Das Erbe sind wir

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WAS VOR 30 JAHREN VERLOREN GEGANGEN IST

Wenn man so will, ist Karl-Heinz Röhr heute die ›Spinne im Netz‹. Er hält gleich zwei Veteranenrunden zusammen: die Leipziger Journalisten und die, die mit ihm an der Sektion Journalistik gearbeitet haben. Gastvorträge, die Weihnachtsfeier, Beerdigungen. Einer muss dafür sorgen, dass die anderen Bescheid wissen und dann auch erscheinen, obwohl die Lust, die Wohnung zu verlassen, mit dem Alter nicht größer wird. Karl-Heinz Röhr hat auch an diesem Abend dafür gesorgt, dass viele der Ehemaligen gekommen sind, um Hans Poerschke zu hören. Selbst Sigrid Hoyer ist da, die solche Begegnungen sonst meidet, weil sie den Neid nicht mag, den sie in den Gesichtern einiger Kollegen von früher zu sehen glaubt, und weil sie nicht vergessen hat, was manche gesagt haben, als sie bleiben durfte und andere nicht. »Karl-Heinz zuliebe«, sagt sie, »und auch wegen Hans«.

Sigrid Hoyer hätte heute Abend durchaus vorn sitzen können, neben Michael Haller, einem Professor aus Hamburg, der gut ein Jahrzehnt ihr Chef war, neben Horst Pöttker, den die evangelische Kirche Anfang der 1990er-Jahre für ein paar Jahre nach Leipzig geschickt hat, der dann aber einen Lehrstuhl in Dortmund vorzog, und neben Heike Schüler, im Herbst 1989 immatrikuliert und heute Reporterin der Abendschau beim RBB. Eine Frau mehr auf dem Podium, dazu noch jemand, der nicht Professorin war und beide Systeme kennt: Das hätte vielleicht auch die beruhigt, die schon vorher wussten, dass heute Abend nur das herauskommen kann, was immer rauskommt, wenn man die sprechen lässt, die auch sonst das Sagen haben. Westdeutsche, Männer, Professoren.

Sigrid Hoyer war in der Gründungskommission der Leipziger Kommunikations- und Medienwissenschaft, gewählt von den Kolleginnen und Kollegen, und damit sozusagen live dabei, als Karl Friedrich Reimers das Realität werden ließ, was er sich in München zurechtgelegt hatte. Sie hat selbst einen Reformplan ausgearbeitet, sehr früh schon, im Januar 1990, in einer ›Alternativgruppe‹, ohne Professoren, aber mit Uwe Madel und Andreas Rook, die mit mir im Herbst 1988 zum Studium nach Leipzig gekommen waren. Dieses Papier wirkt auch nach 30 Jahren taufrisch. Gleich auf der ersten Seite stehen die Wörter ›Chance‹ und ›Hoffnung‹. Wann, wenn nicht jetzt. »Nach einer neuen, sozial und ökologisch progressiven Lebensweise« suchen, »die weniger extensiv Ressourcen beansprucht und mehr wirklichen Raum für die freie, universelle Entwicklung der Individuen schafft«. Die DDR erneuern (okay, das hat sich inzwischen erledigt) und sich dabei beteiligen an der »globalen Suche nach einer neuen Entwicklungslogik der menschlichen Gesellschaft«.15

Die Diagnose könnte ich immer noch unterschreiben, aber die Euphorie von damals ist weg. Man muss in die Archive gehen und in die Details, um zu verstehen, was verloren gegangen ist in einem Prozess, der von Westdeutschen gestaltet wurde, die sich gerade eingerichtet hatten in ihrer Bundesrepublik und sich nicht viel mehr vorstellen konnten als das, was ihnen ohnehin schon ganz gut gefiel. Ein bisschen Kosmetik vielleicht oder, das hat Karl Friedrich Reimers mit der Leipziger Journalistik gemacht, etwas ausprobieren, was ›drüben‹ nicht ging, weil gewachsene Strukturen wehrhaft sind. Die ›Alternativgruppe‹ um Hoyer, Madel, Rook hat größer gedacht. ›Out of the box‹, würde man heute sagen. Ihr Papier fordert eine »umfassende demokratische Öffentlichkeit« und schlägt vor, damit am besten gleich an der Universität anzufangen. Studenten, die ihr Studium selbst organisieren, dabei nur einen minimalen ›Pflichtanteil‹ haben, von Anfang an gleichberechtigt in die Forschung einbezogen werden und in den journalistischen Übungen »druckfähige Manuskripte« produzieren.16 Bekommen haben wir Bologna. Stunden- und Semesterpläne, Klausuren mit Antwortvorgaben und Kästchen zum Ankreuzen, Hausarbeiten, bei denen die Plagiatssoftware wichtiger ist als die Dozentin. Wenig Selbstbestimmung und viel Schule.

Auch wenn das kurz wegführt von Sigrid Hoyer, Hans Poerschke und dem Leipziger Podium: Christoph Links, in der DDR Journalist und seit Dezember 1989 Verleger, hat gerade einen Schatz ausgegraben – mehr als 30 Gespräche mit ostdeutschen Liedermachern und Kabarettisten, geführt in den frühen 1990ern und jetzt gedruckt. Man sieht dort, dass das, was wir heute diskutieren, schon lange gärt und nur verschüttet war, vielleicht vom Erfolgsrausch, in den sich der Kapitalismus 1989/90 hineingetaumelt hat, vielleicht von dem Stress, den all das den Deutschen beschert hat, auf jeden Fall aber durch das Verstummen der Stimmen, die in diesen frühen Einheitsjahren noch kräftig sind. In den Interviews geht es um den Rechtsruck im Osten und um Neonazis, um Umwelt und Klima, um »die ungeheuer große Ausbeutung« des globalen Südens (bei Gerd Eggers und Udo Magister noch die »dritte Welt«) und um eine Gesellschaft, die auch deshalb auf den Abgrund zurast, weil ihre Logik will, »dass einer etwas für sich auf Kosten der anderen erreicht« (Norbert Bischoff).17 Alles schon da vor 30 Jahren. Alles als Problem erkannt – von Menschen allerdings, die gerade ihre privilegierte Sprecherposition verloren hatten und in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit nie wieder so prominent sein werden wie in der DDR.

Gerhard Gundermann zum Beispiel, Jahrgang 1955, wieder aus der Versenkung geholt von Filmregisseur Andreas Dresen,18 ahnte schon im April 1990, dass seine »Generation ein wenig übersprungen wird«. In der DDR von den Alten ausgebremst und jetzt ohne Chance gegen die Jungen (Unbelasteten) aus dem Osten und die Etablierten aus dem Westen. Noch ein wenig weiter im O-Ton dieses großen Künstlers: »Ich denke, irgendwann werden wir die bürgerliche Demokratie als Volk durchexerziert haben – als Kurzlehrgang. Es muss ja irgendwie weitergehen, und die Fragen, die die Welt heute stellt, sind nicht mehr alleine mit bürgerlicher Demokratie zu lösen«.19

Dresens Film über Gundermann erzählt, welchen Fragen er sich schon bald danach zu stellen hatte. Die Stasi. Überhaupt die DDR. Auch davon sprechen die Interviews in diesem Buch. Vom »Schuldsyndrom« (Stefan Körbel). Vom »Gefühl, sozusagen alles falsch gemacht zu haben. Das wird uns ja auch unentwegt signalisiert, und zwar von den Westdeutschen« (Edgar Harter). Von der Frage, warum man nicht ausgereist sei. Annekathrin Bürger spricht im September 1992 über die »vielen Kollegen«, die genau gewusst hätten, welche Chancen und welchen Film sie im Westen bekommen, wenn sie die DDR verlassen, und die jetzt so tun würden, als seien sie »politisch verfolgt« worden. Sie selbst werde sich deshalb nicht dafür entschuldigen, dass »ich nicht gegangen bin«.20 Diese Debatten werden die Deutschen jahrelang beschäftigen und gleich auch im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig wieder hochkochen.

Auf der Strecke geblieben sind neben den meisten Menschen, die in diesem Christoph-Links-Buch sprechen, Potenzial und viele der »tausend möglichen Antworten« (Gundermann21), die Wissenschaftler und Künstler der Gesellschaft vorschlagen. Man kann das leicht auf die Leipziger Journalistik übertragen, auf Karl-Heinz Röhr und Hans Poerschke, aber auch auf Sigrid Hoyer, die sich der Evaluation gestellt hat (»vielleicht war es Trotz, ich wollte mich nicht ducken«22), die Universität dann kurz verließ, obwohl sie grünes Licht bekam, aber zurückkehrte und noch gut anderthalb Jahrzehnte lehrte, gar nicht so viel anders als vorher in der DDR. Ihr Feld waren die Formen, die mehr sind als das Schwarzbrot, das die Zeitung nährt. Kolumne und Reportage, Essay, Feuilleton. Was sie in ihren Seminaren versucht hat, gleicht der Quadratur des Kreises. In meinen Worten: das kreative Element im Journalismus in eine Systematik pressen und damit so gefügig machen, dass auch der letzte Student nur ein wenig Mühe investieren muss, um als kleiner Kisch zu seinem Lokalblatt zurückzukehren. Viel Konkretes ist bei mir nicht mehr da 30 Jahre nach dem Studium, aber von Sigrid Hoyers Veranstaltungen zur ›Idee‹ habe ich später immer wieder erzählt, angemessen belustigt, damit meine Gesprächspartner mich nicht für verrückt hielten, aber auch mit dem Wissen, wie sehr mir das geholfen hat. Ja, eine ›Idee‹ lässt sich nicht erzwingen. Aber du kannst viel dafür tun, dass der Sprung von der Quantität (Recherche) zur Qualität (Originalität) wahrscheinlicher wird. Lesen vor allem, immer wieder lesen.

In der akademischen Journalistenausbildung gibt es nichts mehr, was an Sigrid Hoyer erinnert. Um eine Theorie oder eine bestimmte Art zu lehren und zu forschen dauerhaft an der Universität zu verankern, braucht man eine Professur. Ohne eine Professur hat man keine Schülerinnen und Schüler, die das in ihre Texte aufnehmen (müssen) und später weitertragen und feiern, was man selbst gedacht hat, und auch keine Ressourcen, die eigenen Gedanken aus dem Seminarraum hinauszutragen. Sigrid Hoyer hatte ihre Dissertation B fertig, als die Mauer fiel.23 Alles zwischen zwei Buchdeckeln, was sie zur ›Idee‹ im Journalismus zu sagen hatte, gestützt auf »Dutzende Jahres- und Diplomarbeiten«, auf unendlich viele Werkstattgespräche in den Redaktionen und auf das, was sich außerhalb der Journalistik zum Thema finden ließ.24 Werner Gilde zum Beispiel, Direktor des Instituts für Schweißtechnik (!) in Halle, ein Patentjäger, der wissenschaftliche Durchbrüche für planbar hielt.25 Hans-Georg und Gerlinde Mehlhorn, zwei Bildungsforscher, die dann Anfang der 1990er-Jahre in Leipzig ein Kreativitätszentrum gegründet haben, das mir und meiner Tochter Juliane viele Nachmittage und Abende versüßt hat. Und vor allem Franz Loeser, Ethik-Professor an der Humboldt-Universität, der Sigrid Hoyer in zwei Punkten bestärkte. Grundlagenforschung muss nicht anwendbar sein. Und: Es ist nicht nur möglich, Kreativität und Schöpfertum auf die Spur zu kommen, sondern mehr als wünschenswert. Eine ›Krönung‹ wissenschaftlicher Arbeit. Sigrid Hoyer hat ihre Dissertation B im August 1989 abgegeben. Das Verfahren wurde am 8. November eröffnet. Am nächsten Tag war nichts mehr wie vorher.

 

Sigrid Hoyer hat den Brief noch, den Karl-Heinz Röhr im Januar 1990 an das Dekanat schickte, um eine Kollegin zu retten, die auch sein Schützling war. »Er bat darum, mir eine Nacharbeit zu ermöglichen, machte dafür auch Vorschläge und bot mir Rat und Hilfe an. Er versuchte damit, zumindest nicht hinzunehmen, was eigentlich längst unabänderlich schien«, schon jetzt, fast ein Jahr vor dem Abwicklungsbeschluss. Sigrid Hoyer konnte ihre Arbeit nicht umschreiben. Sie wollte das auch nicht. Was sie sich bis heute wünscht: dass man ihr erlaubt hätte, die Arbeit zu verteidigen. Lasst uns doch schauen, ob das einen ›wissenschaftlichen Wert‹ hat, ganz unabhängig von allen politischen Systemen. »In der DDR haben wir Meinungspluralismus eingefordert«, sagt sie heute. »Gilt das nicht auch für die Wissenschaft, habe ich mich damals gefragt«. Günther Wartenberg, ein Theologe, drei Jahre jünger als Sigrid Hoyer, wie sie in den 1960ern in Leipzig Student und ab 1991 Prorektor für Forschung und Lehre, hat da nur mit den Schultern gezuckt. An dieser Universität, eine solche Arbeit?

Man kann es sich leicht machen und sagen: So war das eben damals. Wenn Melanie Malczok, die heute Abend als Moderatorin zwischen Michael Haller und Hans Poerschke, Heike Schüler und Horst Pöttker sitzt, nachher zum ersten Mal ins Publikum schaut, wird der Finger von Reinhard Bohse nach oben schnellen, nicht viel anders als im ersten Nachwendejahrzehnt, in dem Bohse Pressesprecher der Stadt war und allgegenwärtig, wenn es um die Vergangenheit ging. »Eine Sauerei«, wird Bohse heute sagen. Die Stasi. Dieses brutale System, dass die Massen »hinweggefegt« haben. Die Leute, »die wirklich gelitten haben, die in den Knast gekommen sind, denen man die Freiheit geraubt hat. Daran waren die Propagandisten beteiligt, die hier in Leipzig gelernt haben«. Reinhard Bohse weiß den hegemonialen DDR-Diskurs hinter sich. Er war 1989 dabei, als in Leipzig das Neue Forum gegründet wurde, und gehört seitdem zu den Guten. Mein Herz wird wie immer schneller schlagen, wenn ich diese Mauer aus Moral und Selbstgerechtigkeit sehe, an der meine Biografie zerschellt. In den nächsten Tagen, wieder mit Normalpuls, werde ich allen zustimmen, die Bohse loben – vor allem denen, die zu jung sind, um schon erlebt zu haben, wie Ostdeutsche um die Vergangenheit kämpfen. Ja, ohne diesen Beitrag wäre diese Veranstaltung nicht rund gewesen. Ohne diesen Beitrag kann man nicht verstehen, warum Sigrid Hoyer mit ihrer Dissertation B nicht einmal durchfallen durfte.

Über die Evaluierung mag Sigrid Hoyer nicht wirklich sprechen. Zu viele schlechte Erinnerungen, obwohl das für sie gut ausgegangen ist, auf den ersten Blick zumindest. Die Wunden sieht man nicht. Kolleginnen und Kollegen, die hinter dem Rücken tuscheln. Die Gründungskommission, na klar. Da weiß doch jeder, warum sie bleiben darf. Die Ungewissheit, die schon der Papierberg mit sich bringt, der jetzt beweisen soll, dass man überhaupt für den Job geeignet ist, für den man seit zweieinhalb Jahrzehnten bezahlt wird. Publikationen, Mitgliedschaften und Funktionen, Auszeichnungen, Stasi-Erklärung. Auf Karl Friedrich Reimers, den Gründungsdekan aus München, lässt Sigrid Hoyer nicht viel kommen, wie auch all die anderen nicht, die ich nach ihm gefragt habe. Ehrlich, verständnisvoll, zugewandt. Und doch. »Es bleibt eine Geste der Sieger, wenn sich der andere deutsche Staat anmaßt, über uns und unser Leben zu urteilen. Sie entschieden nach ihren Regeln, wer von uns integrierbar ist«. Sigrid Hoyer wurde gefragt, wofür sie die Leibniz-Medaille bekommen hat, keine ganz kleine Ehrung, vergeben von der Akademie der Wissenschaften in Berlin. In der Liste der Preisträger steht Hans Joachim Meyer (2007), der Abwicklungs-Minister, neben Ruth Bahls (1975), meiner Englischlehrerin in Göhren auf Rügen, ›Frollein Bahls‹, eine Kapitänstochter, die wie Sigrid Hoyer ihre Reifeprüfung auf der Hansaschule in Stralsund bestanden hat (1929), dann Europa bereiste, was uns DDR-Kindern Ehrfurcht einflößte, und noch mit Mitte 70 vor der Klasse stand, obwohl sie nicht viel mehr gesehen haben dürfte als die erste Reihe. Es gab sonst an der Schule niemanden, der Englisch unterrichten konnte. Meine Eltern gehen jeden Tag an den Museen vorbei, die Ruth Bahls, Ehrenbürgerin von Göhren, dem Ort hinterlassen hat.26 Sigrid Hoyer: »Sollte ich mich rechtfertigen, weil ich die Medaille für wissenschaftliche Arbeiten bekommen habe, die nun auf den Prüfstand der Geschichte geraten würden?«

Es ist nicht schwer, von hier in die 1990er-Jahre zu spulen, in ein Institut, das von Professoren regiert wurde, die auf der richtigen Seite der Geschichte geboren wurden. Michael Haller wird nachher auf dem Podium ausdrücklich die »Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter« loben, »die wir aus der DDR-Journalistik haben behalten können«, aber zugleich das abwerten, was zum Beispiel Sigrid Hoyer als Wissenschaftlerin geleistet hat. Beide sind längst im Ruhestand, aber so ein Mikrofon verführt dazu, der Welt zu sagen, wie sehr man Recht hatte. Der Journalist »in einem demokratischen Rechtsstaat«: Das sei nun mal ganz anders. »Es hat keinen Sinn, museale Arbeit zu machen«. Haller verwendet diese Formulierung gleich zweimal, damit jeder weiß, wo die DDR-Journalistik hingehört. Ins Museum, vielleicht zu Ruth Bahls nach Göhren auf Rügen, wo man sich anschauen kann, wie die Fischer früher gelebt haben, ohne auf den Gedanken zu kommen, es ihnen heute gleichtun zu wollen. Für alle, die das nicht verstehen wollen, wird Michael Haller erzählen, welchen Journalismus er damals nach Leipzig bringen wollte. »Kritik und Kontrolle. Eine aufgeklärte, ausgeglichene, ausgewogene Berichterstattung. All das, was für uns seit den 1960er-Jahren selbstverständlich geworden war« – »von uns, von meiner Generation über Jahrzehnte erstritten« und jetzt in Geschenkverpackung mit dabei für die Brüder und Schwestern im Osten.

Die Journalistik ist ein kleines Beispiel und vermutlich sogar ein schlechtes, weil die »Institution, die dafür da war, Propaganda zu erzeugen«, immer noch Menschen wie Reinhard Bohse aufregt, die neben der Gnade des richtigen Lebenslaufs viele gute Argumente haben.27 Man kann aber auch an diesem Beispiel die Konstellation studieren, die die Ostdeutschen degradiert hat und damit den Keim des Zweifels an dem säte, was die Westdeutschen Demokratie nannten. Ich denke dabei natürlich an Hans Poerschke und Karl-Heinz Röhr, die mit einer Geldspritze sediert werden sollten, oder an Wulf Skaun, der vom »Hoffnungsträger« der DDR-Journalistik zum Lokalreporter der Leipziger Volkszeitung in Wurzen wurde28 und heute schon vor dem Zeitgeschichtlichen Forum stand, bevor die Tür aufgeschlossen worden ist, vor allem aber denke ich an Menschen wie Sigrid Hoyer, die da weitermachen durften, wo sie vorher gearbeitet hatten, hier sogar in der akademischen Ausbildung, sich aber trotzdem allenfalls geduldet fühlen konnten. Mit ihrer Dissertation B war Sigrid Hoyer auf dem Weg zur Hochschullehrerin. Das heißt: Seminare, Vorlesungen, Prüfungsthemen anbieten können, ohne jemanden fragen zu müssen. Für ihren neuen Chef kam sie direkt aus dem Museum. Woher soll man das Selbstbewusstsein nehmen, das jeder Widerspruch braucht, wenn die eigenen Konzeptpapiere unbesehen ins Archiv geschickt werden und man selbst in ein Prüfungsverfahren mit ungewissem Ausgang?

Auf dem Podium wird nachher das Wort ›demütigend‹ fallen, ausgesprochen von Heike Schüler, die ein Buch über Erich John geschrieben hat, den Vater der Weltzeituhr auf dem Berliner Alexanderplatz, 1973 Designprofessor an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee und 1982 Gastprofessor in Columbus, Ohio.29 Heike Schüler sagt, sie habe viel mit Erich John gesprochen, auch über die Evaluierung natürlich.

»Deshalb weiß ich, wie schmerzhaft es ist, wenn Professoren, die über viele Jahre Studenten unterrichtet haben, sich einer Prüfung stellen müssen. Wenn angezweifelt wird, dass sie die Lehrbefähigung haben. Das ist schon krass. Meine ehemaligen Dozenten tun mir wirklich leid«.

WIE MAN IN DER DDR JOURNALISTIK-DOZENTIN WURDE

Sigrid Hoyer kenne ich inzwischen ein bisschen und weiß, dass sie sich nie auf so ein Podium setzen würde. Selbst in der Publikumsrolle ist Sigrid Hoyer heute »aufgewühlt«, wie sie das nennt, weil wir beide gerade in ihrem Gedächtnis gegraben haben, in einem langen Gespräch, das nun noch autorisiert werden muss und dabei vieles zurückgeholt hat und noch zurückholen wird, was verdrängt war, vergessen war. »Herr Meyen«, sagt sie, »ich bin jetzt doch dankbar. Ich werde endlich damit abschließen können«. Sie hat sich lange dagegen gesträubt, dieses Interview zu führen. Ich werde noch bis Anfang Februar auf das Manuskript warten und es vielleicht überhaupt nur bekommen, weil uns die Herkunft verbindet. Wir sind beide an der Ostsee aufgewachsen, haben bei der gleichen Zeitung angefangen und den Draht nach Norden nie gekappt. Das darf man nicht unterschätzen in einer Stadt wie Leipzig, in der sich die Einheimischen zuerst an der Sprache erkennen.

Sigrid Hoyer ist fünf Jahre jünger als Karl-Heinz Röhr. Geboren 1940 in Demmin, Abitur an der Hansaschule in Stralsund, in der Stadt, kein Scherz, als »Rotes Kloster verrufen«.30 Sie war gut im Unterricht und mochte die neuen Lehrer, die aus Potsdam direkt von der Hochschule kamen, weil die alten »scharenweise in den Westen« gegangen waren und dem NWDR Stoff für Berichte geliefert hatten. In Deutsch gab es jetzt Brecht. 1957 saß Sigrid in einem der ersten Freundschaftszüge in die Sowjetunion. Das schreibt sich heute so leicht hin, wo die Teenager schon über alle Weltmeere geflogen sind. In der DDR gab es damals Brot und Fleisch auf Marken, genau wie Kartoffeln und Kohlen. Das Leben eines Mädchens wie Sigrid spielte zwischen Barth, wo die Großeltern wohnten, und Stralsund. Auslandsreisen waren im Drehbuch nicht vorgesehen. Als kleines Mädchen war sie mit der Mutter einmal in Bydgoszcz gewesen, wo der Vater mit seiner Einheit stationiert war, und einmal in Bad Neuenahr, wo er dann im Lazarett lag. Als sie 1957 aus der Sowjetunion zurückkam und in Velgast ausstieg, sagt Sigrid Hoyer heute, »dachte ich, ich komme vom Mond«.

Daheim auf Erden hörte der Opa, ein Schumacher, den Rias. Er mochte die DDR nicht, aber seine kleine Enkelin. Zur Einschulung hat er ihr einen Ranzen gemacht, und sie war die einzige, die Lederschuhe trug. Später rief er Sigrid, »wenn im Radio eine Reportage aus dem Ausland lief«. Sowas musst du auch mal machen, Kind. In Stralsund gab es kein Funkhaus. Also Reporterin für die Kreisredaktion der Ostsee-Zeitung. Sigrid Hoyer weiß noch mehr als 60 Jahre später, dass der Lokalredakteur Dieter Lander hieß. »Ihm verdanke ich viele gute Ratschläge«. Sie war dabei, wenn sich die Volkskorrespondenten trafen, und hat einmal sogar über die Ostseerundfahrt berichten dürfen. Egon Adler, Erich Hagen, Täve Schur. Die Helden der neuen Zeit fuhren Fahrrad.

Der Test für das Studium in Leipzig war in Berlin, im Haus der Presse an der Friedrichstraße. Auch hier gibt es einen Erinnerungsfetzen. Bruno Apitz, Nackt unter Wölfen. Das Buch ist 1958 erschienen, ein Jahr vor der Abiturprüfung von Sigrid Hoyer, die noch Sigrid Mahlow hieß. Die Geschichte vom Kleinkind, das im KZ Buchenwald überlebt, weil Kommunisten ihr Leben riskieren und es im Zweifel auch opfern, gehört genauso zur DDR wie die Ritter der holprigen Landstraßen um Täve Schur. Vielleicht hat sich Sigrid Mahlow selbst in diesem Lagerkind gesehen. Sie ist in diesem Alter in Demmin oft »halb angezogen ins Bett« gegangen, »an der Tür griffbereit ein kleiner Koffer mit dem Wichtigsten«. Wenn die Sirene losheulte, ging es mit der Mutter in den Luftschutzkeller, direkt »neben den Benzintanks einer Autowerkstatt«. Bei der Oma in Barth gab es Ruhe und »Butterschnitten mit selbstgemachter Blaubeermarmelade«, aber für diesen Genuss waren 70 Kilometer Fußmarsch nötig, über Grimmen und Stralsund, mit Übernachtungen in Scheunen oder bei Verwandten. Es war nicht schwer, Nackt unter Wölfen zu loben. »Ich wollte unbedingt Journalistin werden und habe das offensichtlich auch vermittelt«.

Das Aufnahmegespräch in Berlin war das eine, das Braunkohlejahr in Laubusch bei Hoyerswerda das andere. Eine Wohnung zu dritt, dort, wo wenig später Brigitte Reimann aufschlagen und der Ankunfts-Generation ein Denkmal setzen würde.31 Drei Pressemädels unter Arbeitern. Sigrid Mahlow kam in eine Schlosserbrigade und hat Zahnräder befeilt. Sie träumte davon, auf einem Bagger zu sitzen, aber der Körper war vernünftiger als der Kopf. Erst die Hände, dann die Wirbelsäule. Der Betriebsarzt schickte sie zurück nach Stralsund. Damit Sigrid Mahlow mit denen studieren konnte, die sie in der Braunkohle kennengelernt hatte, ging sie für ein Jahr zur Volksstimme nach Karl-Marx-Stadt und arbeitete dort auch kurz in Flöha, wo meine Frau ein Vierteljahrhundert später erst Jugendkorrespondentin war und dann Volontärin. »Ein schönes Jahr«, sagt Sigrid Hoyer heute. »Keine bedrückenden Vorgaben«, weder bei der Recherche noch beim Schreiben.

 

Die beiden Mitbewohnerinnen aus Hoyerswerda sind dann doch nicht in Leipzig erschienen. Der Weg von der Schulbank an die Universität war im Wortsinn weit. Die Prüfung in Berlin, die Kohle, das Vorpraktikum. Die Redaktionen waren froh, wenn jemand das Handwerk beherrschte, und lockten mit festen Stellen. Der Westen lockte sowieso. Und die Genossen machten es niemandem leicht. Bevor das Studium im Herbst 1961 losging, musste Sigrid Mahlow zum Kartoffeleinsatz, nach Lebien, ein paar Kilometer südöstlich von Wittenberg. Die Junge Welt, Zeitung der Freien Deutschen Jugend, hatte gerade die Aktion »Blitz kontra NATO-Sender« gestartet. Losung: »Der Bonner Strauß darf in kein Haus! Alle sehen und hören die Sender des Sozialismus!«32 Der Spuk war zwar schon nach vier Tagen wieder vorbei, weil sich bei den Verantwortlichen in Berlin die Beschwerden stapelten über FDJ-Brigaden, die Antennen abrissen und Wohnungstüren beschmierten, an der Fakultät für Journalistik in Leipzig aber kam das offenbar nicht sofort an. Die Studenten, die gerade in Lebien Kartoffeln sammelten, sollten mit den Bauern diskutieren. Klassenbewusstsein zeigen, dem Klassenfeind offen ins Auge blicken und ihm klarmachen, dass es mit dem Westfernsehen vorbei ist. Dieser Klassenfeind war allerdings gar nicht so feindlich. Er ließ die Studenten bei seiner Familie wohnen und hat sie »vorzüglich versorgt«, nicht unwichtig in einem Land, in dem es immer noch Kartoffelkarten gab und Butter und Fleisch ad hoc rationiert werden konnten.

»Damals habe ich angefangen, mich zu fragen, ob ich das eigentlich will. So einfach bei Leuten klopfen, nicht einen Anlass abwarten und dann das Gespräch suchen, sondern agitieren. Damit hatte ich Probleme. Ich merkte, das kann ich nicht. Dazu kam die Sache mit der Partei.« Eigentlich war das keine ›Sache‹ für jemanden wie Sigrid Mahlow, die mit dem Freundschaftszug in die Sowjetunion fuhr, schon als Schülerin für die Parteizeitung schrieb und ohne zu zögern ihre Gesundheit einsetzte, wenn die Funktionäre selbst zierliche Mädchen in die Produktion schickten. Sie hatte schon in der elften Klasse einen Antrag gestellt, zum Geburtstag von Friedrich Engels. Warum nicht. Das Nein kam von ganz oben, von Karl Mewis, Bezirksparteichef in Rostock. Liebe junge Genossin in spe, verstehe bitte, dass wir im Moment nur Arbeiterkinder aufnehmen können. Der Vater dieser jungen Genossin verdiente sein Geld zwar als Betonfacharbeiter, aber das zählte nicht, weil in der Kartei »kaufmännischer Angestellter« stand, sein erster Beruf. Das war damals schon albern, hatte aber sehr konkrete Folgen. Weil sie kein Arbeiterkind war (zumindest nicht nach der offiziellen Definition), bekam Sigrid Mahlow zunächst weniger Stipendium und war finanziell erst gerettet, als ihr ein Leistungsstipendium bewilligt wurde.

Zurück nach Lebien, zurück in den großen Saal des Dorfgasthofs, wo sich die Erntehelfer von der Universität zur SED bekennen sollen. Sofort. Sigrid Hoyer erinnert sich an Thomas Nikolaou, Exilkommunist aus Griechenland und Assistent an der Fakultät für Journalistik, nur drei Jahre älter als sie, und sagt, dass dort »viel Vertrauen zerstört worden« sei. Ihre Erklärung, unterzeichnet am 4. Oktober 1961 mit einem roten Kugelschreiber, hat sie immer noch.

»Aussprachen und Auseinandersetzungen in unserem Kollektiv haben mir geholfen, die gegenwärtige Situation richtig zu verstehen und die entsprechenden Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Deshalb möchte ich mich mit Hilfe eines guten Genossen im Verlauf des ersten Studienjahres auf den Eintritt in die Partei vorbereiten«.

Das Ganze hat sich dann doch ein bisschen gezogen, bis 1965, bis zur letzten Versammlung vor dem Diplom. Dazwischen lagen gute Zeiten und schlechte Zeiten. In unserem Interview nimmt das mehr Platz ein, was genervt hat. Das Zeitungsstudium unter Aufsicht, vor allem nach Parteitagen oder Plenartagungen der SED-Spitze. Die Dokumente durcharbeiten, das Wichtigste unterstreichen, diskutieren. Eine FDJ-Versammlung, noch im Herbst 1961, bei der eine Studentin zur Rede gestellt wurde, die sich ihre Pfennigabsätze bei der Großmutter in Westberlin hatte reparieren lassen. »Sie hatte Blinddarmbeschwerden und krümmte sich vor Schmerzen«. Ein Seminar im Wilhelm-Wolf-Haus in der Tieckstraße, auch im ersten Studienjahr, alle um einen langen Tisch, »jeder konnte jedem in die Augen sehen, eigentlich wunderbar für Diskussionen«. Der Seminarleiter zielte aber auf ein Bekenntnis: Warum wollt ihr Journalisten werden? »Ich glaube, wir haben alle Ähnliches geantwortet. Land und Leute kennenlernen, Interviews führen, beobachten, schreiben. Er war fassungslos, weil niemand gesagt hat, er wolle Parteijournalist werden«.

Die Studentin Sigrid Mahlow ist einmal auch selbst in die Schusslinie der Erzieher geraten, sehr öffentlich, im Forum, einem Wochenblatt der FDJ, »Zeitung der Studenten und der jungen Intelligenz«. Der Artikel heißt Experiment mit Sigrid, eine ganze Seite am 22. März 1962. Das ›Experiment‹: Man hat Sigrid Mahlow in die FDJ-Leitung gewählt und sie, so schreibt es Frank Wimmer, der Vorsitzende, auf diese Weise zum »Vorbild für die gesamte Gruppe« gemacht. Fast noch erhellender ist das, was dieser kleine Funktionär über die Atmosphäre an der Fakultät für Journalistik berichtet. »Zuspätkommen« (vor allem bei den beiden »wöchentlichen Argumentationen«, registriert über eine Strichliste), »Stipendienabzug« für zwei notorische »Bummelanten«, »ewige Schweiger« wie Sigrid Mahlow und Hans-Dieter Hoyer, ihr späterer Ehemann, »Betrug in den Seminaren« (Russischnacherzählungen einfach vom Blatt abgelesen) und, man höre und staune, »ein Freund«, der »sein FDJ-Dokument« verloren hat.33 Es war selbst dann nicht leicht, bis zum Diplom durchzuhalten, wenn man die DDR mochte und der Westen keine Option war.

Sigrid Hoyer ist sogar an der Fakultät in Leipzig geblieben, als das Studium vorbei war, eine Art persönliches Experiment, das sie heute auch mit der Frauenquote erklärt und mit einem Praktikum in der Wirtschaftsredaktion bei der Ostsee-Zeitung in Rostock, wo sie unter einem »dogmatischen Abteilungsleiter« litt und unter den »vielen Vorgaben«. »Dort keimte vielleicht erstmals der Gedanke, es möge mir erspart bleiben, nach dem Studium in so eine Redaktion delegiert zu werden«. So ähnlich wird es auch mir viele Jahre später gehen. Vom ersten Studientag an haben wir überlegt, was die Redakteure denken mögen, die 1990 verkünden werden, dass das Wohnungsbauprogramm erfüllt ist. Jedem eine Wohnung, warm, trocken, sicher: So hatte es der VIII. Parteitag der SED 1971 versprochen. Im Herbst 1988 musste man blind durch Leipzig laufen, um daran noch zu glauben. Warum also nicht länger an der Universität bleiben, zumal die Medienblase im ganzen Land von Glasnost und Perestroika blubberte und schwer vorstellbar schien, dass all die aufgeregten Geister um mich herum alles beim Alten lassen würden, wenn sie erst ausgeschwärmt waren in die Schreibstuben von Wolgast bis Suhl.