jedoch, dass sich eine Schere auftut: Manche Gruppen der Gesellschaft essen immer weniger Fleisch, teilweise bis sie bei der


Option des dauerhaften Fleischverzichts angelangt sind. Andere Gruppen der Gesellschaft steigern aber offenkundig ihren Fleischkonsum, denn nur so lässt sich erklären, dass die durchschnittlich konsumierte Fleischmenge in Deutschland konstant bleibt.

Ehe wir unseren Blick auf die Sozialisation der VegetarierInnen und VeganerInnen richten, sollen die erkennbaren Merkmale für die Sozialisation der Fleisch essenden Menschen genannt werden:

– Fleischverzehr ist zuallererst einmal männlich: Auch in den Industriegesellschaften, in denen die meisten Männer ebenso wie die meisten Frauen an einem Schreibtisch arbeiten und nur noch ein geringer Teil von ihnen wirklich körperliche Schwerstarbeit zu leisten hat, essen Männer in der Regel doppelt so viel Fleisch wie Frauen.8

– Fleischkonsum ist bei den Männern in den unteren sozialen Schichten beheimatet: Männer in der Unterschicht essen ziemlich genau ein Drittel mehr Fleisch als Männer in der Oberschicht. Bei den Frauen hingegen ist der schichtspezifische Unterschied gering.9

– Fleischkonsum ist in Deutschland südöstlich: Zwischen den nordwestlichen und den südöstlichen Bundesländern besteht ein Gefälle von etwa einem Viertel. Am wenigsten Fleisch essen die Menschen in SchleswigHolstein, am meisten die Thüringer und Sachsen.10

– Fleischkonsum in Deutschland ist „konventionell“: Menschen, die vorzugsweise Fleisch aus ökologischer Landwirtschaft kaufen, essen rund ein Fünftel weniger als solche, die das nicht tun.11

An der Kombination der vier Merkmale wird deutlich, dass sich ein höherer Fleischkonsum nur in der Minderheit der Fälle mit der stärkeren körperlichen Beanspruchung im Beruf erklären lässt. Viel stärker dürften überkommene Wertorientierungen eine Rolle spielen: Fleisch ist ein Wohlstandssymbol, und wer wenig Wohlstand hat, muss sich und anderen stärker beweisen, dass es ihm dennoch gut geht und dass er sich etwas leisten kann. Und Fleisch ist allem voran ein Männlichkeitssymbol: Insbesondere Männer, deren Rollenverständnis noch sehr traditionell geprägt ist, neigen dazu, mehr Fleisch zu essen. Männer aus geringeren Einkommensverhältnissen müssen sich also doppelt beweisen: dass sie echte Männer sind und dass sie es zu etwas gebracht haben. Die Reduktion des Fleischverbrauchs wird also wesentlich davon abhängen, ob neue Bilder von Männlichkeit und Wohlstand etabliert werden können.

1.2 Wer sind die VegetarierInnen?

Die eben dargestellten Beobachtungen erhärten sich, wenn ein genauerer Blick auf die vegetarisch oder vegan leben den Menschen in Deutschland geworfen wird. Auch für sie geht es beim Fleischverzicht nicht nur um einen Ernährungsstil, sondern um einen umfassenden Lebensstil. Überzeugungen, Haltungen und alltägliche Praxis verbinden sich zu einer Lebensgestalt. Zugleich ist ihr Lebensstil ein Merkmal sozialer Unterscheidung. VegetarierInnen aus den Industrieländern des 21. Jahrhunderts kommen meist aus der Mittelschicht. Sie grenzen sich vom Ernährungsstil der Armen und der Reichen gleichermaßen ab und setzen beiden (!) die Maßhaltung entgegen.12

Die Vegetarierstudie der Friedrich-Schiller-Universität Jena hat 2007 versucht, durch einen online auszufüllenden Fragebogen wesentliche Erkenntnisse über die typischen VegetarierInnen in Deutschland zu gewinnen. Die 2500 ausgewerteten Antworten ergeben folgendes Bild: Der typische Vegetarier ist weiblich (70 %), jung (77 % sind weniger als 40 Jahre alt), überdurchschnittlich gebildet (75 % haben mindestens Abitur) und lebt in einer Großstadt (47,2 % wohnen in Städten über 100 000 EinwohnerInnen).

 

Die Bedeutung von Intelligenz und Bildung für die Wahl eines vegetarischen Lebensstils wurde 2007 in einer groß angelegten britischen Studie aufgezeigt:13 30 Jahre lang wurde die Entwicklung von 17 200 Personen des Geburtsjahrgangs 1970 verfolgt. Im Alter von 10 Jahren wurde der Intelligenzquotient bestimmt. Im Alter von 30 Jahren wurden die Frauen und Männer nach ihren Ernährungsgewohnheiten befragt. Das Ergebnis : Dreißigjährige VegetarierInnen hatten als Zehnjährige einen Intelligenzquotienten von durchschnittlich 106 Punkten, während gleichaltrige FleischesserInnen im Schnitt nur 99 Punkte erreichten.

Sabine Weick untermauert diese Beobachtung durch qualitative Interviews mit jungen Männern, die sich für ein veganes Leben entschieden haben : 14 Für 57 % der Interviewpartner spielen ihre sozioökonomischen Rahmenbedingungen eine große Rolle, ebenso wie ihr familiäres Umfeld, das bereits vor ihrer Entscheidung für vegane Ernährung eine reflektierte und eigenständige Ernährung fördert und die Autonomie respektiert. Am stärksten, nämlich mit 78 %, wirkt sich die Lebenslage der jungen Männer aus: Sie haben ein modernes, egalitäres und gewaltfreies Männerbild, das gepaart ist mit jugendlichem Idealismus, dem Offensein für Innovation und dem starken Streben nach Unabhängigkeit. Man kann leicht erkennen, dass für diese Faktoren die Bildung der Eltern und der jungen Männer eine Schlüsselrolle spielt.

Lässt sich auch etwas über den Faktor Religion sagen? Gefragt nach ihrer Religionszugehörigkeit gaben die in der Vegetarierstudie der Friedrich-Schiller-Universität Jena 2007 befragten VegetarierInnen an: 51,93 % bekenntnislos, 23,44 % evangelisch, 17,28 % katholisch, 2,30 % buddhistisch, 5,15 % andere Konfessionen und Religionen. Das ist bemerkenswert. Denn wenn man davon ausgeht, dass in Deutschland 2007 ungefähr 35 % Bekenntnislose, 30 % evangelische und 30 % katholische ChristInnen sowie 5 % Angehörige anderer Konfessionen und Religionen leben (so der Zensus 2011), sind unter den Angehörigen von Religionsgemeinschaften deutlich weniger VegetarierInnen vertreten als unter den Bekenntnislosen, und zwar unter den evangelischen ChristInnen nur etwa halb so viele und unter katholischen ChristInnen nur gut ein Drittel wie unter der gleichen Zahl von Bekenntnislosen.

VegetarierInnen in Deutschland sind in weit überdurchschnittlichem Maße keiner Religion zugehörig. Dieses Faktum kann man in zwei Richtungen interpretieren : Entweder sind die bekenntnislosen VegetarierInnen aus ihrer Religionsgemeinschaft ausgetreten, weil diese den Vegetarismus zu wenig schätzt, fördert, propagiert oder den Tierschutz zu wenig thematisiert. Dann wäre die Entscheidung für ein vegetarisches Leben der Grund für den Abschied von der Religion. Oder die bekenntnislosen VegetarierInnen waren zuerst bekenntnislos und haben sich danach für ein vegetarisches Leben entschieden. Dann ist es zumindest denkbar, dass sie mit der vegetarischen Lebensoption eine Leerstelle ihres Lebens füllen wollen, indem sie sich selbstlos für etwas Sinnvolles einsetzen, den Tierschutz. Ihr Vegetarismus hätte dann soziologisch betrachtet die Funktion einer Religion, wobei ich den abwertenden Begriff der „Ersatzreligion“ bewusst vermeide. In jedem Fall müssen beide Seiten, religionslose VegetarierInnen und Religionsgemeinschaften, ein Interesse daran haben, die offenkundig zwischen ihnen bestehende Distanz zu überwinden : die VegetarierInnen, um den Tierschutz voranzubringen, die Religionen, um unnötige Konfrontationen und Spaltungen zu vermeiden.

1.3 Die Jugendszene der VeganerInnen

Eigene Daten zu vegan lebenden Personen enthält die Jenaer Studie nicht. Zum Zeitpunkt ihrer Erhebung im Jahr 2007 gab es noch zu wenige Menschen, die ganz auf tierische Produkte verzichteten. Doch präsentiert der Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie der Technischen Universität Dortmund auf seiner Homepage über Jugendszenen an vorletzter Stelle der alphabetischen Liste die Jugendszene der VeganerInnen.

Nach den dort präsentierten Informationen ist die Struktur der veganen Szene relativ diffus. Den einen klassischen Typus des Veganers oder der Veganerin gibt es nicht.15 Es gibt eingetragene Vereine wie die Vegane Gesellschaft in Österreich oder die weltweit agierende PETA (People for the Ethical Treatment of Animals). Letztere wird allerdings innerhalb der Szene äußerst kritisch betrachtet, weil sie mit Prominenten zusammenarbeitet, die nicht vegan leben, weil sie in den USA herrenlosen Haustieren aktive Sterbehilfe leistet und weil sie stark kommerziell ausgerichtet ist. Demgegenüber ist die Szene selber vorwiegend in provokanten Aktionen für Tierrechte aktiv, die kurzfristig in den sozialen Netzwerken vereinbart und geplant werden.

Die Gesamtzahl vegan lebender TierrechtlerInnen in Deutschland schätzen die Dortmunder SoziologInnen auf 300 000 bis 400 000. Von einer reinen Jugendkultur könne nicht gesprochen werden, weil es z. B. auch vegan lebende Familien gebe und ein veganer Lebensstil kein jugendspezifisches Protestverhalten darstelle. Das Geschlechterverhältnis der Szene sei ausgeglichen und das Bildungsniveau vergleichsweise hoch. „Von einer einhellig befolgten ‚Ernährungslehre‘ kann jedoch nicht die Rede sein. Es gibt Veganer, die sich vorwiegend oder ausschließlich von Rohkost ernähren, andere wiederum bevorzugen regionale Lebensmittel (möglichst) aus biologischem Anbau. Wieder andere bestellen im veganen Versandhandel spezielle vegane Lebensmittel.“16

Im Mittelpunkt des Szene-Geschehens stehen Tierrechtsphilosophie und -politik sowie KonsumentInnenaufklärung und Demonstrationen gegen Tierausbeutung. Tierrechte „fließen als selbstverständlicher und notwendig erachteter Bestandteil in die Wertediskussion und in Fragen nach dem ‚guten‘ und ‚ethisch korrekten‘ Leben mit ein – sie stehen quasi gleichberechtigt neben der Durchsetzung von Menschenrechten und der Beseitigung zahlloser Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen (wie Rassismus oder Sexismus).“17 Aktivitäten richten sich insbesondere gegen große Einzelhandelskonzerne, FastFood-Ketten, Massentierhaltungen, Forschungseinrichtungen mit Tierversuchen, Zirkusbetriebe mit Tierhaltung, Jagdveranstaltungen und Pelztierfarmen.

„Vegan zu leben wird nicht bloß als eine mögliche Lebensstiloption betrachtet oder gar auf eine alternative Ernährungsweise gleich einer ‚strengen‘ vegetarischen Diät reduziert. Dem Verständnis und Bestreben nach geht es um einen möglichst umfassenden und nachhaltigen Lebensstil unter Berücksichtigung der vitalen Belange von Tieren, d. h. es handelt sich um ein von hohen ethischen und moralischen (Wert-)Vorstellungen geleitetes, notwendiges Lebensprinzip“ (ebenda). Der Veganismus ist damit zumindest in den letzten Jahren stärker zu einer weltanschaulichen Identitätsfrage geworden als der Vegetarismus,18 für den die weltanschauliche Dimension umso mehr an Bedeutung verloren hat, je mehr Menschen sich zeitweise oder dauerhaft vegetarisch ernähren. Oft resultiert daraus eine starke Abneigung der VeganerInnen gegenüber VegetarierInnen.19 Vegetarismus und klassischer Tierschutz werden von der veganen Szene als Konzepte betrachtet, die der Förderung des Tierrechtsgedankens schaden, weil sie auf halber Strecke stehen bleiben. VegetarierInnen können sich oft vorstellen, wieder Fleisch zu essen, wenn sich die Tierhaltung deutlich verbessert hat.20 VeganerInnen hingegen wollen selbst im medizinischen Notfall nur selten auf ihre Lebensweise verzichten, teilweise sogar unter Inkaufnahme des Verzichts auf an Tieren getesteten Medikamenten.21 Sie distanzieren sich daher deutlich von VegetarierInnen.

1.4 Der „neue Veganismus“

Die eigentliche vegane Szene muss sich aber noch nach einer anderen Seite abgrenzen, nämlich gegenüber den Mode- bzw. Trend-VeganerInnen. „Insbesondere konkurrierende (Online-)Foren und Communities streiten nicht selten um die Definitions- und Deutungsmacht zu veganen Produkten oder das Vegansein als solches.“22

Der „neue Veganismus“ ist nicht mehr primär von ethischen Dogmen bestimmt, sondern von der Lust an alternativer Ernährung, am Ausprobieren von Neuem und am Genießen der hohen Qualität veganer Ernährung. „Gemüse ist jetzt sexy, Karotten sind geil“ (VEBU). Vegan ist Lifestyle statt Mission. Das heißt nicht, dass das Tierwohl für den neuen Veganismus keine Bedeutung mehr hätte. Ganz im Gegenteil. Aber eine neue Lockerheit hält Einzug, die der Provokation des veganen Lebens ihre Schärfe nimmt.

Gleichwohl scheint es, als würden die meisten VeganerInnen ihre Ernährungsoption auf Dauer beibehalten wollen, auch die „neuen VeganerInnen“. Die waren 2011 zwar erst im Kommen, als Janice Stanger mehr als 2000 vegan lebende Personen in den USA befragte. Doch die Ergebnisse ihrer Untersuchung sind erdrückend: Fast 95 % aller Befragten gaben an, der Veganismus sei für sie eine Lebensentscheidung. Ob sie diese tatsächlich durchhalten, ist freilich genauso ungewiss wie bei anderen Lebensentscheidungen.

Zu den typischen Merkmalen des neuen Veganismus gehört, wie gesagt, der Genuss. Das lässt sich gut an einer anderen Frage ablesen, die Stanger ihren Interviewpartnern stellte: „Ich genieße vegane Ernährung“ und „Ich genieße es, mehr zu kochen“ sind zwei der vier meistgenannten Antworten, die so gar nicht zu den VeganerInnen der „Szene“ passen. Die würden eher die Antworten „Ich tue etwas für Tiere“ und „Ich tue etwas für die Umwelt“ bejahen. Nun waren bei dieser Frage Mehrfachnennungen möglich, und es wurde außerdem nicht nach dem Gewicht einer Erfahrung gefragt. Szene-VeganerInnen und neue VeganerInnen werden also oft dieselben Antworten gegeben haben. So fundamental liegen sie nicht auseinander. Und doch macht es einen großen Unterschied, was an erster Stelle steht: der Genuss oder die moralischen Prinzipien.

Möglicherweise scheiden sich die Geister am deutlichsten bei der Aussage „Ich fühle mich als Vorbild“. Fast 70 % haben dieser Aussage zugestimmt. Das können genau genommen nur Szene-VeganerInnen sein. Diese müssen der Aussage zustimmen, wenn sie ihre Mission wirklich ernst nehmen.

Für die Theologie interessant ist die Aussage, dass sich fast 42 % der VeganerInnen spiritueller fühlen als vor ihrer Entscheidung für das vegane Leben. Natürlich muss man dabei berücksichtigen, dass die USA insgesamt ein weit höheres Niveau der Religiosität aufweisen als Europa. Aber wenn knapp die Hälfte der Befragten sagen, ihre Spiritualität habe sich durch den Veganismus intensiviert, dann ist das nicht unbedeutend. Offenkundig regt die Auseinandersetzung mit Tier und Umwelt, wie sie sich im Veganismus ausdrückt, zu einer höheren Sensibilität für und Nähe zu spirituellen Fragen an.

1.5 Das Ethos der VegetarierInnen und VeganerInnen

Bereits im Jahr 2000 untersuchten WissenschaftlerInnen der Universität Wellington in Neuseeland die Werte und Überzeugungen von VegetarierInnen im Vergleich zu FleischesserInnen.23 Dabei entdeckten sie zwei zentrale Unterschiede : Fleisch essende Menschen unterstützen mit höherer Wahrscheinlichkeit ausgeprägt hierarchische Herrschaftsstrukturen und messen Gefühlen signifikant weniger Bedeutung zu als VegetarierInnen. Damit konnten sie die klassische soziologische These empirisch beweisen, Fleisch lasse sich viel leichter hierarchisch verteilen als pflanzliche Speisen. Denn beim Fleisch gibt es viel eindeutiger bessere und schlechtere Stücke. Das alte, noch immer in vielen Familien praktizierte Ritual, dass der Hausherr den Braten anschneidet und verteilt, hat genau damit zu tun. Selbstverständlich teilt er das beste Stück sich selber zu.

Mittlerweile ist das größere Mitgefühl von ethisch motivierten VegetarierInnen und VeganerInnen sogar auf Bildern im funktionalen Magnetresonanztomogramm (fMRI) nachgewiesen.24 Zunächst wurde mittels Befragung der Empathie-Quotient EQ, also das emotionale Gegenstück zum Intelligenz-Quotienten IQ, gemessen. Überraschenderweise lag dieser bei den VegetarierInnen am höchsten: Sie hatten einen EQ von 49, VeganerInnen von 44, FleischesserInnen dagegen nur von 38. Im zweiten Schritt wurden den StudienteilnehmerInnen während eines Hirnscans Bilder mit leidvollen Szenen von Menschen und Tieren sowie neutrale Landschaftsbilder gezeigt. Dabei zeigte sich, dass während des Ansehens leidvoller Szenen die für Empathie wichtigen Gehirnregionen bei VegetarierInnen und VeganerInnen viel stärker aktiv sind als bei FleischesserInnen. Allerdings sind es bei VegetarierInnen andere Gehirnregionen als bei VeganerInnen.

 

Eine Folgestudie derselben italienischen Forschergruppe zeigt, dass sich VegetarierInnen und VeganerInnen besser in Tiere einfühlen können.25 Bei VegetarierInnen sind vermehrt Hirnregionen aktiv, die bei der Nachahmung anderer eine Rolle spielen. Während sie üblicherweise primär zur Nachahmung von ArtgenossInnen benutzt werden, dienen sie VegetarierInnen aber zur Nachahmung über die Artgrenzen hinaus. Bei VeganerInnen waren Teile des sogenannten Spiegelneuronensystems besonders aktiv, die für das Hervorrufen derselben Gefühle wie bei anderen verantwortlich sind.

Es deutet also viel auf eine höhere Empathiefähigkeit und größere Neigung zu gleichrangigen Beziehungen von vegetarisch oder vegan lebenden Menschen hin. In diesem Zusammenhang ist nochmals auf die Befragung von VeganerInnen in den USA 2011 durch Janice Stanger hinzuweisen. Sie zeigt, dass fast zwei Drittel den Umstieg auf vegane Ernährung deswegen vollziehen, weil sie das Leid der Nutztiere verringern wollen. Das bleibt auch später ihre tragende Motivation. Sie wird aber zunehmend ergänzt durch den Wunsch, umweltverträglich und gesund zu leben. Das ethische Bewusstsein, das zunächst stark auf die Tiere fokussiert ist, weitet sich also allmählich auf einen größeren Horizont. Ich halte das für eine sehr bemerkenswerte Beobachtung. Denn Außenstehende werfen den VeganerInnen oft vor, sie hätten einen „Tunnelblick“ und würden links und rechts der Tiere buchstäblich nichts von der Wirklichkeit wahrnehmen. Dem ist offensichtlich nur am Anfang einer veganen „Karriere“ so. Je länger man vegan lebt, umso mehr weitet sich bei den meisten der Blick.

1.6 Die Attraktivität von Vegetarismus und Veganismus

Bisher haben wir Vegetarismus und Veganismus mehr aus der Innensicht vegetarisch oder vegan lebender Menschen betrachtet. Jetzt gilt es, auch von außen auf sie zu schauen. Dabei spielt insbesondere die folgende Frage eine Rolle: Warum nehmen Vegetarismus und Veganismus in den letzten Jahren so deutlich zu? Was macht sie gerade für junge, gebildete Menschen so attraktiv? In der Regel werden von den WissenschaftlerInnen vier Gründe angeführt:26

Selbstwirksamkeit: In der Psychologie wird gegenwärtig viel mit dem Konzept der Selbstwirksamkeit gearbeitet. Der Mensch, so die Beobachtung, hat ein fundamentales Bedürfnis, die Wirksamkeit seines eigenen Handelns zu erleben und zu spüren. Beim Umstieg auf eine andere Ernährung ist dieses Erleben sehr unmittelbar gegeben. Man kann etwas Konkretes für andere tun.

Komplexitätsreduktion: Die Soziologie erachtet Komplexität als eines der zentralen Merkmale moderner Gesellschaften. Diese Komplexität in einer zielführenden Weise zu reduzieren gehört daher zu den Aufgaben aller gesellschaftlichen Funktionssysteme. Mit der vegetarischen oder veganen Ernährung gibt es (scheinbar) eine einfache Lösung für viele große Probleme der Welt :

„Die Welt retten war auf einmal so einfach. Ich musste überhaupt nichts tun, nur etwas lassen: Fleisch essen. Ein kleiner Preis für ein gutes Gefühl.“27

Natursehnsucht: Die moderne Industriegesellschaft mit ihrer Technisierung und Urbanisierung entfernt sich immer weiter von der Natur. Das gilt auch für ihre Art und Weise, Lebensmittel herzustellen. Vegetarische und vegane Ernährung wenden sich den nichtmenschlichen Tieren zu. Philosophisch gesehen handelt es sich um das Streben nach einer neuen Naturnähe.

Erlösungssehnsucht: Der Esstisch ist einer der zentralen Orte aller Kulturen, an dem die Suche nach einer besseren Lebensweise und die Sehnsucht nach einer anderen Welt aufbrechen. Hier liegt aus theologischer Sicht die religiöse Dimension von Vegetarismus und Veganismus.

Die vier genannten Faktoren gelten für die vegane Kernszene ebenso wie für VegetarierInnen, FlexitarierInnen und Lifestyle-VeganerInnen, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Hinzu kommt ein Faktor, der für junge Menschen eine große Rolle spielt: Es liegt im Trend, sich ohne Fleisch zu ernähren, und es ist hip, vegetarische oder vegane Produkte zu essen. „Fleischliebhaber sind fett und krank, Vegetarier gesund und sexy.“28 Das Nein zum Fleisch steigert Attraktivität und Sex-Appeal.

Die wachsende Attraktivität einer vegetarischen oder veganen Ernährung zeigt sich insbesondere, wenn nach den Reaktionen der nahestehenden Menschen gefragt wird.29 Mit Abstand am häufigsten reagieren US-AmerikanerInnen mit Neugier, wenn jemand sich als vegan outet. Das Interesse, selbst VeganerIn zu werden, ist höher als die Absicht, vegan lebende Personen zum Fleischverzehr zu animieren. Bewunderung und Feindseligkeit halten sich die Waage. Noch applaudieren nicht alle, wenn jemand vegan lebt. Aber eine durchgehende Mauer der Ablehnung begegnet VeganerInnen nicht mehr. Deutlicher als in den meisten Daten wird hier sichtbar, dass ein Trend im Werden ist.

1.7 Das „veganste“ Land ist Israel

Mag Indien das Land mit dem höchsten Anteil an vegetarisch lebenden Menschen sein – das Land mit dem höchsten Anteil an vegan lebenden Menschen ist, vermutlich für viele überraschend: Israel.30 Und dabei wächst der Prozentsatz an VeganerInnen in hohem Tempo weiter: Laut dem israelischen Statistikamt waren 2010 rund 2,5 % der Bevölkerung VegetarierInnen. 2015 stieg der Wert auf 8 % VegetarierInnen plus 5 % VeganerInnen. „Das Phänomen ist enorm“, zitiert Kersten Augustin den Ernährungssoziologen Rafi Grosglik von der Universität Tel Aviv, „vor wenigen Jahren war der Veganismus nur ein Phänomen der urbanen, linken Israelis aus der Mittelschicht, jetzt gibt es bis ins rechte Lager viele Veganer.“31

Der durchschnittliche Fleischverbrauch pro Kopf sinkt in Israel allerdings wie in Deutschland noch nicht. Laut OECD und FAO konsumierten die Israelis im Jahr 2014 brutto pro Person durchschnittlich 63,0 Kilogramm Geflügel, 19,2 Kilogramm Rindfleisch, 2,0 Kilogramm Schweinefleisch und 1,9 Kilogramm Schaffleisch. Das sind in Summe 86,1 Kilogramm Fleisch, fast so viel wie in Deutschland (wobei das Schweinefleisch, das in Israel nur die wenigen ChristInnen essen, von JüdInnen und MuslimInnen durch Geflügel ersetzt wird). 2004 waren es in Israel brutto durchschnittlich 62,5 Kilogramm Geflügel,

18,4 Kilogramm Rindfleisch, 2,2 Kilogramm Schweinefleisch und 1,1 Kilogramm Schaffleisch.32 Das waren in Summe 84,2 Kilogramm. Auf zehn Jahre gerechnet ist der Pro-Kopf-Fleischverbrauch der Israelis also sogar noch leicht gestiegen.

Aber warum liegt die vegane Ernährung ausgerechnet in Israel so stark im Trend? Folgende vier Gründe werden von den Ernährungssoziologen genannt:33

– Zunächst einmal ist es in Israel relativ leicht, sich vegan zu ernähren: Frisches Gemüse und Obst sind ganzjährig in großer Menge und Vielfalt vorhanden.

– Vegane Ernährung passt gut zu den Regeln der Kaschrut, den jüdischen Reinheitsvorschriften: Kern der Kaschrut ist eine strikte Trennung von Fleisch- und Milchküche. Weder dürfen Fleisch- und Milchspeisen gleichzeitig gegessen werden noch dürfen sie im selben Kühlschrank gelagert, in denselben Kochtöpfen zubereitet oder auf denselben Tellern serviert werden. – Wer also auf Fleisch und Milch verzichtet, erspart sich eine Menge komplizierter Einschränkungen.

– So grotesk es in deutschen Ohren klingen mag, aber in Israel bezeichnen viele TierrechtsaktivistInnen die massenhafte Tötung von Tieren als „Holocaust an Tieren“. Die Vergasung männlicher Küken aus der Legehennenzucht, die gleich nach dem Schlüpfen stattfindet, vergleichen sie sogar mit den Gaskammern der Konzentrationslager. Und sie tun dies im vollen Bewusstsein der nationalsozialistischen Verbrechen.

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