Das Erbe sind wir

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Karl-Heinz Röhr, der Sigrid Hoyer bei ihrem Aufstieg zur Dozentur immer ein wenig schubste, wenn sie sich selbst noch nicht bereit fühlte, stützt den Eindruck, dass die Brutstätte für Journalistinnen und Journalisten in Leipzig in gewisser Weise vogelfrei war, wenn es denn so etwas in der DDR überhaupt geben konnte. »Die politische Linie der Partei«, na klar, die hatte jeder »im Kopf«, der dort lehrte. Dekan und Direktor wurden Politiker, nicht herausragende Wissenschaftler. Emil Dusiska, der Röhr als Parteisekretär sehen wollte, hatte im Apparat Karriere gemacht, bevor er mit Anfang 50 zum Akademiker mutierte, ohne Abitur oder sonst einen höheren Abschluss. Es gab in Leipzig Professoren wie Wolfgang Wittenbecher, noch so jemand ohne nennenswerte Publikation, die darauf drängten, »dass zu jedem Seminar Literatur von Marx und Lenin angegeben« wird, was schon deshalb schwierig war, weil sich die beiden Klassiker »nicht zu jeder Frage geäußert« hatten, zur Recherche zum Beispiel nicht oder dazu, »wie man eine Nachricht schreibt«. Karl-Heinz Röhr hat das alles erlebt und war selbst »einer der Privilegierten«, die hin und wieder zum Zentralkomitee der Partei fuhren. »Ich habe nie irgendwelche Anweisungen bekommen«, sagt er. »Die politische Atmosphäre war bei uns besser und freier als in den Redaktionen. Dort gab es viel mehr Druck aus den Bezirksleitungen und aus der Abteilung Agitation. Bei uns schaute kein Mensch außer uns selbst richtig hin, und unsere Studenten waren junge Menschen, die viele Fragen hatten und sich nicht alles gefallen ließen«.34

Sigrid Hoyer mag das nicht ganz so stehen lassen. »Karl-Heinz wollte das auch so sehen«, sagt sie. »Ich habe ihn als Familienmenschen erlebt, der uns alle gern an einem großen Tisch versammelte. Ihm war der ehrliche Gedankenaustausch wichtig. Eine offene Gesprächsatmosphäre«.35 Es ist unklar, ob sich das auf den Parteisekretär Karl-Heinz Röhr bezieht oder auf den Professor für journalistische Methodik. Wahrscheinlich auf beide. Röhr hat überall versucht, sein »Sozialismusbild zu praktizieren«. Miteinander reden, auf die Menschen achten. »Bei mir gab es keine Parteiverfahren oder irgendwelche Strafen. Vorher war das gang und gäbe«.36 Sigrid Hoyer erinnert sich »an manche ratlose, ja quälende Diskussion«, vor allem kurz vor Schluss. »Dieses ewige Zwischen-den-Zeilen-Lesen«, diese Suche nach dem »kleinsten Ansatz einer Erklärung«. Nach der Wende hat sie gehört, dass »auch in diesem Raum Wanzen hingen«. Die »familiäre Atmosphäre«, die ihr Mentor Karl-Heinz Röhr bis heute beschwört und in seinen Veteranenrunden lebt: Sigrid Hoyer vermutet, dass dieser Wunsch in den 1960er-Jahren wurzelt, in der Idylle der Villa, in der die Fakultät untergebracht war, bevor das Hochhaus am Karl-Marx-Platz gebaut wurde, »ein wenig abgeschirmt vom Rest der Universität«. Ja: Dort gab es diese Strichlisten und übereifrige FDJ-Gruppenleiter, aber sonst war »alles sehr unakademisch«, freimütig, ohne die üblichen Hierarchien. Die Lehrer kaum älter als die Studenten und alle zusammen dabei, eine Journalistikwissenschaft zu erfinden, die Reinhard Bohse, der Mann vom Neuen Forum, heute für einen gar nicht so kleinen Teil des großen Übels hält.

Was hier nicht vergessen werden soll: Sigrid Hoyer ist auch deshalb dabeigeblieben, weil sie als Studentin auf Texte und auf Menschen gestoßen ist, die sie bis heute faszinieren. Willy Walther, der 1963 zur Genreforschung promoviert hat.37 »Als ich das gelesen hatte, spürte ich: So kann man journalistisches Tun durchschaubar, nach und nach handhabbar und damit auch lehrbar machen. Ein verführerischer Gedanke«. Ende 1962 eine Konferenz zum »Q in der journalistischen Arbeit«, ein Buchstabe, der im DDR-Deutsch für Qualität stand.38 »Dort wurden Fragen diskutiert, die mich sehr interessierten: Was Sprache alles mit Inhalten machen kann, wie originelle Blickwinkel einen Stoff zum Leuchten bringen und dem Leser Genuss bereiten«. Und ein Aufsatz von Dietrich Schmidt, erschienen 1961 in der Zeitschrift für Journalistik und auch noch Ende der 1990er-Jahre in den Seminarplänen von Sigrid Hoyer, obwohl die Überschrift eher Reinhard Bohse weckt (Journalistische Genres als Gestaltungs- und als Kampfformen) und der Autor schon auf der ersten Seite keinen Zweifel daran lässt, dass Genres für ihn nicht nur »Ausdrucksformen« sind, sondern auch »Waffen politischer Institutionen«.39 Wer weiterliest, merkt schnell, dass Dietrich Schmidt trotzdem nicht den Sprachrohr-Journalismus predigt, der die Massen im Herbst 1989 auf die Straße trieb. Sein Credo: Die Wirklichkeit dokumentieren, dabei eng an den Tatsachen bleiben, aktuell sein, verständlich, manchmal sogar sinnlich. Diese Denkschule hat Hans Poerschke geprägt, der heute Abend der Hauptredner sein wird,40 und Sigrid Hoyer zunächst alles geliefert, was sie für ihre Diplomarbeit brauchte,41 um sie dann fast ein halbes Jahrhundert in Forschung und Lehre zu begleiten.

WARUM AM ENDE ALLES ANDERS KAM, ALS ES DER GRÜNDUNGSDEKAN WOLLTE

Hans Poerschke war heute zum ersten Mal beim Inder. Ein Student hat ihn mit dem Auto daheim in Holzweißig abgeholt, knapp 50 Kilometer Fahrt, Abendessen inklusive. Für mich hat er einen Stapel Kassetten dabei. »Auf dem Dachboden gefunden«, sagt er. »Wenn ich noch Studenten hätte, würde ich das einem geben und ihn daraus etwas machen lassen«. In der Tat: ein Schatz. Acht Stunden Mitschnitt von einem Workshop Ende Mai 1990, der Medienforscher aus Ost und West zusammenbringt. Poerschke hat damals selbst einen Bericht geschrieben. Nützliches Kennenlernen und hoffnungsvoller Auftakt. Erstes Leipziger Seminar zur akademischen Journalistenausbildung.42

Dieses erste Seminar war zugleich das letzte, und selbst ohne das Wissen von heute muss man nicht den kompletten Kassettensatz durchhören, um den jüngeren Hans Poerschke als einsamen Rufer in der Wüste zu enttarnen. Ost und West reden aneinander vorbei. Sie müssen aneinander vorbeireden, weil politisch und theoretisch Welten zwischen diesen beiden deutschen Wissenschaftskulturen liegen. Die einen insistieren, dass es ohne ihren Marx nicht gehen wird, und die anderen wissen, was aus denen geworden ist, die genauso dachten. Wir haben den Marxismus »mühsam ausgerottet bei uns«, sagt Günther Rager, Professor für Journalistik an der TU Dortmund, erkennbar ironisch mit Blick auf seine Kolleginnen und Kollegen aus München, Göttingen, Eichstätt. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir uns das jetzt über den ›Umweg DDR‹ zurückholen wollen?«43 Rager wird ein gutes halbes Jahr später mit Hans Poerschke und meinem Kommilitonen Uwe Madel bei Minister Meyer sitzen und ihn überzeugen, das Kapitel ›Medienausbildung in Leipzig‹ nicht zuzuschlagen. Es ist ein kalter Dezembertag kurz vor Weihnachten, viel kälter als heute, mit Schnee und allem, was damals noch zum Winter gehörte. Beate Schneider und Klaus Schönbach aus Hannover haben kurz vorher abgesagt. Der weite Weg, die schlechte Bahnverbindung, das Wetter. Da scheint es »wenig sinnvoll, auf gut Glück und ohne Konzept zu einem kurzen Treffen beim Minister zu erscheinen«.44 In diesem Moment ist die Leipziger Journalistik mausetot. Seit dem Abwicklungsbeschluss vom 11. Dezember hat es überhaupt nur drei Proteste aus dem Westen gegeben. Zumindest liegt nicht mehr im Universitätsarchiv. Ein Telegramm aus Hannover, auch im Namen von Schneider und Schönbach, ein Schreiben von der IG Medien direkt an Kurt Biedenkopf und eins aus Dortmund, mit der Unterschrift von Rager neben der seiner sieben Professorenkollegen.45 Wir Studenten sind uns genauso einig wie die Leipziger Dozenten, dass der Gründungsdekan nur Günther Rager heißen kann, wenn er denn schon aus dem Westen kommen muss.

Ich werde später in diesem Buch ausführlich über Ende und Neustart berichten und auch über das Ost-West-Seminar, das Hans Poerschke im Mai 1990 auf Magnettonband festgehalten hat. An dieser Stelle nur so viel: Was in der Bundesrepublik unter den Namen Publizistik- oder Kommunikationswissenschaft gewachsen war, hatte wenig bis gar nichts mit dem zu tun, was Sigrid Hoyer und die meisten anderen umtrieb, mit denen ich als Student in Leipzig zu tun hatte. Auch hier wieder mit meinen Worten: Diese Dozenten wollten aus mir einen guten Journalisten machen. Dazu sollte ich verstehen, welche Aufgabe ein Journalist in der Gesellschaft hat, wie der Alltag in einer Redaktion abläuft, wie ich für das, was ich meinem Publikum sagen will oder sagen soll, die passende Form finde, und wie ich die Botschaft nicht nur fehlerfrei formuliere, sondern möglichst originell. Die Forschung war diesem Ziel untergeordnet. Untersucht wurde alles, was helfen konnte, die Ausbildung effektiver zu machen. In der Bundesrepublik interessiert das niemanden (zumindest keinen Hochschullehrer) – bis heute nicht. In München und Münster, in Mainz und Hannover ging und geht es um die Wirkung von Medien, egal ob man Journalisten interviewt, Artikel vermessen lässt oder Nutzer befragt. Was dort mit viel Aufwand erforscht wird, hat man in der DDR vorausgesetzt. Jeder Revolutionär wusste, dass man Zeitungen braucht und die Rundfunksender besetzen muss. Medien wirken, was sonst.

Es ist kein Zufall, dass Horst Pöttker heute Abend auf dem Podium sitzt, jemand, der von sich selbst sagt, dass er »sowohl Journalist als auch Wissenschaftler« sei, und der sich Mitte der 1990er-Jahre für Dortmund entschied, als ihm in Leipzig ein Lehrstuhl für Journalistik angeboten wurde. Es wird in der Diskussion dann nicht ganz klar, wie genau die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen beiden Standorten sind. Wer war zuerst da, wer hat was von wem übernommen? In Dortmund gab es ab 1976 einen Modellversuch und 1980 dann auch ganz offiziell einen Studiengang Journalistik. Von dem Namensvetter in Leipzig haben sich Ulrich Pätzold und Gerd G. Kopper, beide lange dort auf einer Professur, noch 2010 vehement abgegrenzt.46 Wolfgang R. Langenbucher, der parallel zu den Dortmundern zusammen mit der Deutschen Journalistenschule in München etwas ähnliches gestartet hat und auf den Kassetten vom Mai 1990 zumindest in meinen Ohren der angenehmste Gast aus dem Westen ist, erinnert sich, dass »ein Diplom für Journalisten« in den 1970er-Jahren »eine Absurdität« war. Leipzig, die »rote Kaderschmiede«.47 Im Zeitgeschichtlichen Forum wird sich nachher Steffen Grimberg melden, 1968 im Ruhrgebiet geboren, 1989 in Dortmund Diplomstudent, 2009 ausgezeichnet mit dem Bert-Donnepp-Preis, dem wichtigsten Preis für Medienpublizistik, und sagen, dass der Dortmunder Studiengang »ja nach dem ›Leipziger Modell‹ aufgezogen war«. Praxis und Wissenschaft sehr eng verzahnen: »Das ging klar aufs Leipziger Konto, was damals keiner wissen durfte«.

 

Was die Leipziger relativ früh wussten: Drüben war man neidisch auf das, was im Hochhaus am Karl-Marx-Platz möglich war. Elisabeth Noelle-Neumann, Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach und eine Art Übermutter der westdeutschen Fachgemeinschaft, war vor allem vom ›Übungssystem‹ begeistert, als sie 1973 oder 1974 für eine Tagung in die Stadt kam (sie war zweimal da und es ist nicht ganz klar, wann sie das gesagt hat) und von Stilistik-Professor Werner Michaelis jeden Tag mit dem Trabant vom Hotel abgeholt wurde. »Sie meinte, so etwas würde sie in Mainz auch gern machen. Ihr würden aber die Lehrkräfte fehlen«. Michaelis wurde zu einem Gegenbesuch in den Westen eingeladen, von Noelle-Neumann »sehr zuvorkommend in ihrer Wohnung empfangen« (»sie hatte Pasteten gebacken«) und 1978 bei einer Tagung in Warschau von ihr verteidigt, als ihm der Diskussionsleiter aus Polen das Wort abschneiden wollte. Werner Michaelis erinnert sich auch an einen Kollegen aus Münster, der bei ihm »Lehrmaterial abgeholt« hat,48 und als ich im April 1990 zum ersten Mal in der Dortmunder Institutsbibliothek stand, lagen dort auch die Lehrhefte aus Leipzig.

Werner Michaelis hat es sogar in die Autobiografie von Elisabeth Noelle-Neumann geschafft, allerdings ohne Trabant und ohne Pasteten. Wenn man es genau nimmt: Eigentlich kommt er in diesem Buch von 2006 nur als Echo vor und steht nicht einmal im Personenregister. In der Episode, die Noelle-Neumann dort aus den Tagen der Studentenbewegung schildert, fragt sie »ganz unschuldig in die Runde« ihrer Mainzer Vorlesung, ob denn »der Professor Michaelis« damals schon in Leipzig gewesen sei – und »das halbe Auditorium« ›weiß‹ die Antwort (»Nein, der kam erst später«). Das Wort ›weiß‹ habe ich in Anführungszeichen gesetzt, weil die Geschichte vorne und hinten nicht stimmt, denn Werner Michaelis hat schon 1953 angefangen, künftigen Journalisten Deutsch beizubringen, ein Jahr vor der Gründung der Leipziger Fakultät. Noelle-Neumann geht es aber ohnehin nicht um historische Wahrheit, sondern um eine Pointe, einen Beleg für ihre Dauerfehde mit Marxisten und einen Beweis für ihre porentief reine antikommunistische Gesinnung. Der Name Michaelis muss für die These herhalten, dass die Proteste der Mainzer Studenten gegen Noelle-Neumann, die in einer Institutsbesetzung gipfelten, aus der DDR gesteuert waren, von eingeschleusten Provokateuren. Erkannt hat sie das »kurioserweise immer an ihrem Haarschnitt«. Lange Haare als Markenzeichen der Westlinken und ein kurzer Schnitt, »wenn sie von ihren Besuchen in der DDR zurückkamen«.49

Warum ich das hier erzähle? Elisabeth Noelle-Neumann war sehr dagegen, dass es mit der Leipziger Journalistik nach der Abwicklung weitergeht, und sie war, das habe ich erwähnt, nicht irgendwer in diesem wissenschaftlichen Feld. Steffen Grimberg, der Absolvent aus Dortmund, kann im Zeitgeschichtlichen Forum als Zeitzeuge sprechen, weil er im März 1990 nach Leipzig kam, um eine Studienarbeit zu schreiben über den Wandel an der Sektion Journalistik und in den DDR-Medien überhaupt. Er kann sich »erinnern, dass uns der letzte Parteisekretär die Schulungshefte übergab, mit den schönen Worten: Bitte betreiben sie keine Leichenfledderei«. Er weiß auch, dass es bei der Neugründung »tatsächlich auch um Machtfragen« ging und warum Günther Rager, sein Professor daheim im Pott, nie und nimmer als Leipziger Dekan in Frage kam, obwohl Dortmund »der geborene Partner« gewesen sei, »auch für die Evaluation in Leipzig«. Die Wahlen, sagt Steffen Grimberg. Erst die Volkskammer am 18. März und dann der sächsische Landtag am 14. Oktober 1990. Schwarz, ohne Wenn und Aber und damit auch ohne Günther Rager aus dem ›roten Dortmund‹ (Steffen Grimberg sagt die Anführungszeichen in Leipzig sicherheitshalber mit) und aus einem Bundesland mit SPD-Regierung. »Dann kam eben Reimers von der HFF in München«.50

An der Hochschule für Fernsehen und Film war die Kommunikationswissenschaft ein Fremdkörper. Dieses Haus ist stolz auf Regisseure, Kameraleute, Produzenten. In solchen Jobs muss man nicht wissen, wie Medienwirkungen untersucht werden. Die Kommunikationswissenschaft ist ein Erbe der Gründungsgeschichte. Otto B. Roegele, im Hauptamt Professor an der LMU München, war von der Landesregierung als erster Präsident der Hochschule auserkoren worden und brauchte irgendeinen Anker, um das nach außen verkaufen zu können. Den HFF-Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft bekam 1975 Karl Friedrich Reimers, der sich vorher als Filmforscher einen Namen gemacht hatte. In München ›passte‹ das, wie der Bayer so schön sagt. Von der ›Mainzer Schule‹ aber, die (Elisabeth Noelle-Neumann sei Dank) den großen Rest der Kommunikationswissenschaft infiltriert hatte, war Karl Friedrich Reimers genauso weit entfernt wie von der Leipziger Journalistik.

Vorn auf dem Podium im Zeitgeschichtlichen Forum wird das, was Steffen Grimberg »Machtfragen« genannt hat, heute nicht viel konkreter. Michael Haller, der letzte Chef von Sigrid Hoyer, spricht von einer »eher neoliberal geprägten Wissenschaftscommunity mit einer ausgeprägten Abwehr gegenüber allem, was aus der ehemaligen DDR kam«, und Horst Pöttker, halb Journalist, halb Wissenschaftler, von einer »konservativen und wenig liberalen Riege«. Beide haben vor 20 Jahren ein kleines Beben ausgelöst in dieser Riege, mit einem Beitrag über die NS-Vergangenheit der Kommunikationswissenschaft, erschienen im Aviso, dem Mitteilungsblatt der ›Wissenschaftscommunity‹, Pöttker als Autor und Haller als Redakteur. Überschrift: Mitgemacht, weitergemacht, zugemacht. Eine Attacke gegen Elisabeth Noelle-Neumann, die 1937 mit einem DAAD-Stipendium in die USA fuhr, 1940 in Berlin promovierte und dann für Das Reich schrieb, das Wochenblatt von Goebbels.51 Pöttker im O-Ton von 2001: eine »Schreibtischtäterin« (von mir gegendert, sorry), die »markante Teile der NS-Ideologie« an Zeitungsleser vermittelte, später als Professorin in der Bundesrepublik »eine konsequente Personalpolitik im Sinne ihrer Positionen betrieb« und das »eigene Mitmachen« in »Distanz, ja Widerstand« umdeutete.52

Ich habe das selbst erlebt, an einem heißen Frühsommertag 1999 in Allensbach, wo ich Elisabeth Noelle-Neumann, längst über 80, zur Umfrageforschung in den 1950ern interviewen wollte.53 Bevor wir zur Sache kommen konnten, hat sie sich eine halbe Stunde von Vorwürfen entlastet, die mich, ein Kind der DDR und immer noch nicht vertraut mit den westdeutschen Kämpfen, bis dahin gar erreicht hatten. Selbst im Grab lässt dieses Thema Noelle-Neumann nicht ruhen. Ihre Wahlverwandten haben eine Biografie vom Markt geklagt, die Gobbels, Allensbach und Mainz in einer fulminanten Erzählung zusammenführte, und dabei auch Rezensionen löschen lassen und Jörg Becker, den Autor, persönlich angegriffen – einen Mann, der als »Kommunistenfreund« galt und auch deshalb nie auf eine Professur berufen worden war.54

Pöttker und Haller haben viel Prügel einstecken müssen für die Attacke von 2001.55 Vielleicht verzichten sie deshalb heute Abend darauf, auf dem Podium Ross und Reiter zu nennen. Der Name Noelle-Neumann fällt überhaupt nur einmal, in die Runde geworfen von Manfred Knoche, Medienökonom aus Salzburg, Jahrgang 1941, der sich immer noch sicher ist, dass er Anfang der 1990er-Jahre in Leipzig einen Lehrstuhl verdient gehabt hätte und dafür seine Studienzeit in Mainz ins Feld führt, direkt an der Quelle der Macht. Man muss dazu wissen, dass Knoche an diesem Institut einer der Köpfe der Studentenbewegung war (damals wie heute mit langen Haaren, Selbstbild: »antiautoritärer Idealist«), 1972 an die FU Berlin floh und dort zum Jünger von Karl Marx wurde.56 Sein Groll gilt nicht nur Noelle-Neumann und ihrer ›Riege‹, sondern auch Karl Friedrich Reimers, dem Gründungsdekan aus München, aus dem Knoche im Zeitgeschichtlichen Forum eine Art Alleinherrscher macht, der in Leipzig nur deshalb keine Professur für Medienökonomie schuf, weil er ganz genau wusste, dass dafür nur einer in Frage gekommen wäre – er, der Marxist Manfred Knoche. »Ein ganz eigenartiger Typ, der mit Publizistik- und Kommunikationswissenschaft überhaupt nichts zu tun hatte. Seine einzige Qualität war, dass er aus Bayern kam und konservativ war, und zwar erzkonservativ«.

Es ist »viel Blödsinn« geredet worden bei dieser Veranstaltung, wird mir Karl Friedrich Reimers ein paar Wochen später am Telefon sagen. Das Video ist da schon auf YouTube, aber ich bin mir nicht sicher, ob Reimers sich damit auskennt. Man kann ihn nach wie vor nur per Brief erreichen oder eben anrufen. Jemand wie Reimers muss sich ohnehin nicht zwei Stunden Amateur-Film antun, bei dem man Sprecher und Kulisse nur mit Mühe erkennt. Wer einen Riesenladen wie das Leipziger Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft aus dem Boden stampft, hat auch ein Vierteljahrhundert später genug loyale Zeugen vor Ort. Reimers geht es auch gar nicht um Manfred Knoche. Wer weiß, ob er davon überhaupt schon gehört hat. Er will über die sprechen, die auf dem Podium saßen, und über den Titel der Veranstaltung. Punkt 1: Man sei »auf den Hauptverantwortlichen« (also auf ihn) nicht zugegangen. Man habe sich nicht getraut. Punkt 2 und vermutlich der Grund für diesen »Skandal«: »Abriss« und »Verwestlichung«. Von wegen. Er persönlich habe die drei Kollegen für die Evaluierung ausgesucht, und zwar »nach Charakter«. Kurt Koszyk, Manfred Rühl, Dieter Roß. »Abwägende Köpfe, die mir am ehesten geeignet schienen, DDR-Leistungen im Gespräch einzuschätzen«. Reimers hätte auch sagen können: niemand aus der ›Mainzer Schule‹ von Elisabeth Noelle-Neumann. Er dreht das aber lieber positiv: Was er sich für Leipzig ausgedacht hatte, Kommunikations- und Medienwissenschaft, das habe es im Westen seinerzeit überhaupt nicht gegeben. Von Verwestlichung also keine Spur.57

Das stimmt, mein lieber Karl Friedrich Reimers, und stimmt doch nicht. Das klitzekleine Puzzleteil der deutschen Einheit, um das es hier geht, zeigt wie in einem Brennglas, dass selbst beste Absichten wenig auszurichten vermögen gegen gesellschaftliche Strukturen. Uwe Schimank, ein Soziologe, erklärt, warum nirgendwo das herauskommen kann, was ein Einzelner anstrebt. Immer handeln viele gleichzeitig und wollen jeweils etwas anderes. Sie beobachten sich dabei, reden miteinander, senden Signale. Dazu kommt das, was Schimank Erwartungsund Deutungsstrukturen nennt. Wie sehen wir die Welt, was erwarten andere von uns, was nehmen wir davon wie wahr und was macht das alles mit unseren Plänen, mit unserer Strategie, mit unserer Taktik?58

Karl Friedrich Reimers erzählt mir von der Aggressivität, auf die seinerzeit die Entscheidung stieß, die Sektion Journalistik irgendwie weiterleben zu lassen – nicht nur bei den Gefolgsleuten von Elisabeth Noelle-Neumann oder in der Bild-Zeitung, die ihn als Retter des ›roten Poerschke‹ verunglimpfte, sondern auch an der Universität Leipzig. Selbst einige Journalistikstudenten hätten gegen ihre alten Professoren gehetzt. Ich könnte hier Bürgerbewegte wie Reinhard Bohse ergänzen und all das ganz folgerichtig nennen, was es heute an diesem Standort gibt – ein großes Institut mit Medienpädagogik und Buchwissenschaft, mit Forschungsmethoden und PR. Man kann dort sogar einen ›Master of Science‹ belegen, der Journalismus heißt, aber der Name ist eine Mogelpackung. Gebacken wird hier ein ganz neuer Typ Medienforscher. Die Zutaten: an der Universität ein Drittel Informatik, ein Drittel Sozialwissenschaft und ein Drittel Praxis sowie ein Volontariat, am besten in der Region. Ich kenne die Kolleginnen und Kollegen, die sich das ausgedacht haben. Der Journalismus ist den meisten von ihnen egal. Sie brauchen Studenten, mit denen sie forschen können, und zwar so, dass man die Befunde in den USA präsentieren kann, wo die Medienforschung fest in der Hand von Menschen ist, die die Naturwissenschaften für das Nonplusultra halten.59 Messen, zählen, rechnen. Deshalb die Informatik, deshalb viel zu Erhebungsverfahren und Datenanalyse.

 

Kein Zweifel: Karl Friedrich Reimers hat in Leipzig mit aller Macht versucht, etwas zu schaffen, was er persönlich für innovativ halten musste.60 Kein Aufguss der ›Mainzer Schule‹, sondern ein ganz neues Haus, in dem alle leben können, die irgendwie zu Medien forschen, und in dem für ein paar Jahre sogar Platz war für Menschen, die etwas machten, was manche Mitbewohner für museumsreif hielten. Andreas Rook, der mit mir 1988 als Student nach Leipzig kam, Anfang 1990 mit Sigrid Hoyer in der »Alternativgruppe« an einem Studienprogramm schrieb und schließlich ›unser‹ Mann in der Gründungskommission wurde, erinnert sich, wie Reimers bei Berufungen an den Stellschrauben gedreht hat. Wenn jemand »aus dem Stall von Noelle-Neumann« kam, dann sei das klar benannt worden. Zugleich habe der Gründungsdekan wieder und wieder darauf gedrängt, nicht die Publikationsliste zum wichtigsten Kriterium zu machen. »Dann haben die DDR-Wissenschaftler keine Chance«.61

Wenn sich Karl Friedrich Reimers heute an seine Spaziergänge mit Hans Poerschke erinnert, dann sagt er immer noch »unsere Pläne« zu dem, was beide dabei hin und her gewälzt haben, obwohl er weiß, dass sein Begleiter ihn schon damals stets korrigiert hat. Ihre Pläne, Herr Reimers. Heute Abend im Zeitgeschichtlichen Forum wird Hans Poerschke das Wort ›Landnahme‹ verwenden und es schaffen, Reimers dabei nicht persönlich anzugreifen. Poerschke weiß, dass es keine akademische Disziplin mehr gibt, die das journalistische Arbeiten ins Zentrum rückt und alles daransetzt, das handwerkliche und intellektuelle Rüstzeug besser zu machen, das die Absolventen mitnehmen in den Beruf. Er weiß auch, dass Karl Friedrich Reimers von allen möglichen Gründungsdekanen menschlich der angenehmste war. Man muss dazu nur die Horrorberichte aus anderen Fachbereichen lesen, die Peer Pasternack in seiner Dissertation über die ›demokratische Erneuerung‹ der Universitäten in Leipzig und Berlin gesammelt hat.62 Ich selbst kann auch einfach in das Original der Dissertation von Karl Jaeger schauen, eingereicht 1921 (kein Schreibfehler) in Leipzig und, so steht es in der Widmung, seit 2013 in meinem Regal in München – von Karl Friedrich Reimers »persönlich weitergegeben an den ersten, früh wohlbestallten Universitätslehrer aus dem Kreis der Leipziger Journalistik-Absolventen 1991ff.«63 Ohne Reimers würde ich dieses Buch nicht schreiben. Ich bin nicht nur ein loyaler Zeuge, sondern auch dankbar. Mit einem Abstand von 30 Jahren sehe ich trotzdem, dass am Ende Elisabeth Noelle-Neumann gewonnen hat, und ich sehe auch, wie hoch der Preis für diesen Sieg war.