Warum wir an falsche Sätze glauben

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Markus HOFER von der BaFin erläutert: „[…] eine angemessene Risiko-Kultur umfasst aber eindeutig mehr als die Kommunikation von Risikotoleranzen, die Entwicklung eines Limitsystems, mittels dessen Risiken begrenzt werden, und die Überwachung der Einhaltung dieser Limits. Vielmehr geht es auch um die Förderung eines kritischen Dialogs innerhalb des Instituts – nicht nur auf den Führungsebenen –, der die frühzeitige Identifizierung von Risiken ermöglicht. Vor allem aber müssen die Institute ein Wertesystem einrichten, dem sich alle Mitarbeiter verpflichtet sehen. Wie die Institute zu diesem Ziel gelangen, bleibt ihnen selbst überlassen; wesentlich wird sein, die Mitarbeiter zu motivieren und zu überzeugen, sich entsprechend des Wertesystems ethisch und ökonomisch wünschenswert zu verhalten8

Erinnern wir uns kurz daran, was Kultur eigentlich bedeutet. Das Wort leitet sich vom lateinischen Begriff cultura ab, der mit „Pflege“, „Bearbeitung“ oder „Ackerbau“ übersetzt wird. Das lateinische Verb colere bedeutet „bebauen“ oder „pflegen“. Wir Menschen gestalten – kultivieren – also zunächst aus der zugrundeliegenden Natur. Kultur im weiteren Sinn umfasst menschliches Wissen, Kunst, Glauben, Ethik, Recht, Wirtschaft usf. Sie drückt sich aus in Lebensstilen, Weltanschauungen und Werten, wird sichtbar im „Zeitgeist“ der jeweiligen Epoche. So gesehen gibt es nicht die Kultur, sondern eine Vielzahl von sich entwickelnden Kulturen.

Das GABLER-WIRTSCHAFTSLEXIKON definiert Unternehmenskultur als „Grundgesamtheit gemeinsamer Werte, Normen und Einstellungen, welche die Entscheidungen, die Handlungen und das Verhalten der Organisationsmitglieder prägen“. Risiko-Kultur schließlich beschreibt die Art und Weise, wie das unternehmerische Risiko durch die Mitarbeiter „kultiviert“ werden soll. Es geht um ethisch und ökonomisch vernünftiges und wünschenswertes Verhalten. Dabei kommt dem Entwicklungsaspekt große Bedeutung zu: Wie steht es um die aktuelle Risiko-Kultur eines Unternehmens? Vor allem aber: Wie kann sie gefördert und weiterentwickelt werden?

Die BaFin betont zunächst die besondere Verantwortung der Geschäftsleitung: Die Geschäftsleitung muss den Risikoappetit kommunizieren und einen offenen Dialog zu risikorelevanten Fragen ermöglichen und fördern. Da Risikokulturentwicklung offizielle Chefsache ist, müssen ManagerInnen künftig auch nachweislich ethikfit sein. Auch wenn die Führungskräfte eine besondere Verantwortung tragen bei der Entwicklung und Kommunikation der angemessenen Risiko-Kultur, so können die übrigen Angestellten ihre persönliche Verantwortung für die Risiko-Kultur nicht delegieren. Ganz im Gegenteil! Die Umsetzung der Risikovorgaben – des „Risikoappetits“ – bei den unmittelbaren täglichen Aufgaben und Entscheidungen ist die eigentliche Basis der angemessenen Risiko-Kultur. Sie wächst gewissermaßen von unten nach oben – gemäß den von oben nach unten klar kommunizierten Vorgaben. Und mehr noch: Jeder Mitarbeiter muss auch dazu bereit sein, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, und sich bemühen, die Risikorelevanz des unmittelbaren Geschäftsbereiches auch im Gesamtzusammenhang zu verstehen. Eben dazu ist die Dialogbereitschaft – der offene Austausch – mit MitarbeiterInnen, KollegInnen und Führungskräften wesentlich. Risikobewusstsein muss auf allen Ebenen angemessen kultiviert werden. Im Ba-Fin-Fachartikel wird an einer Stelle festgestellt: „Sowohl Geschäftsleitung als auch Mitarbeiter des Unternehmens sollen ihre Tätigkeit am Wertesystem, am festgelegten Risikoappetit und den bestehenden Risikolimits ausrichten. Dafür sind sie jeweils selbst verantwortlich (Accountability). Sie sollen sich über die Konsequenzen bewusst sein, die drohen, wenn sie die von ihnen erwarteten Verhaltensweisen nicht erfüllen, wenn sie also zum Beispiel zu hohe oder nicht gewünschte Risiken eingehen oder nicht tolerierte Geschäftsaktivitäten und -praktiken entwickeln. Konsequenzen können zum Beispiel disziplinarische Maßnahmen wie Kürzungen der Boni, Abmahnungen oder im Extremfall auch Kündigungen sein.“

Doch nicht alleine die oben erwähnten unangenehmen möglichen Konsequenzen „motivieren“ das persönliche Verantwortungsbewusstsein, sondern die Bewusstwerdung der Tatsache, dass die Auswirkungen eines massiven Risiko-Störfalles wirklich ausnahmslos alle MitarbeiterInnen einer Bank betreffen können. Wenn es ums Risiko geht, sitzen tatsächlich alle im gemeinsamen Boot! Jede unangemessene Entscheidung – auch wenn sie zunächst nicht unmittelbar mit quantifizierbarem Risiko in engerem Sinn in Verbindung gebracht werden kann – kann potentiell einen großen Reputationsverlust bewirken. Der bewusste Umgang mit Reputationsrisiken gehört daher zweifelsohne zur angemessenen Risiko-Kultur. Die BaFin fordert, „dass Entscheidungsprozesse zu Ergebnissen führen, die auch unter Risikogesichtspunkten ausgewogen sind“. Jede unternehmerische Entscheidung muss daher unter Reputationsrisiko-Gesichtspunkten angemessen sein. Und jede angemessene unternehmerische Entscheidung ist eine ethische Entscheidung – und umgekehrt. Da die allgemeine Art und Weise der Entscheidungsfindung die Unternehmenskultur so wesentlich prägt, ist die angemessene Risiko-Kultur das Herzstück einer ethischen Unternehmenskultur. Mit ihren neuen Anforderungen hat die BaFin deutlich auf jene Missstände und Phänomene ökonomischer Hybris und Unkultur reagiert, die nachfolgend in 4. detaillierter beschrieben werden. Die nachhaltige Kultivierung einer ethischen Unternehmenskultur wird aber nur gelingen, wenn möglichst viele Akteure der Finanzindustrie ihre persönliche Mentalität kritisch überprüfen und verändern. Sonst besteht die reale Gefahr, dass die schönen Worte der BaFin wirkungslos bleiben.

4. Hybris und falsche Sätze

4.1 Die Hybris der „sakralisierten Markt-Mechanismen“

Wie schon in der Einleitung kurz erwähnt, werden die Spuren menschlicher Hybris nicht nur im technologischen Bereich, sondern auch in der Wirtschaft und der Unternehmenskultur sichtbar. Und oft wird diese unmenschliche Hybris in falschen Sätzen artikuliert. In Sätzen, die eine Wirtschaft rechtfertigen wollen, von der zum Beispiel Papst Franziskus in Evangelii Gaudium9 sogar wörtlich schreibt: „Diese Wirtschaft tötet.“ Er wendet sich mit leidenschaftlichen Worten gegen eine Wirtschaft „der Ausschließung“ und der „sozialen Ungleichheit“. Hier klingen gewiss auch konkrete Erfahrungen des Papstes mit der himmelschreienden Armut und sozialen Ungerechtigkeit in Lateinamerika an, jedoch ist die Ungerechtigkeit des Wirtschaftssystems ein wirklich globales Phänomen – Franziskus nennt es „Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Er bezweifelt den „unbewiesenen“ Ansatz der freien Marktwirtschaft und ihrer „sakralisierten Mechanismen“: die Behauptung, dass eine effiziente Marktwirtschaft schließlich doch irgendwie allen Menschen zugute kommen würde und „von sich aus eine größere Gleichheit und soziale Einbindung in der Welt hervorzurufen vermag10. Das sind keine Zitate aus dem Hamburger Grundsatzprogramm der SPD, wo sie ebenso gut stehen könnten, sondern aus einer päpstlichen Enzyklika. Und diese Sätze sind wahr: Es ist mehr als fraglich, ob eine sich selbst organisierende freie Ökonomie, die sich nicht grundsätzlich an der Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit der Grundwerte von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientiert, für möglichst viele Menschen mehr menschenwürdige Arbeit, mehr Wohlstand und mehr Gerechtigkeit erbringen kann.

Anfang 2016 war das private Netto-Vermögen11 der 63 wohlhabendsten Menschen der Erde ebenso groß wie das aller anderen – also ca. 7400 000 000 – Menschen. Als Oxfam diese Zahlen veröffentlichte, wiesen einige Ökonomen darauf hin, dass diese doch kein generelles Anwachsen der globalen Ungleichheit belegen würden. Vielmehr würde die Schere zwischen Armen und Reichen unter bestimmten Aspekten sogar geringer, beispielsweise bei der medizinischen Versorgung oder im Bildungswesen. Auch würden langfristige Statistiken belegen, dass es etwa in Europa im 19. Jahrhundert prozentual gesehen mehr Arme gegeben habe als heute oder dass der Mittelstand in China wachsen würde. Wie auch immer: Die Oxfam-Zahlen sprechen deutlich für sich und belegen, dass die freien Marktkräfte jedenfalls nicht verhindern können, dass es grundsätzlich zu solch enormen Ungleichgewichten kommen kann. Und die vielen hunderte Millionen Armen und Ausgebeuteten erwarten von uns heute konkrete Hilfe und Maßnahmen – mit einer langfristigen statistischen Hoffnung lässt sich ihr aktuelles Elend wohl nicht beheben.

4.2 Die Hybris der ethosfreien Finanzräume

Die sogenannte Finanzkrise und diverse Unternehmensskandale haben sehr deutlich gemacht, wie unökonomisch unethisches Handeln sein kann. Kurzfristiger Geschäftserfolg wird nämlich langfristig durch den Reputationsverlust mehr als zunichtegemacht, wenn Tricksereien, Rechtsbrüche oder mangelndes Risikobewusstsein öffentlich werden. Der Vertrauensverlust schädigt die Geschäftsentwicklung oft nachhaltig und bringt mitunter ganze Branchen – zu Recht oder Unrecht – in Verruf (und insbesondere auch zur Freude der internationalen Konkurrenz). Hinzu kommen in Einzelfällen die manchmal enorm hohen Strafzahlungen oder außergerichtlich vereinbarten Summen zur Einstellung von Strafverfahren. Werden die Finanzunternehmen dann auch noch mit Steuergeldern „gerettet“, ist die öffentliche Empörung erfahrungsgemäß besonders groß. Der berechtigte Vorwurf lautet sehr verkürzt: Gewinne werden privatisiert, Verluste verstaatlicht.

Falsch ist dieser Satz nicht. Explizites ethisches Denken spielte insbesondere in der Finanzbranche bisher wohl nur eine untergeordnete Rolle. Inzwischen ist aber durch die vielen negativen Erfahrungen auch im EU-Raum die Einsicht gewachsen, dass weder Finanzmärkte noch Finanzinstitute ohne ethisches Bewusstsein sein dürfen. Denn eine zum Teil leider wirklich branchentypische unangemessene Entscheidungs-Unkultur machte es sich sehr einfach und unterscheidet nur sehr oberflächlich zwischen falschem und richtigem Handeln. Dieses falsche Denken gipfelt in dem falschen Satz: Richtig ist alles, was nicht gesetzlich verboten ist. Dadurch entsteht aber bei Entscheidungsträgern allzu leicht der Eindruck, dass es bezüglich der Handlungsoptionen jenseits der Grenzen des eindeutig Falschen gar keine ethisch relevanten Fragen mehr zu stellen oder zu beantworten gäbe. Als Investmentbanker fragte ich also bei den Kollegen der Compliance- und Rechtsabteilung nach : Ist diese Transaktion auch legal? Im Zweifelsfall bezahlte ich noch ein externes Rechtsgutachten, um die Durchführbarkeit des Geschäfts rechtfertigen zu können. „Mylord, is this legal?“, fragt der Chef der Handelsföderation Nute Gunray seinen Auftraggeber Lord Sidious im Film Star Wars I. „I’ll make it legal!“, erhält er als Antwort. Nicht alle Investmentbanker sind potentielle Star-Wars-Bösewichte, aber wenn die rechtlichen Bedenken einmal zerstreut sind, werden darüber hinaus meist keine weiteren Fragen mehr gestellt. Just close the deal! Warum sollte ich auch ethische Bedenken haben? Wenn es nicht illegal ist, ist es ethisch irrelevant. Im Übrigen machen’s die Konkurrenten ja genauso und das Quartalsziel muss erreicht werden.

 

Der falsche Satz lautet also: Jenseits der Grenze des normativ Falschen liegt ein ethosfreier Raum12 Als Konsequenz dieser Haltung haben sich ethischer Anarchismus und persönliche Doppelmoral bei manchen Finanzinstituten und Marktteilnehmern hartnäckig etabliert.13 Die Hybris besteht also in einer sehr verkürzten Sichtweise unternehmerischer Ethik: in der Einstellung, dass alles möglich und machbar sei, was nicht den Vorschriften widerspreche. Die Hybris drückte sich auch aus in der besonders verhängnisvollen Selbsteinschätzung einer Investmentbank, die sich für „systemrelevant“ und daher „too big to fail“ hielt. Zumindest ein Teil dieser Annahme war offensichtlich falsch, denn die Bank ging pleite und das Finanzsystem überlebte dennoch – wenn auch nur durch entsprechende Interventionen und Hilfsmaßnahmen der Zentralbanken. Heftig diskutiert wird seither die Frage, ob oder mit welcher Effizienz sich der Finanzmarkt überhaupt selbst regulieren kann – resp. in welchem Ausmaß Aufsichtsbehörden, Zentralbanken und Politik steuernd und regulierend eingreifen sollen. Die Alternativen erscheinen ein bisschen wie die unglückliche Wahl zwischen Skylla und Charybdis14: Entweder werden die Märkte durch die Vorschriften überreguliert und dadurch die Wirtschaft in ihrer Effizienz geschwächt, oder es besteht weiterhin die Gefahr, dass die sich selbst überlassenen Märkte doch wieder außer Kontrolle geraten.

Ist der freie Markt aber notwendigerweise unethisch bzw. ethosfrei? In der „alten“ Physik gab es das Prinzip des horror vacui – die „Furcht der Natur“ vor leeren Räumen. Hat der freie Markt vielleicht selbst auf irgendeine Weise Furcht davor, ethosleer – ethosfrei – zu sein? Denn die Erfahrung zeigt, dass vermeintliche ethische Irrelevanz unethisches und widersprüchliches Verhalten fördert, das die Marktentwicklung massiv beeinträchtigt. Ist es daher denkbar, dass der freie Markt sich selbst ethisch reguliert? Könnte die Emergenz einer Marktethik im Sinne einer neuen spontanen und unabhängigen Systemeigenschaft möglich sein? Eine solche Systemeigenschaft würde sich nicht mehr alleine in die Eigenschaften der Komponenten zerlegen lassen. Daher spiegelte eine solche Marktethik dann etwas anderes wider als den bloßen Durchschnitt oder die Summe der Ethik der (menschlichen) Marktteilnehmer. Vielmehr würde der freie Markt dann seine eigenen, vom Menschen unabhängigen, ethischen Prinzipien entwickeln. Ob wir diese verstehen könnten – und ob sie im Sinne der Menschen beispielsweise für mehr Verteilungsgerechtigkeit sorgen würden –, ist nochmals eine andere Frage. Wäre eine nicht-menschliche Markt-Intelligenz menschenfreundlich oder unmenschlich? Die aktuelle globale ökonomische Situation liefert jedenfalls keine positiven Hinweise auf eine Form selbst-emergierender menschenfreundlicher Marktethik.15 Bezüglich der Frage, wie frei oder unfrei der Markt denn sein solle, plädiere ich für einen Ansatz, der die Regularien fortwährend kritisch hinterfragt – so viele Regularien wie nötig und stets unter den Aspekten der Subsidiarität, Freiheit und Gerechtigkeit – und zugleich auf einer Selbststeuerung mündiger und verantwortungsbewusster Marktteilnehmer beruht, die sich in offenen Gesprächen über die Marktsteuerung austauschen. Diese Dialogbereitschaft wäre ganz im Sinne der angemessenen Risiko-Kultur für Finanzunternehmen, wie sie von der BaFin gefordert wird. Die persönliche Mündigkeit setzt aber beim Einzelnen die Wiederentdeckung des eigenen Gewissens und eine innere Haltung voraus, die nicht im radikalen Konstruktivismus oder Egoismus steckenbleibt, sondern bereit ist, die eigenen Grenzen zu beachten und überdies auch Phänomene der Transzendenz wahrzunehmen. Dann besteht wirklich eine Chance, die Hybris der ethosfreien Räume endgültig zu überwinden.

Ein anderes negatives Beispiel unternehmerischer Hybris zeigt sich in der Gestaltung von Kundenbeziehungen. Denn Kunden fühlen sich zunehmend als unmündige Objekte des Marketings – und nicht mehr als Personen in einem personenorientieren Kommunikationsgeschehen. Als Folge verschließen sie sich – trotz des Einsatzes effektiver Kommunikationsmittel – immer stärker gegen Marketing- und Akquisitions-Maßnahmen. Denn nicht der eigentliche Mensch und seine eigentlichen Bedürfnisse stehen mehr im Vordergrund, sondern seine Verzweckung, seine objektive wirtschaftliche Nützlichkeit. Ähnliches gilt für Mitarbeiter in Unternehmen. Sie erfahren sich als austauschbare Objekte des Betriebes. Schon die Verwendung von Objektsprache kann auf eine systematische Fehlhaltung hinweisen. Kunden werden dabei typischerweise als „Verbraucher“, „Konsumenten“, „Benutzer“, „Targets“ usf. bezeichnet. Mitarbeiter von Unternehmen werden mit Chips ausgestattet und ihre Arbeit oft ohne ihr Wissen überwacht und von Maschinen protokolliert. Das maschinenunterstützte ökonomische System verfügt über Kunden und Mitarbeiter als „Objekte“ und übt Macht über sie aus. Dabei passt sich das System nicht den Bedürfnissen der Menschen an, sondern den Effizienzanforderungen der Maschinen.16 Dennoch bleiben viele Menschen auf diese Wirtschaft und auf solche Arbeitsverhältnisse angewiesen – und das führt nachvollziehbar zu großer Frustration und Ängsten, die leider auch eine der Quellen politischer Radikalisierung sind.

5. Prinzipienbasierte Unternehmenskultur

5.1 Compliance als Basis der Risiko-Kultur

Beim Begriff Ethik und ethische Unternehmenskultur denken unsere Kunden beim Erstgespräch erfahrungsgemäß zunächst meist an einschränkende moralische Verhaltenskodizes, ethische Vorschriften, Regelwerke o. Ä. Schlimmer noch: Ohne es jemals tatsächlich ausgesprochen zu haben, halten sie uns manchmal vermutlich für verkappte Moralapostel. Nichts liegt uns ferner, denn solche ethischen Systeme und Vorschriften-Gestelle würden die unternehmerische Freiheit – die ohnehin schon durch unzählige Vorschriften und Regulierungen begrenzt wird – nur noch weiter belasten. Sie sehen in der Unternehmensethik eine Form von „moralischer Compliance“ mit hocherhobenem Zeigefinger. Aber genau das verstehen wir unter unternehmerischer Ethik-Kultur oder Risiko-Kultur gerade nicht.

Was aber ist der Zusammenhang zwischen Compliance und einer angemessenen Risiko-Kultur oder ethischen Unternehmenskultur? Im betriebswirtschaftlichen Kontext meint Compliance Regelkonformität, d. h. die firmenweite Einhaltung gesetzlich vorgeschriebener Bestimmungen, Richtlinien und Normen oder auch die Beachtung freiwillig gewählter Ethik-Kodizes. Für Unternehmen gibt es zahlreiche rechtlich verbindliche und vernünftig begründete Richtlinien, Prinzipien, Normen oder Gesetze zu beachten, die im Rahmen rechtsstaatlicher Vorgänge ausgearbeitet, erlassen oder empfohlen wurden. Verbände, Aufsichtsbehörden, Länder, Bund, EU-Kommissionen usf. entwickeln, erlassen oder empfehlen solche Regularien. Für Banken beschreibt die BaFin die Compliance-Funktion ausführlich im MaRisk-Modul „Compliance-Funktion“. Diese Compliance-Prinzipien sind die Grundlage einer bankweiten „Compliance-Kultur“, die auf Basis dieser aufsichtsrechtlichen Richtlinien und der vernunftethischen Prinzipien selbstdefinierter Ethik-Kodizes zunächst zwischen richtig und falsch zu unterscheiden hilft. Insofern ist die Compliance-Kultur die Basis oder erste Ebene der angemessenen Risiko-Kultur. Doch die Entwicklung einer angemessenen Risiko-Kultur erfordert mehr als nur die Vermeidung des unzulässigen, d. h. schlechten Handelns, wie wir in Zusammenhang mit der Hybris der ethosfreien Räume erkannt haben. Sie wird vielmehr sichtbar in einer Entscheidungskompetenz, die vom Guten zum Besseren führen kann.

5.2 Regeln oder Prinzipien?

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer regelbasierten und einer prinzipienorientierten Unternehmenskultur? Die BaFin stellt im Konsultationsentwurf zur MaRisk-Novelle fest, dass die MaRisk prinzipienorientiert aufgebaut sind. Was ist aber der Unterschied bzw. Vorteil gegenüber „rein“ regelbasierten Anforderungen? Im rechtswissenschaftlichen Zusammenhang – und der ist für die MaRisk und die Risiko-Kultur entscheidend – sind Prinzipien Grundsätze oder Leitlinien, die möglichst umfassend realisiert werden sollen (englisch: principles, guidelines). Prinzipien sind verbindliche Empfehlungen, deren Umsetzung und Erfüllung in der Praxis oft nur graduell gelingt.17 Verbindlich ist aber, dass man sich nachweislich bemüht, dem Prinzip so gut zu entsprechen, wie es situationsbedingt möglich ist. Sprachlich sind Prinzipien an Formulierungen wie: „Empfehlenswert ist es …“ oder „Bemühen Sie sich …“, „Streben Sie danach, dass …“ usf. erkennbar. Regeln hingegen sind Vorschriften und Normen, die eingehalten werden müssen (englisch: rules and regulations). Die Erfüllung der Regel kennt nur ein Ja oder Nein. Denken Sie beispielsweise an Verkehrsregeln oder an die Abseitsregel des Fußballspiels oder die Regeln einer Poker-Partie. Regeln haben keinen „Empfehlungscharakter“. Hier heißt es typischerweise: „Du musst …“, „Du darfst nicht …“, „Verboten ist es …“. Man erfüllt sie – und tut das Richtige, oder man erfüllt sie nicht – und verhält sich falsch. So wird verständlicher, warum die Anforderungen an die angemessene Risiko-Kultur als Prinzipien und nicht als strikte Regeln formuliert wurden. Normen würden nicht den Spielraum ermöglichen, der nötig ist, damit die inneren Einstellungen und Haltungen kultiviert werden können. Kulturentwicklung kann nicht einfach „verordnet“ und bloß „reguliert“ werden. Kultur muss wachsen können.

5.3 Die Schachmetapher

Der Unterschied zwischen Prinzip und Regel lässt auch anschaulich anhand des Schachspielens erklären. Die Spielregeln des Schachs bestimmen beispielsweise die konkreten Zugvorschriften der Figuren. Andere Regeln betreffen Details wie die Schwarz-Weiß-Struktur der 8 × 8 Felder des Spielfeldes, die Eröffnungsregel „Weiß beginnt“ oder – im weiteren Sinne – den Ablauf eines Schachturniers. Doch wie kann ich in einer konkreten Spielsituation den besseren Zug für mich herausfinden? Die Schachregeln legen zwar eindeutig alle Zugmöglichkeiten fest, liefern aber keinen weiteren Hinweis darauf, wie ich spielen soll. Dann ist die entscheidende Frage: Welcher ist der bessere Zug? Dass ich meinen Turm nicht diagonal ziehen darf, ist weniger relevant als die Frage, ob der Turm überhaupt zum Einsatz kommen soll und gegebenenfalls wie. Spielstrategien sind prinzipienbasiert. Ein Grundprinzip könnte lauten: Tausche keine Figur höherer Wertigkeit – beispielsweise die strategisch wichtige Dame – gegen eine Figur geringerer Wertigkeit – etwa gegen einen Bauern. Doch es ist nicht sinnvoll, dieses Prinzip in jeder Situation sozusagen vollautomatisch anzuwenden. Ein Damenopfer könnte notwendig sein, um im nächsten Zug das Schachmatt zu verhindern. Man spricht von einem „Qualitätsopfer“, wenn durch einen Tausch die strategische Stellung vorteilhafter wird. Manche Strategien spiegeln die Erfahrungen von häufig gespielten Partien wider – beispielsweise die bewährten Zugabfolgen der sogenannten „Eröffnungen“.

„Spielprinzipien“ sind also situationsabhängig zu interpretieren. Schachspieler lernen Partien auswendig und üben mit ihrem Trainer oder Computer. Durch eine komplexe Mischung aus kombinatorischem Vorausdenken, Spielerfahrung und Intuition wird es möglich, eine Stellung zu analysieren, um so schließlich (hoffentlich) den besseren Zug herausfinden zu können. Das Schachspiel hat nur wenige Regeln – und doch gleicht eine Partie kaum jemals exakt der anderen. Computer schlagen zwar inzwischen die weltbesten Spieler, aber die Frage, ob es eine optimale Gewinnstrategie gibt, ist in der Theorie noch unbeantwortet.18 Das ist ein interessantes Phänomen: Auch aus wenigen einfachen Regeln kann eine sehr komplexe Wirklichkeit entstehen.

 

Wie aber finden wir uns in einer vielfältigen Wirklichkeit zurecht – wie orientieren wir uns in ihr? Und wie das Schachspielen ist die prinzipienbasierte Risiko-Kultur in der Praxis mehr als eine bloße automatische Anwendung von Regeln. Gesetzliche Vorgaben und Normen spannen einen weiten Raum von unternehmerischen Handlungsmöglichkeiten auf. So wird es möglich, im ersten Schritt richtige von falschen Möglichkeiten unterscheiden zu können. So darf ich meine Figur ziehen – und so nicht! Für die weiteren Schritte aber geben Prinzipien und Erfahrungen Orientierungshilfen. Denn im Sinne der RisikoKultur angemessen zu handeln und zu entscheiden ist nicht ein vollautomatischer Vollzug von Vorschriften, sondern die Kunst und Fertigkeit, die Prinzipien situationsbedingt interpretieren und ihnen möglichst umfassend entsprechen zu können. Der bessere Schachspieler kennt nicht die Regeln besser, sondern hat bessere Ideen für seine Spielzüge. Und diese Ideen verbessern sich durch Übung und reflektierte Spielerfahrung.

Wie sich Angestellte und Führungskräfte einer Bank persönlich entscheidungsfit machen können, wird ausführlich in den Kapiteln 3 und 4 erklärt. Denn schließlich wollen die MitarbeiterInnen nicht nur nichts Unrechtes oder Falsches tun, sondern wie beim Schachspielen unter den (vielen) guten Handlungsmöglichkeiten die bessere herausfinden. Eine nachhaltige Entwicklung der Unternehmenskultur wird aber nur gelingen, wenn sich wirklich alle Mitarbeiter dafür engagieren und die Geschäftsleitung nicht nur klare Vorgaben macht, sondern sich auch selbst deutlich wahrnehmbar um eine Risiko-Kultur bemüht, die von Verantwortung, Vertrauen, Integrität und Transparenz geprägt ist. Ein Spiel soll Freude bereiten. Wer spielt schon Schach, wenn es ihm keinen Spaß macht? Und auch die Entwicklung der Unternehmenskultur sollte nicht nur als unumgängliche Erfüllung von aufsichtsrechtlichen Anforderungen gesehen werden. Freude an den gemeinsamen Herausforderungen und an der Möglichkeit der Mitgestaltung sollte auch dabei sein.

5.4 Gibt es ethische Autopiloten?

Lassen Sie uns einen kritischen Blick auf einen „Gegenentwurf“ zum diskursiven Ethik-Ansatz werfen, bevor dieser detaillierter beschrieben wird. Dieser Gegenentwurf ist eine idealisierte Pflichtethik, eine ideale normative Ethik. Es ist ein ethisches System, das ethische Situationen durch die Anwendung von Grundprinzipien immer entscheiden kann und keine Ausnahmen duldet. Ein solches ethisches System verpflichtet, die als richtig erkannte Handlung umzusetzen, es fragt nicht zusätzlich noch einmal nach den möglichen Konsequenzen der Anwendung der Prinzipien.

Es ist ein Gedankenexperiment: Könnte es einen solchen „ethischen Autopiloten“ tatsächlich geben? Ein auf ethischen Pflichtregeln beruhendes deontologisches System (deon, griechisch = Pflicht, Erforderliches) ist jedoch stets mit drei grundsätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert, denen sowohl theoretisch als auch praktisch nur schwer beizukommen ist. Es sind die drei unangenehmen Fragen nach (1.) der Widerspruchsfreiheit der verwendeten ethischen Begriffe sowie (2.) der Konsistenz und (3.) der Vollständigkeit des ethischen Systems. Erstens könnte ein ethischer Begriff oder ein ethisches Prinzip schon in sich selbst widersprüchlich sein.19 Ist beispielsweise der Begriff des „unbeabsichtigten Kollateralschadens“ im Rahmen des Prinzips der Doppelwirkung20 wirklich gänzlich ohne ethischen Widerspruch in sich? Ist beispielsweise der Tod unschuldiger Zivilisten – das wäre der unbeabsichtigte „Kollateralschaden“ – im Rahmen von Angriffen mit Drohnen auf (mit hoher Wahrscheinlichkeit positiv identifizierte) terroristische Ziele ethisch bedenkenlos? Kann man die Anwendung des Prinzips der Doppelwirkung ethisch rechtfertigen, wenn es schließlich sogar mehr tote Zivilisten als Terroristen gibt? (Kann man überhaupt mit Zahlen argumentieren, wenn es um Menschenleben geht?) Maschinen errechnen Wahrscheinlichkeiten, doch Menschen haben die Letztverantwortung für den Angriff. Berichte über an solchen Angriffen beteiligte Soldaten legen nahe, dass zumindest einige von ihnen mit dieser Verantwortung (nachträglich) nur sehr schwer umgehen können. Ihr Gewissen macht ihnen zu schaffen. Diese Gewissensbisse sind ein ernstzunehmender Hinweis auf ein ethisches Dilemma. Zugegeben: Wenn das „Prinzip der Doppelwirkung“ von unbeabsichtigtem Schaden spricht, ist damit ein weder beabsichtigter noch vorhersehbarer Schaden gemeint. Die Praxis sieht freilich anders aus: Mit der Möglichkeit des zivilen Kollateralschadens wird bei den Drohnenangriffen durchaus gerechnet, denn die Spionagesatelliten identifizieren ihre potentiellen militärischen Ziele eben meist nur mit einer Wahrscheinlichkeit, die kleiner als 100% ist. Bereits das sprichwörtliche „das Mittel heiligt den Zweck“ ist ein fraglicher Grundsatz. Widerspricht das Mittel dem eigentlichen Zweck, wird schließlich die gesamte Handlung doch nichts dauerhaft Gutes hervorbringen können. Wenn ich Einkommenssteuer hinterziehe und mit diesem Geld eine Stiftung gründe – wird die Steuerfahndung dann ein Auge zudrücken? Auch Prinzipien wie „die Mehrheit entscheidet“ oder „die Bedürfnisse vieler haben Vorrang vor den Bedürfnissen weniger“ können durchaus kritisch hinterfragt werden. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass auch Mehrheiten mehrheitlich irrten (aktuelles Beispiel: Brexit). Und der Vorrang der Bedürfnisse von vielen ist durchaus fraglich, wenn es um Entscheidungen über Leben oder Tod geht. Kurz: Beim Aufstellen eines ethischen Systems ist sorgfältig zu bedenken, inwiefern nicht schon das einzelne Prinzip in sich widersprüchlich ist bzw. wo die Grenzen seiner sinnvollen ethischen Anwendung verlaufen. Viel Gespür und Erfahrung ist also bei der Erarbeitung und beim Diskurs ethischer Prinzipien notwendig, denn auch ethische Prinzipien können falsche Sätze sein!

Zweitens muss mit der Möglichkeit der Inkonsistenz eines ethischen Systems gerechnet werden: Die ethischen Prinzipien könnten untereinander widersprüchlich sein. Ein ethischer Satz könnte einem anderen widersprechen. Und dieser Widerspruch könnte nur sehr schwer auszumachen sein. Konsistenz a priori gibt es leider nicht: Wie aber kann der Nachweis gelingen, dass die ethischen Prinzipien eines komplexen Systems – z. B. eines Ethik-Kodex – konsistent sind? Bei alltagstauglichen ethischen Kodizes wird ein formaler Nachweis wohl nur schwer gelingen. Daher sollte man in der Praxis die Möglichkeit des Auftretens von Widersprüchen nicht von vorneherein ausschließen. Gerade verwickelt erscheinende Entscheidungssituationen könnten ein konkreter Hinweis auf eine mögliche Inkonsistenz der Grundprinzipien sein. Diese systemtheoretischen Überlegungen gehen zunächst auch von der Idealsituation eines Systems aus. Die Wirklichkeit sieht freilich ganz anders aus. Ein international tätiges Unternehmen ist mit vielen verschiedenen lokalen Ethik- und Compliance-Anforderungen konfrontiert. Ethik-Verständnis ist auch immer kulturell mitgeprägt: Wie sollen die Mitarbeiter eines Unternehmens mit dieser Vielfalt umgehen? Wie sollen die Prinzipien im Einzelfall angewandt werden? Die vielen Vorschriften können aufgrund der Komplexität der Rechts- und Wirtschaftsstrukturen durchaus auch widersprüchlich sein.21 Wie könnte ein „ethischer Autopilot“ solche widersprüchlichen Umstände jemals bewältigen und entscheidungsfähig sein?

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