Das Erbe sind wir

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WIE EIN PROLETENKIND ZU EINEM ›HOFFNUNGDTRÄGER‹ DER DDR-JOURNALISTIK WURDE

Wulf Skaun weiß nicht, dass er in diesem Kapitel gleich eine Hauptrolle spielen wird, als wir uns heute Abend vor dem Zeitgeschichtlichen Forum begrüßen. Wahrscheinlich weiß er auch nicht mehr, was er im Mai 1990 zu jenem Ost-West-Seminar beigetragen hat, das mir Hans Poerschke gleich per Kassettenstapel anvertrauen wird. Selbst im Rauschen einer alten Tonbandaufnahme wirkt dieser Auftritt fast euphorisch, voller Vorfreude. Der junge Wulf Skaun begrüßt dort zunächst die, die er aus der Literatur kennt. Heinz Pürer aus München, Wolfgang Langenbucher aus Wien. Großartig, dass solche Menschen jetzt im gleichen Raum sitzen wie er und ihm helfen werden, Theorien abzulehnen und Theorien anzunehmen, kurz: eine eigene Position zu entwickeln. Wulf Skaun kündigt an, fleißig zu lesen, nennt Wulf D. Hund und Horst Holzer, zwei Marxisten, von denen der eine, Holzer, die Universität in München 1980 wegen seiner Mitgliedschaft in der DKP verlassen musste,64 und endet mit einem Versprechen, das in den Ohren der meisten Gäste wie eine Drohung klingen muss: »Ich werde meinen linken Standpunkt einbringen«.

Nicht einmal ein Jahr später, zum 30. April 1991, hat Wulf Skaun an der Universität einen Aufhebungsvertrag unterschrieben. Es ist nicht so, dass er danach in ein Loch gefallen wäre. Es gab Arbeit bei der Leipziger Volkszeitung, zunächst in Leipzig und dann ab Februar 1992 in der Lokalredaktion Wurzen, fast zwei Jahrzehnte lang, bis zur Rente. Es ist auch nicht so, dass Wulf Skaun dort keinen Spaß gehabt hätte. Als wir vor ein paar Jahren über sein Leben gesprochen haben, hat er mir zwei Fotos aus dieser Zeit gegeben. Eins zeigt ihn in den frühen 1990er-Jahren, schlank und dunkelhaarig, auf dem Marktplatz in Wurzen, mit Block und Stift. Ein Interview mit zwei Passanten. Auf dem anderen Bild steht Skaun neben Radsportlegende Täve Schur, jetzt grauhaarig und etwas voller. Das ist das, was den Journalismus in einer kleinen Stadt ausmacht. Wulf Skaun wäre trotzdem lieber an der Universität geblieben. Viermal, sagt er, sei er von Wurzen aus noch in ein Seminar eingeladen worden, von Elisabeth Fiedler, eine Kollegin, die weitermachen durfte. »Für mich waren die Begegnungen mit Studenten noch mal Sternstunden«. Man muss gar nicht zwischen den Zeilen lesen, um zu ahnen: Der Job in der Lokalredaktion hat die Wunde nicht schließen können, die der Auszug aus dem Hochhaus am Karl-Marx-Platz geschlagen hat.

Wulf Skaun ist 1945 zur Welt gekommen, drei Tage vor dem Ende des Krieges auf dem Bahnhof in Bad Kleinen, geboren mit Hilfe eines englischen Offiziers, der der Mutter einen kleinen Zettel schrieb (»She gave birth to a male child«) und ihr verbot, den Jungen Adolf, Hermann oder Joseph zu nennen. Er hat wie ich bei der Ostsee-Zeitung begonnen und Heinz Florian Oertel bewundert. Die Friedensfahrt, bei der heute immer Tour de France des Ostens gesagt wird, damit jeder weiß, dass es um ein Radrennen geht. »Die letzte Etappe 1957, das war wie ein Krimi. Die DDR hat fünf Minuten aufgeholt und wurden noch Mannschaftssieger. Wir saßen ständig vor dem Radio. Wie dieser Mann, der die Reportagen sprach: So wollte ich auch werden.«65

Wulfs Vater war ein »richtiger Prolet«, ein Arbeiterkind, »auf dem Weg zum Chemielaborant, als der Krieg kam«, der ihm ein Bein nahm und mehrere Finger. Die Odyssee endete 1947 in Hohen Viecheln, in einem 1000-Seelen-Nest am Schweriner See, ein paar Kilometer nördlich von Bad Kleinen. Dort hörte Vater Skaun vom Neulehrerprogramm. »Der Referent in Rostock sagte ihm, das würde sofort klappen, wenn er denn in die neue Partei eintrete. Er sei doch sicher auch gegen den Krieg, mit seinen zerschossenen Gliedern und als Arbeiterkind«. Wenn Wulf erzählt, sehe ich das Hohen Viecheln seiner Kindheit vor mir. Der Vater alles, was man in so einem Ort damals sein konnte. Parteisekretär, Chef der Nationalen Front, Schuldirektor. Die Mutter das Pendant beim anderen Geschlecht. Volkssolidarität, Demokratischer Frauenbund. »Alles traf sich bei uns zu Hause. Ich habe meinen Eltern später gesagt, die Welt ist ein Irrenhaus und bei euch ist die Zentrale«.

Man darf so einen Ort wie das Hohen Viecheln aus den Kindertagen von Wulf Skaun nicht verwechseln mit den Nestern von heute, wo man zum Einkaufen ein Auto braucht und froh sein kann, wenn der Bus wenigstens einmal in der Stunde kommt. »Es gab zwei Kneipen, zwei Bäcker, zwei Schuster, Fleischer, Schmied, Stellmacher, Tischler und andere Handwerker. Ein Dorf mit allem Drum und Dran, mit einer eigenen Schule. Und der einzigen Kirche ringsum«. Die Einheimischen scheinen nichts dagegen gehabt zu haben, dass die Macht jetzt bei Familie Skaun lag, den Neuen aus der Gegend um Stettin. »Sie haben meinen Vater goutiert. Er war leutselig und hilfsbereit. Auch die, die die Roten gehasst haben, kamen zu uns und ließen sich von ihm beraten und Schreiben aufsetzen. Die Leute haben ihm vertraut«.

Wie bei allem, was so weit zurückliegt, hat Wulf Skaun aus jener Zeit vor allem das parat, was wieder und wieder hochkommt bei den Treffen und Feiern, und er baut das, auch damit steht er nicht allein, so zusammen, dass man verstehen kann, wie aus dem Proletensohn vom Lande ein ›Hoffnungsträger‹ an der Leipziger Sektion Journalistik werden konnte, dort, wo die Oertels des 21. Jahrhunderts schlüpfen sollten. »Es wurde erzählt, dass ich im Kindergarten auf ein Stühlchen gestiegen sei und gerufen hätte: Genossen, seid ihr für den Frieden? Mit drei Jahren. Mit sechs soll ich mit einem blauen Fahnenfetzen durchs Dorf gezogen sein, etliche Kinder hinter mir, und ›Bau auf, bau auf‹ gesungen haben«. Eine ›Kinderpersönlichkeit‹, wird der kleine Bruder, dreieinhalb Jahre jünger, viel später sagen. Wie seine Eltern war Wulf alles an der Schule in Hohen Viecheln. Vorsitzender des Freundschaftsrats (das heißt: oberster Pionier), Verwalter der Bibliothek. »Ich war Rezitator, habe im Chor gesungen und hatte die meisten Zeilen, wenn wir Theater gespielt haben. Das wurde ausgezählt. Nach den Schulstunden war ich Direktor im Kinderzirkus Bums und Hauptmann der Pionierfeuerwehr. Ohne mich ging keine Tür zu«.

Wulf Skaun ist dann auch auf der Oberschule in Wismar der Jahrgangsbeste, nachdem er erst etwas fremdelt mit dem weiten Weg und der großen Stadt. Er schreibt »ganze Seiten voll« in der Kreiszeitung, macht die Öffentlichkeitsarbeit für das Jugendklubhaus und rezensiert Herrenpartie, einen Film von Wolfgang Staudte, der eine Linie zieht von den Naziverbrechen in Jugoslawien bis in die westdeutsche Gegenwart. Journalismus, na klar, auch dann noch, als der Schuldirektor ihm vorschlägt, Diplomat zu werden. »Ich habe mich nicht beirren lassen. In Deutsch war ich gut. Aufsätze. Die wurden sogar vorgelesen. Ich wollte Journalist werden«.

Auf dem Weg zum Studium nach Leipzig liegen ein kleiner und ein großer Brocken, die beide mit den Zeitläuften zu tun haben und mit der Position, die Familie Skaun im Kreis Wismar hat oder in der DDR, ganz wie man will. Erst eine Schriftsetzerlehre, der kleine Brocken, viel kleiner als der Tagebau, in den Sigrid Hoyer Ende der 1950er-Jahre geschickt wurde. Man schreibt jetzt die frühen 1960er, und im Norden der Republik ist noch nicht angekommen, dass der Bitterfelder Weg bald auch offiziell zur Sackgasse erklärt wird. Die Lehrer in Wismar jedenfalls raten ihrem besten Schüler, den Beruf des Journalisten »von der Pike auf« zu lernen. Heute kann man darüber lästern und über verlorene Jahre klagen, erst recht, wenn man die Brille der CV-Optimierer aufsetzt, die jeden Schritt ins Leben planen und immer ganz genau wissen wollen, was das alles jetzt für die Karriere bringt. Der Schriftsetzerlehrling Wulf Skaun redet in der Druckerei »viel mit den Älteren«, und er spricht dabei zunächst so, wie er das von zu Hause und aus der Schule gewöhnt ist. »Unser Staat, die Zukunft und so«. Wulf Skaun »agitiert«, wie er heute selbst sagt, und muss dafür bezahlen. »Eines Tages kam der Betriebsdirektor und sagte: Kollegen, das Wehrkreiskommando und die Kreisleitung wollen, dass wir einen von uns für drei Jahre schicken. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Alle Köpfe drehten sich zu mir«. Da stand er doch, der Abiturient, der so perfekt Parteideutsch sprach. »Keiner hat etwas gesagt. Ich wusste: Ich war gemeint. Mein Vater musste ja auch militärischen Nachwuchs werben. Es hätte sonst schnell geheißen, dass er mit zweierlei Maß misst. Ich wollte außerdem auf Staatskosten studieren«.

Die Armee war dann der zweite Brocken, viel größer als eine Lehre, die jeden Oberschüler erdet und auch denen gutgetan hätte, die heute in jedem Leitartikel deutlich machen, dass sie ihre Großstadt-Akademiker-Welt nie verlassen haben. Was Wulf Skaun über seinen Wehrdienst erzählt, habe ich so ähnlich zwei Jahrzehnte später selbst erduldet. Ich weiß deshalb, wie es sich anfühlt, wenn man unter hundert jungen Männern der einzige ist, der nach der Entlassung studieren will. Okay: Einen Major, der »schon bei der Wehrmacht« war, gab es Mitte der 1980er-Jahre nicht mehr (mein Major war 26, sah aber aus wie 45), und ich weiß auch nicht, ob wir im ersten halben Jahr »richtig geschliffen« wurden und dadurch »zum Mann geworden« sind. Vermutlich war ich damals viel zu sehr Sportler, um unter einem Lauf vor dem Frühstück zu leiden oder bei irgendwelchen langen Märschen. Aber sonst war vieles wie bei Wulf Skaun. »Die rauen Umgangsformen, diese Fäkalsprache. Ich dachte, das kann nicht Sozialismus sein. Ich habe gedacht, die Partei und der Staat müssen mir später helfen, wenn ich hier gedient habe«.

Wer auch immer das ist, die Partei und der Staat, sie haben ihren treuen Diener zumindest nicht hängen lassen, auch wenn von heute auf morgen die Regeln geändert wurden für den Zugang zum Studium. Wulf Skaun war 1964 zur Aufnahmeprüfung nach Berlin gefahren, noch vor dem Wehrdienst, und hatte mit Glanz und Gloria bestanden. Der Text, den er dort schreiben musste, wurde öffentlich vorgetragen. In Leipzig angefangen hat er erst fünf Jahre später, mit 24, in einem Alter, in dem mein Sohn sich in München sein Masterzeugnis abgeholt hat, nach zwölf Semestern Soziologie und Politikwissenschaft. »1966 kam ein Schreiben: Wir haben das Volontariat als Bedingung eingeführt. Bewirb dich mal schon«.

 

An der Universität trifft das Proletenkind Wulf Skaun aus dem Nest im hohen Norden auf Dozenten wie Hans Poerschke, die gerade erst anfangen, die Leipziger Journalistik zu erfinden, und so allenfalls menschlich ein Vorbild sein können, und auf Söhne und Töchter von Prominenten. »Die Tochter von Hermann Axen war da, Kati. Von Markus Wolf war die Tatjana da und von Günther Kleiber sogar Sohn und Schwiegertochter, glaube ich. Michael Sindermann. Vorher Thomas Brasch. Das waren jetzt nur Sprösslinge von ZK- und Politbüro-Mitgliedern. Von anderen Eliten weiß ich gar nicht mehr alle. Daniela Dahn war mit mir in einer Seminargruppe«. Dahn ist vier Jahre jünger als Wulf Skaun. Karl-Heinz Gerstner, ihr Vater, hat jeden Sonntag im Radio gesprochen. Die Lage der Wirtschaft. Seine Stimme hat noch jeder im Ohr, der nicht nur Westsender gehört hat. Wer älter ist, kann sich vielleicht sogar noch an sein Gesicht erinnern. Prisma, ein Fernsehmagazin. Gerstner, im Hauptberuf Wirtschaftschef bei der Berliner Zeitung, war dort von 1965 bis 1978 Moderator.66 Sibylle Boden, seine Frau, die Mutter von Daniela Dahn, gründete 1956 die Modezeitschrift Sibylle.

Wulf Skaun haben all die großen Namen nicht gestört, im Gegenteil. »Wir fühlten uns sogar ein bisschen aufgewertet. Wenn die auch alle Journalisten werden wollten, dann konnte das so verkehrt nicht sein«. Zu seiner Seminargruppe gehörte neben Daniela Dahn auch Wolfgang Tiedke, Sohn von Kurt Tiedke, der seit 1967 im ZK der SED war und 1983 Rektor der Parteihochschule Karl Marx werden wird. Skaun und Tiedke: Als ich 1988 als Student nach Leipzig kam, war das ein Markenzeichen. Der eine Wissenschaftler durch und durch und der andere so eloquent und charismatisch, wie wir selbst gern werden wollten. Von den Kämpfen und Zweifeln auf dem Weg dorthin konnten wir nichts wissen. Für ihre Dissertation haben Skaun und Tiedke etwas gemacht, was es in der DDR gar nicht geben durfte – eine Befragung zur Mediennutzung und damit auch zum Westradio in Lößnig, in dem Leipziger Stadtteil, in dem jetzt das Wohnheim der Journalistikstudenten stand. Gar nicht so wenige Befragte haben hinterher bei der Stasi gefragt, wer das denn genehmigt habe.67 »Vater Tiedke«, sagt Wulf Skaun.

Noch wichtiger wird diese schützende Hand bei der Habilitation, einer »Kollektivarbeit«, die »als Spitzenprojekt der Sektion im Zentralen Plan der Gesellschaftswissenschaften« stand, dann aber schwer unter Beschuss geriet, als die Medienlenker in Berlin »schwarz auf weiß« lesen konnten, »dass die Zeitungen nicht viel mit der Realität zu tun hatten. Nur sozialistische Siege und kaum Kritik, Mängel und Probleme. Vorher konnte man das wissen oder ahnen, jetzt aber kam niemand mehr an unseren Ergebnissen vorbei«.68 Wulf Skaun ist an dem Streit um diese Studie krank geworden, und Wolfgang Tiedke ging freiwillig für drei Jahre zur Leipziger Volkszeitung. Ein teurer Sieg, zumal der Forschungsbericht im Panzerschrank verschwand und die Autoren »vor den Chefredakteuren wie Hochstapler dastanden. Wir hatten ja eine ehrliche Untersuchung versprochen und durften jetzt keinen Klartext reden«.69

Wolfgang Tiedke ist am 15. November 1989 als Chefredakteur zur Leipziger Volkszeitung gegangen, gerufen von einer Redaktion, die nicht mehr so weitermachen konnte wie bisher und sich an diesen immer noch jungen und jungenhaften Wissenschaftler erinnerte, der vor ein paar Jahren auch hier gegen den Strich gebürstet hatte. Tiedke selbst war sich 20 Jahre später sicher, dass er sonst »irgendwann« Direktor der Sektion Journalistik geworden wäre. »Das hätte ich als angemessen empfunden«. Er weiß, dass wir Studenten ihm den Wechsel zur LVZ »sehr übel genommen« haben (»erst hier die große Fresse und dann einfach abhauen«), und nimmt auch nach einer so langen Besinnungspause für sich in Anspruch, als Dozent »die richtigen Fragen« gestellt zu haben (»wenn auch vielleicht nicht immer scharf genug«).70

Auch Wulf Skaun galt damals nicht wenigen als ›Hoffnungsträger der Sektion‹. Selbst rechnete er mindestens mit dem Lehrstuhl, den er seit 1984 ohnehin schon leitete, wenn auch ohne Professorentitel.71 Die Karteikarten, auf denen das steht, was er bei der Evaluierung sagen wollte, hat Skaun noch daheim. Für ihn wird sich das immer anfühlen wie gestern. »In der Sache wäre ich penibel und quellentreu gewesen und in der Form souverän-lässig. Ich hätte über mediensoziologische Ansätze hüben und drüben gesprochen. Ich hätte auch gesagt, dass ich bis auf Noelle-Neumanns Schweigespirale72 keines der westdeutschen Konzepte als Original gelten lasse. Zur Geschichte der Inhaltsanalyse gab es dort gar nichts. Ost und West waren nicht so weit auseinander. Und dann hätte ich gesagt, dass ich keinen Anspruch erhebe auf eine Stelle«.73

Eine solche Phantasie kennt jeder, der im Job leidet. Mit großer Geste alles hinknallen. Wie die meisten hat auch Wulf Skaun das nur im Kopf durchgespielt. Er sagt heute, er sei »freiwillig gegangen«. 15 Jahre Mitglied der SED-Kreisleitung in der Universität, von 1974 bis 1989. Am Rektoratsgebäude habe er jeden Tag in großen Buchstaben lesen können, dass genau diese Leute jetzt »in den Tagebau« gehören. Und dann sei da auch so etwas wie Solidarität gewesen, mit Günter Raue und Klaus Preisigke, den beiden Direktoren, die bei den Studenten schon durchgefallen waren, bevor Karl Friedrich Reimers kam. Wulf, hätten die Genossen gesagt: »Du wirst dich doch nicht auf dieses bürgerliche Tribunal einlassen. Wir machen das nicht«. Weiß man in einem solchen Moment, dass das eine der Entscheidungen ist, die einen bis ins Grab verfolgt? »Kleinkariert« sei das damals gewesen, sagt Wulf Skaun. »Ich war ja nicht abgewählt worden. Ich habe mich um ein letztes intellektuelles Vergnügen an der Sektion gebracht«.74

WAS DIE KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFT VOR 30 JAHREN VERLOREN HAT

Dass Hans Poerschke heute Abend im Zeitgeschichtlichen Forum sprechen darf, vor einem vollen Saal, zunächst ganz allein am Pult und dann in einer Podiumsrunde mit zwei Professoren, die aus dem Westen nach Leipzig kamen, ist eine Sensation. Das sanfte Abschieben in den Altersübergang, die Zumutungen der Evaluation, der Rücktritt in die zweite Reihe selbst bei Kolleginnen wie Sigrid Hoyer, die von Westdeutschen einen Eignungsstempel bekamen: All das ist nur ein Teil der Wahrheit über die Vereinigung der Leipziger Journalistik mit der Kommunikationswissenschaft, die in Mainz bis heute Publizistik heißt. Zu dieser Wahrheit gehört auch, dass es die DDR in dieser akademischen Disziplin überhaupt nicht gibt.

Genau wie jeder Mensch steht auch eine Wissenschaftsgemeinschaft vor der Aufgabe, Kontinuität über Zeit und Raum herzustellen. Ich schreibe dieses Buch, um das, was ich heute bin, mit gestern und vorgestern zu verbinden. Göhren auf Rügen und Ruth Bahls, die uralte Englischlehrerin und Museumsgründerin, mit der Ostsee-Zeitung, für die auch Sigrid Hoyer und Wulf Skaun geschrieben haben, meine Dozenten an der Universität, und mit Karl Friedrich Reimers, der nicht nur gesagt hat, dass jemand wie ich im neuen Deutschland Professor werden kann, sondern dafür mit seinen Gutachten auch etwas tat. Anthony Giddens, ein britischer Soziologe, versteht Identität als kontinuierlich ablaufenden reflexiven Prozess, der uns permanent zwingt, alles, was passiert, in die Erzählung über uns selbst einzubauen.75 Identität ist die Geschichte, die wir von uns selbst haben und die ich hier aufschreiben darf. Diese Geschichte verändert sich, weil wir ständig neue Menschen treffen und Dinge erleben, die längst nicht immer zu dem passen, was wir bisher über uns dachten.

Die Kommunikationswissenschaft hat die DDR-Journalistik einfach abgestoßen – ihre Ideen genauso wie die Menschen, die diese Ideen entwickelt und vertreten haben. Was in Leipzig zwischen 1945 und 1990 gemacht wurde, gehört nicht zur Identität dieser Universitätsdisziplin. Hans Poerschke, Sigrid Hoyer, Wulf Skaun oder Wolfgang Tiedke haben keinen Platz in der Erzählung der Kommunikationswissenschaft über sich selbst. Sie haben auch keinen Platz in der DGPuK, in der Fachgesellschaft, in die man heute schon aufgenommen werden kann, wenn man einen 50-Prozent-Vertrag in einem Projekt mit zwölf Monaten Laufzeit unterschrieben hat. Vor 30 Jahren hat die DGPuK ein Jahr »hinter verschlossenen Türen« über Wolfgang Tiedke diskutiert – »bis er dann selbst gesagt hat, er finde das eigentlich nicht mehr angemessen«.76

Karl-Heinz Röhr, der Dompteur der Leipziger Veteranenrunden, war Professor für journalistische Methodik und sieht deshalb Michael Haller, der 1993 aus Hamburg kam und heute vorn sitzt, mit einem gewissen Recht als seinen Nachfolger. Auf eine Einladung an das Institut hat er all die Jahre vergeblich gewartet. Der Betrieb ging weiter, aber ihn gab es nicht mehr, nicht einmal im Verteiler für die Weihnachtsfeiern. 2008 kamen zwei Studentinnen mit einer Kamera zu Röhr und haben ihn zu seinem Leben befragt, aber das zählt nicht, weil dieser Besuch erstens denkbar schlecht vorbereitet war (ich weiß, wovon ich rede, weil ich das Video transkribiert habe) und zweitens von Siegfried Schmidt geschickt wurde, der als junger Mann genau wie Röhr Assistent von Hermann Budzislawski war, dem Gründungsvater der Leipziger Journalistik, dann aber das Glück hatte, nie für eine Parteifunktion ausgesucht worden zu sein. Schmidt durfte weitermachen und hat in seinen allerletzten Seminaren an der Universität Material für eine Geschichte der Journalistenausbildung in der DDR zusammengetragen, die er dann als Rentner nicht mehr geschrieben hat.77

Einmal noch haben Karl-Heinz Röhr und seine Weggefährten von früher auf Besserung gehofft, 2016 war das, 100 Jahre nach der Gründung des Instituts für Zeitungskunde durch Karl Bücher, die die Kommunikationswissenschaft in ihrer Erzählung über sich selbst im Moment für ihren Geburtstag hält. Zur Feier kam die DGPuK in die Stadt, 500 Kolleginnen und Kollegen. Festmenü in Auerbachs Keller, Festakt mit Ministerin Eva-Maria Stange und Rektorin Beate Schücking, Festvortrag von Bernhard Debatin. Dieser Philosoph hatte zwar in Westberlin studiert, war aber in den späten 1990er-Jahren für ein paar Jahre Dozent in Leipzig. Debatin sollte also wissen, wo er hier spricht. Die gut zwei Dutzend Menschen, die Karl-Heinz Röhr in den Hörsaal mitgebracht hatte, sind trotzdem enttäuscht nach Hause gegangen. ›Ihre‹ Zeit, immerhin fast die Hälfte der 100 Jahre, die hier gefeiert werden sollten, wurde in weniger als drei Minuten abgehandelt. Nationalsozialismus und DDR: Das war doch irgendwie dasselbe. Wissenschaft im »Dienst von Regierungsinteressen«. Bei Hermann Budzislawski, dem ersten Dekan der Fakultät für Journalistik, hat Bernhard Debatin »zwischen den Zeilen« immerhin »liberale Tendenzen« entdeckt und das auf sein US-Exil zurückgeführt. Dazu mehr im übernächsten Kapitel. Im Festvortrag von 2016 gab es noch einen Halbsatz zu den »ideologischen Hardlinern«, die Budzislawski folgten und ein Prosit auf die Abwicklung.78 Klarer konnte man das nicht sagen. Trollt euch, Röhr und Konsorten. Mit euch haben wir nichts am Hut.

Wie das so ist im Leben: ›Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch‹.79 Diese Kommunikationswissenschaft, die Elisabeth Noelle-Neumann huldigt, sich in kleinteiligen Studien zu Medienwirkungen verliert und dabei die großen Wirkungen übersieht, die Staats- und Wirtschaftspropaganda mit sich bringen, und zu ihrer eigenen Legitimation den Teufel ›rotes Kloster‹ an die Wand malt – diese öffentlich kaum wahrnehmbare akademische Disziplin hat in ihrem Schoß junge Leute wie Uwe Krüger genährt, der den Abend heute organisiert hat und dafür unbedingt Hans Poerschke am Pult haben wollte. Krüger und seine Mitstreiter würden schon gerne an der Universität arbeiten und hätten dort auch etwas zu sagen, brauchen dafür aber eine andere Kommunikationswissenschaft, mit Karl Marx und politischer Ökonomie der Medien, mit kritischer Diskursanalyse, mit einem analytischen Blick, der Machtstrukturen nicht übersieht, sondern in das Zentrum rückt.

 

Als ich Uwe Krüger Ende 2016 das erste Mal getroffen habe, ein paar Monate nach der Jubelfeier zu 100 Jahren Karl Bücher, war er gerade dabei, die Wissenschaft zu verlassen. In Sachsen wurden Lehrer gesucht, auch Quereinsteiger, am besten Menschen wir Krüger, Jahrgang 1978, hoch gebildet. Uwe Krüger hat zwei Kinder. Warum also nicht, zumal er an der Universität nur eine halbe Stelle hatte und auch das nur noch für ein paar Monate. Man muss sich das einmal vorstellen: eine akademische Disziplin, die einen ihren Helden verstößt, weil die, die am Machtpol sitzen und das Sagen haben, ihn nicht für einen Helden halten, sondern für eine Gefahr. Krügers Dissertation kennt jeder, der irgendwie unzufrieden ist mit dem, was die Leitmedien aus der Welt machen. Er zeigt dort, wie stark deutsche Alpha-Journalisten in andere Elitenmilieus eingebunden sind.80 Am 29. April 2014 haben Claus von Wagner und Max Uthoff in der ZDF-Satiresendung Die Anstalt aus Krügers Material eine Tafelnummer gemacht, die viral ging und den Begriff ›transatlantische Netzwerke‹ salonfähig machte in der Debatte um die Qualität der des Journalismus.81 Die Kommunikationswissenschaft hat diese Dissertation bekämpft, frei nach dem Motto: Was als Realität durchgeht, bestimmen immer noch wir.82

Es ist fast zu kitschig, aber ich muss das hier trotzdem aufschreiben: Uwe Krüger ist wie ich auf der Insel Rügen aufgewachsen und hat seine ersten Texte in der Ostsee-Zeitung veröffentlicht. Gerhard Ladda, mein Mathelehrer, der im nächsten Kapitel wieder auftauchen wird, war zehn Jahre später sein Klassenlehrer in der Kreisstadt Bergen. Für Krüger und mich war es nicht so schwer, uns auf den Veranstaltungstitel zu einigen, der Karl Friedrich Reimers ein paar Monate später auf die Palme bringen sollte. Auch das muss man sich erst einmal vorstellen: ein Gründungsdekan, der es immer noch nicht erträgt, das andere öffentlich über das sprechen, was er vor 30 Jahren gemacht hat, und dabei möglicherweise eine andere Sicht vertreten als er selbst. Die drei Seiten Interview mit sich selbst, die er kurz vor der Podiumsdiskussion an so viele Leute geschickt hat, dass sie schnell auch bei Krüger und mir sind, lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Wer von ›Abriss‹ spricht und vor allem von ›Verwestlichung‹, der hat nicht nur keine Ahnung, sondern weder die Quellen kritisch gelesen noch die einschlägige Literatur.83

Karl-Heinz Röhr hat von diesem Abend nicht allzu viel erwartet. Es sei inzwischen viel zu viel Zeit vergangen, »um alte Wunden zu lecken«, schreibt er ein paar Tage vorher an Uwe Krüger. »Und neue Selbsterkenntnis kann man wohl von den westdeutschen Partnern kaum erwarten«.84 Ich habe ihn hinterher gar nicht gefragt, ob er sich über Heike Schüler gefreut hat, die auf dem Podium gegen die Mär anspricht, Journalisten seien in der DDR nichts weiter gewesen als Erfüllungsgehilfen der Partei (»Ich wollte die Gesellschaft verbessern. Den Sozialismus verbessern. Etwas verändern, zum Guten«), und die »journalistische Ausbildung« sowie ihre Dozenten mit DDR-Hintergrund fast über den grünen Klee lobt (»Das ist wirklich großes Handwerk gewesen. Großes Wissen«). Röhr muss mir unbedingt sagen, wie froh er ist, dass es in Leipzig jetzt diesen Uwe Krüger gibt, inzwischen sogar auf einer unbefristeten Stelle. Und er will über Hans Poerschke sprechen.

Ich muss die Rede von Poerschke und seine Wortbeiträge hier nicht wiederholen. Das ist alles gleich doppelt im Netz, als Video und in einer Schriftfassung. Man kann dort hören oder lesen, wie er den Begriff ›Landnahme‹ verstanden wissen möchte: »Unverhofft wurde auf bislang fremdem Territorium ein Stück herrenlos gewordenes akademisches Bauland verfügbar«. Baupläne, Baumaterial, Bauleute: alles aus dem Westen. Und kein Platz für das, was in Leipzig trotz Parteiherrschaft gewachsen war: Geschichte des Journalismus (mein Bereich), Poerschkes eigene »Ansätze zu einer Theorie der sozialen Kommunikation«, die Inhaltsanalyse, die bei Wulf Skaun und Wolfgang Tiedke so nah dran war an der Medienrealität, dass die Partei die Befunde im Panzerschrank verschloss, die Arbeiten zur Stilistik, die Horst Pöttker später in Dortmund vor dem Vergessen rettete,85 und der »journalistische Schaffensprozess«. Sigrid Hoyer, zum Beispiel.

Zur »Landnahme« gehört bei Hans Poerschke die Evaluation, die »keine umfassende, systematische Analyse« des Vorgefundenen gestattet habe, weil es jeweils nur um einen Einzelnen ging, und das auch noch »gefärbt durch die persönliche Sicht der beiden Gesprächspartner«. Eigentlich, so Poerschke weiter, sei nur geprüft worden, ob man »integrierbar« war in das, was der Westen mitbrachte nach Leipzig. Mit Kurt Koszyk, seinem eigenen Evaluator, hat Hans Poerschke Mitleid. Ein Mann aus Dortmund, der über etwas urteilen sollte, das von sowjetischer Literatur lebte, die er nicht verstand. Warum, fragt Hans Poerschke im Zeitgeschichtlichen Forum, warum hat man uns nicht einfach gemeinsam arbeiten und so schnell merken lassen, »wer welchen Geistes Kind ist«? Warum hat man den Traditionsstandort Leipzig nicht für ein Projekt genutzt, dass das deutsch-deutsche »Kennenlernen« wissenschaftlich begleitet und so den Journalisten hilft, »Formen der Diskussion und des Streits, Formen des Umgangs miteinander« zu finden? In diesem Moment weiß ich, dass ich dieses Buch schreiben muss.

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