Das Erbe sind wir

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WER WARUM DDR-GESCHICHTE SCHREIBT

Ich schreibe dieses Buch, weil es sonst niemand tut. Fast bin ich geneigt zu sagen: niemand tun kann. Wer Geschichte schreiben darf, bestimmt der Staat. Es braucht dafür eine Position im Wissenschaftsbetrieb (an einer Universität oder in einem Forschungsinstitut, in einem Museum oder in einer Behörde, die die Akten hütet). Natürlich kann sich jeder daheim an den Computer setzen und vorher vielleicht sogar in die Archive fahren, wenn sein Partner das denn toleriert und das Konto ein Auskommen sichert. Ohne eine Position im akademischen Feld aber bleibt das Selbstbefriedigung. Mehr noch: Es braucht eine Position am Machtpol dieses Feldes, um gehört (rezensiert, zitiert) zu werden. In der Wissenschaft ist Reputation alles und jedes Urteil über die Qualität von Forschung in diesem Licht zu lesen. Der Matthäus-Effekt6: »Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe. Wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat«.

Den Bürgerinnen und Bürgern der DDR ist ihre Geschichte genommen worden – zumindest all denen, die sich nicht wiederfinden in einem Narrativ, das vom Diskurs ›individuelle Freiheit‹ bestimmt wird und so ganz automatisch alles abwertet, was diese Freiheit einschränkt.7 Ein Staat, der sich offen einmischt in die Erziehung der Kinder, der den Feierabend in den Betrieben mitgestalten will und das Leben in Wohngemeinschaften und der zum Beispiel auch entscheidet, wie viele Menschen Journalistik studieren dürfen, und als Gegenleistung für den Studienplatz erwartet, dass jeder Absolvent die ersten drei Jahre nach dem Abschluss dort arbeitet, wo man ihn hinstellt.

Für meine Freundin und mich war das eine sehr konkrete Drohkulisse. Was tun, wenn der eine zurück an die Ostsee geschickt wird und der andere nach Karl-Marx-Stadt oder gar nach Hainichen? Wo würde unsere Tochter bleiben, die gerade ihren ersten Geburtstag gefeiert hatte, als wir nach Leipzig kamen? Wir haben uns deshalb im Frühsommer 1989 einen Termin beim Standesamt besorgt (für den 1. September 1990, kurz vor Beginn des dritten Studienjahres, in dem die Kommission entscheiden sollte und das dann hoffentlich zum Wohl des frisch vermählten Paares tun würde), und ich habe schon im zweiten Semester begonnen, auf eine Promotion hinzuarbeiten, um vielleicht als Forschungsstudent in Leipzig bleiben zu können und damit in der Nähe aller Lokalredaktionen der Freien Presse. Beides hat uns dann tatsächlich geholfen, allerdings ganz anders als gedacht. Die Wohnung, die wir im Herbst 1989 in Flöha bekommen hatten, stand im Frühjahr 1990 plötzlich unter Privilegienverdacht. Zweieinhalb Zimmer in einem Plattenbau, der inzwischen abgerissen worden ist und in dem man damals den Nachbarn beim Pullern lauschen konnte. Keine große Sache. Schwiegervater war aber im Ehrenamt Vorsitzender der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft ›1. Mai‹ und wie alle Funktionäre plötzlich suspekt. Sollte er nicht doch der eigenen Tochter an allen Regeln vorbei etwas zugeschanzt haben, was nur Verheirateten zustand? Ein Glück, dass wir den Trausaal im Schloss Augustusburg schon lange reserviert hatten. Und nochmal Glück, weil aus der Dissertation eine Laufbahn in der Wissenschaft wurde und damit ein Lebensunterhalt für die Familie.

Zurück zum Thema: Strukturen wie das System aus Delegierung und Absolventenlenkung, das die SED im Mediensystem der DDR etabliert hatte, schränken das eigene Handeln ein. Immer und überall.8 Ich konnte nicht einfach an die Universität gehen und mich für Journalistik einschreiben, und mir wäre ganz sicher nicht in den Sinn gekommen, nach Abgabe der Diplomarbeit mal eben beim Fernsehen anzurufen und mich dort als Nachfolger von Heinz Florian Oertel zu bewerben. Genauso wenig komme ich heute aber auf die Idee, das zu verurteilen, was damals war. Ohne Strukturen kann man nicht handeln. Ich wusste, wie man in der DDR Journalist wird. Am besten schon in der Schule ein paar Beiträge schreiben für die örtliche Presse, vielleicht einen der Lehrgänge für Volkskorrespondenten besuchen, sich womöglich für einen längeren Wehrdienst verpflichten, wenn man ein Mann war (als Loyalitätsbeweis), auf jeden Fall ein Volontariat durchlaufen, von dort hoffentlich zur Aufnahmeprüfung für das Studium delegiert werden und schließlich mit einem Diplom in der Tasche die Welt verbessern. Warum nicht. Wie bei jeder Struktur war auch der Weg in den DDR-Journalismus längst nicht immer so geradlinig, wie ich ihn gerade skizziert habe. Es ging zum Beispiel auch ohne längeren Wehrdienst, und wenn Mama und Papa Beziehungen hatten, dann hat die Zeitung die Tochter aus gutem Hause auch ohne Textproben und Test genommen. Dazu später mehr.

Worauf es mir an dieser Stelle ankommt: Solche Geschichten aus dem Alltag werden nicht erzählt – zumindest nicht in den Leitmedien, die das DDR-Bild bestimmen, und auch nicht in den Schulbüchern oder in den Museen, die der Staat finanziert. Es gibt dort keine DDR ohne Stacheldraht, ohne bärbeißige Funktionäre und ohne Spitzel, obwohl der Geheimdienst längst nicht omnipräsent und den allermeisten Menschen vor dem Herbst 1989 eigentlich egal war.9 Was seitdem in der Öffentlichkeit über die DDR erzählt wird, dient vor allem dazu, das politische System der Bundesrepublik zu legitimieren. Dieser Staat lässt sich das etwas kosten und fährt dabei Geschütze auf, vor denen jeder Einzelforscher nur kapitulieren kann.

Unser ›Wissen‹ über die DDR ist Ergebnis einer Geschichtspolitik, bei der es auch um den Zugang zu Fördertöpfen und Steuergeldern ging und geht, um Eitelkeiten, um persönliche Macht. »Delegitimierung der DDR«: Das sei der »Sonderauftrag« für Joachim Gauck gewesen, schreibt Daniela Dahn, einst Journalistik-Studentin in Leipzig, in ihrer »Abrechnung« mit der »Einheit«. Dieser »Sonderauftrag« erlaubte Gauck, eine Behörde aufzubauen, die zeitweise 3.000 (!) Mitarbeiter hatte und jedes Jahr immer noch rund 100 Millionen Euro kostet.10 Das ist mehr Geld, als die Universität Bamberg in ihrem Etat hat, und erklärt, wie das entstehen konnte, was Wolfgang Wippermann »Diktatur des Verdachts« nennt.11 Folgt man diesem westdeutschen Historiker, Jahrgang 1945, dann wurde die ›Dämonisierung‹ des anderen deutschen Staates nicht nur von den Hütern der Stasiunterlagen vorangetrieben, sondern zum Beispiel auch vom Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Klaus Schroeder oder von Hubertus Knabe, der 1992 eine Stelle bei der Gauck-Behörde bekam, dann von 2000 bis 2018 Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen war und bei Wippermann als »Großinquisitor« firmiert.12

Um nicht falsch verstanden zu werden: Die DDR-Forschung ist weit mehr als Gauck, Schroeder, Knabe. Das war schon vor 1989 so und ist danach noch viel besser geworden, weil es jetzt Akten gab, meist keine Sperrfristen und jede Menge Neugier selbst bei denen, die unter dem Dach von Gauck-Birthler-Jahn arbeiten durften. Um nur ein Beispiel herauszugreifen, das ich besonders gut kenne: Es gibt zum Thema Medien ein Buch von Rolf Geserick, geschrieben in den 1980ern nur mit dem Material, das damals im Westen öffentlich zugänglich war – und trotzdem erstaunlich nah dran an dem, was Anke Fiedler, geboren 1981 in Stuttgart, ein Vierteljahrhundert später aus den Tiefen des Bundesarchivs zutage fördern konnte.13 Nur: Geschichtspolitik wird nicht mit Dissertationen gemacht, sondern von Institutionen, die Medienstars an ihrer Spitze haben und schon wegen ihrer Ressourcen in der Lage sind, die Klaviatur einer medialisierten Gesellschaft zu bedienen.

Geschichtspolitik wird auch im Parlament gemacht, und das nicht nur über den Haushalt. Der Bundestag hat 1992 und 1995 zwei Enquete-Kommissionen eingesetzt, beide mit dem Schlagwort ›SED-Diktatur‹ im Titel (erst zur »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen« und dann zur »Überwindung der Folgen im Prozess der deutschen Einheit«). Vorsitzender war jeweils Rainer Eppelmann, einer der Köpfe der Opposition in der DDR und dann für die CDU im Parlament. Die Hinterlassenschaft der beiden Kommissionen ist online. 32 Bücher, im Volltext durchsuchbar. Viele Videos, Bilder, schier endlose Experten- und Zeitzeugenlisten. Wie gesagt: Selbst mit einem Lehrstuhl für Zeitgeschichte hat man jeden Kampf um Definitionsmacht verloren, bevor er überhaupt beginnen kann. Die Politik hat das erledigt, was sonst Sache der Geschichtswissenschaft ist,14 und sie hat auch die normale Reihenfolge einfach umgedreht. Erst das Ergebnis, dann die Forschung. SED-Diktatur. Punkt. Wie wichtig das für die damals gerade Herrschenden war, zeigt ein Blick auf die vier Enquete-Kommissionen, die der Bundestag seit 2010 eingesetzt hat. Dort ging bzw. geht es um Nachhaltigkeit, um künstliche Intelligenz sowie (gleich zweimal) um die Digitalisierung und damit, wenn man so will, um die Menschheitsfragen der Gegenwart.

Die akademische Journalistenausbildung kommt in dem Enquete-Konvolut aus den 1990ern nicht wirklich gut weg. Andreas G. Graf, ein Historiker aus der DDR, der 1990 im Alter von 38 Jahren an der Humboldt-Universität zum Thema Anarchismus promovierte, beschreibt dort die Anforderungen an Volontäre beim Fernsehen als »ideologisches Vorreinigungsset unter direkter Aufsicht«. Im Klartext: Journalist wurde man in der DDR nur, wenn man parierte und, so suggeriert es der Text in den nächsten Zeilen, wenn man bereit war, jederzeit in das Ministerium für Staatssicherheit zu wechseln, falls man nicht ohnehin schon von dort bezahlt wurde. »Es gab in der DDR mithin eine Art umgekehrtes Berufsverbot, nämlich ein Berufsgebot. Die Jugend wurde nach Wunschbildern teilweise sehr alter Menschen vorsortiert, und zwar von Menschen, die ohne Lernprozesse immer älter wurden«.15

Durch die Brille eines Anarchisten, der in der DDR erst spät zu akademischen Weihen kam und sich zumindest wissenschaftlich sonst kaum mit Medien und Öffentlichkeit beschäftigt hat, mag das so ausgesehen haben. Andreas G. Graf ist tot. Ich mag ihm nichts Schlechtes hinterherrufen. Gunter Holzweißig, Autor des zweiten Enquete-Textes zum Thema, wusste schon immer, was vom Journalismus in der DDR zu halten ist. »Ein uniformer, grobschlächtig-undifferenzierter Mechanismus«.16 Bei anderen müsste man dazuschreiben, dass das Zitat von 2011 ist. Nicht so bei Gunter Holzweißig. Er hat nach 1990 einfach das gleiche geschrieben wie vorher am Gesamtdeutschen Institut, damals noch ohne Akten und ohne Zeitzeugen.17 Der DDR-Deuter Holzweißig saß nach dem Verlust seiner Lebensaufgabe zwar im Bundesarchiv (direkt an der Quelle!), aber wozu lange suchen, wenn man sich selbst zitieren kann und einem die Geschichte Recht gegeben hatte? Die Sektion Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig hat in Holzweißigs Enquete-Bericht auf der ganzen Linie versagt. »Rotlichtbestrahlung« und »fachspezifische Vorbereitung« (was immer sich dahinter verbergen mag). That’s it. Jedenfalls kein Beitrag, der irgendwelchen höheren Ansprüchen an den Journalismus dienlich gewesen wäre. Selbst die »Medienhistoriker an der Sektion Journalistik«, die mich früh mit der Aussicht auf einen Doktortitel geködert hatten, werden von Holzweißig mit einem Federstrich erledigt (»Erfüllungsgehilfen der Partei«).18

 

Wahrscheinlich muss ich gar nicht mehr ausformulieren, worauf diese Argumentation hinausläuft. Wie Geschichte geschrieben wird, hängt davon ab, wer sie schreibt. DDR-Geschichte wird von Westdeutschen geschrieben, die oft eine besondere Beziehung zum Gegenstand haben (Gunter Holzweißig etwa wurde 1939 in Aue geboren), von Ostdeutschen, die von der SED behindert wurden oder wenigstens nicht so in das alte System verstrickt waren, dass sie von der gesamtdeutschen Geschichtsmaschine ganz zwangsläufig ausgespuckt werden mussten, sowie von Nachgeborenen und Zugereisten. Die DDR-Eliten fehlen in dieser Aufzählung – und auch Menschen wie ich, die heute in der DDR Spitzenpositionen haben würden, wenn dieser Staat nicht implodiert wäre. Wahrscheinlich wäre ich kein zweiter Oertel geworden. Ich weiß inzwischen, dass damals viele Jungs so sein wollten wie dieser Reporter, der Goldmedaillen zu Gänsehauterlebnissen machen konnte und dabei jedes Parteichinesisch vermied.19 Aber Chefredakteur, vielleicht sogar in Berlin, oder Journalistik-Professor in Leipzig: Das hätte ich mir schon zugetraut.

Ich erzähle in diesem Buch, was aus denen geworden ist, die mit mir geträumt haben von einer Laufbahn in den DDR-Medien und dann irgendwann aufgewacht sind in einem kommerziellen Zeitungsverlag oder in einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt. Ich erzähle, wie das entstanden ist, was wir damals in Leipzig lernen sollten, was davon bis heute trägt und was aus unseren Dozenten geworden ist. Ich erzähle das oft nicht selbst, sondern lasse die sprechen, die sonst nicht zu Wort kommen jenseits der Runden von Gleichgesinnten, die immer kleiner werden.

Ich will hier nicht zu viel vorwegnehmen, aber wenigstens zwei Dinge andeuten, die ich beim Zuhören gelernt habe. Geschichtspolitik und hegemonialer DDR-Diskurs wuchern in das Private und Persönliche hinein. Und: Medienmenschen, die die DDR erlebt haben, fremdeln mit manchem, was in den Redaktionen heute passiert. Ihr Credo: Öffentlichkeit herstellen. Offen für alle, auch für alle Themen.20 Ohne es immer selbst zu wissen, sind meine Kommilitonen von einst so ein lebendes Plädoyer für eine akademische Journalistenausbildung, die sich nicht am Modell ›Fachstudium plus Volontariat‹ orientiert, das kommerziell ausgerichtete Verlage in der alten Bundesrepublik propagiert und letztlich zur Norm gemacht haben, sondern Handwerk und Selbstreflexion ins Zentrum rückt. Der Gesellschaft, so könnte man das zuspitzen, wäre sehr geholfen, wenn sie ihre Medienhäuser in jeder Hinsicht öffnen und dabei der Journalistin von morgen erlauben würde, zunächst fern vom Berufsalltag verstehen zu lernen, was sie bald tun wird. Ich könnte hinzufügen: wie früher in Leipzig, weiß aber, dass ich dafür erst noch erklären muss, was genau ich damit meine. Zu stark sind die Bilder von Rotlichtbestrahlung und vorsortierten Studenten. Deshalb zunächst nur das: Im Kleinen zeigt sich am Beispiel Journalistenausbildung und Journalismus, dass die großen Krisen der Gegenwart mit der Geschichtspolitik verknüpft sind. Ein Land, das eine große Gruppe von Menschen mehr oder weniger ausschließt oder in die zweite Reihe verbannt und die Erfahrungen dieser Menschen ignoriert oder abwertet, schwächt sich selbst.

WIE ICH EINE GESCHICHTE SCHREIBE, DIE ICH EIGENTLICH RUHEN LASSEN SOLLTE

Der Mensch ist ein Geschichtentier. Wir sind neugierig, wie andere leben, wie sie sich verhalten, was sie denken. Wir brauchen das, weil wir wissen müssen, wo wir selbst stehen und wie das einzuordnen ist, was wir machen und gemacht haben. Das geht nur, wenn wir uns mit anderen vergleichen – am besten mit denen, die uns nah sind, weil sie aus dem gleichen Milieu oder aus der gleichen Zeit stammen, weil sie mit ähnlichen Voraussetzungen angefangen haben. Ich schreibe dieses Buch deshalb zuallererst für mich. Wissenschaft als Suche nach sich selbst. Auf Englisch gibt es dafür ein Wortspiel: ›research‹ als ›me-search‹.21

Ich kann das hier so offen schreiben, weil ich Neutralität und Objektivität für Fiktionen halte. Wissenschaft wird von Menschen gemacht. Meine Geschichte: Dieser Untertitel ist keine Koketterie und keineswegs nur als Hinweis auf die autobiografischen Anteile zu lesen, die diesen Text tragen. Wie jede andere Geschichte ist auch diese Geschichte der akademischen Journalistenausbildung in der DDR kein ›Abbild‹ irgendeiner Realität. Das beginnt schon mit dem Thema (ich hätte auch über die Erfindung der Kommunikationswissenschaft schreiben können, was ich so eher nebenbei tun muss) und mit meiner Beziehung zu diesem Thema (dazu gleich mehr) und hört nicht auf bei den Gesprächen, die ich für dieses Buch geführt habe. Woran sich Menschen erinnern (wollen), hängt davon ab, wer sie fragt und wann sie gefragt werden. Davon hängt schon ab, ob sie überhaupt reden wollen.

Meine Geschichte: Das schließt ›meine‹ Zeitzeugen ein und ›meinen‹ Blick auf das, was ich in den Archiven gefunden habe. Ich habe mit den Menschen gesprochen, mit denen ich als Student am meisten zu tun hatte, oder die in irgendeiner Form herausragen und so Einblicke versprachen, die ich selbst nicht haben konnte – als Dozenten, als gewählte Studentenvertreter oder durch ihre Karriere. Manche habe ich nach knapp drei Jahrzehnten zum ersten Mal wiedergesehen und manche jetzt überhaupt erst richtig kennengelernt. Trotzdem waren das nie Gespräche zwischen Fremden. Jeder wusste, dass er dem anderen nicht wirklich etwas vormachen kann. Ich war trotzdem erstaunt, was ich alles vergessen habe. Maradona in Leipzig, Ende Oktober 1988, Lok gegen Neapel, und zwei von uns, die eine Verabredung mit ihm hatten.22 Unglaublich, aber einfach nicht mehr präsent. Vielleicht hat mich das auch deshalb so berührt, weil der rastlose Reporter, der das offenbar geschafft hatte, nicht mehr am Leben ist.

Was ich eigentlich sagen wollte: Wie ich das interpretiere und gewichte, was man mir erzählt und was in den Dokumenten steht, hängt davon ab, wer ich bin, was in meinem Leben bisher passiert ist und wie ich mir meine Zukunft ausmale.23 Bin ich ein Mann oder eine Frau, farbig oder weiß, alt oder jung, Katholik oder Marxist, ein Neuling im Metier oder viele Jahre dran am Thema? ›Wissen‹ ist nicht ohne den Menschen zu haben, der es produziert, und entspricht deshalb niemals genau dem, wovon es berichtet. Das heißt aber noch lange nicht, dass es eigentlich egal ist, welche Version der Geschichte man zur Hand nimmt. Historische Forschung steht und fällt erstens mit ihren Quellen. Jeder kann sehen, worauf ich mich stütze, und überprüfen, ob ich absichtlich Informationen unterschlage oder Gegenpositionen ausblende. Und zweitens sollte historische Forschung offenlegen, von wem sie stammt und welche Interessen sie verfolgt.

Der Untertitel Meine Geschichte ist so auch ein Lösungsvorschlag für das Problem, dass es weder ›Wissen an sich‹ gibt noch einen Schiedsrichter, der zweifelsfrei feststellen kann, wer denn nun Recht hat. Auch die quantitative empirische Sozialforschung kennt keine Methode und kein Messinstrument, die unabhängig von theoretischen Vorannahmen sind. Der autobiografische Zugang macht aus dieser Not eine Tugend. Er macht aus dieser Geschichte einen Stoff, der selbst die fesseln könnte, die mit dem Thema überhaupt nichts am Hut haben, und erfüllt zugleich die Anforderungen, die der Wissenssoziologe Karl Mannheim an wissenschaftliche ›Objektivität‹ gestellt hat. Um verallgemeinern zu können und die »Strukturdifferenz« zu verstehen, so Mannheim in einer Sprache, die ihr Alter verrät, brauche man eine »Formel der Umrechenbarkeit«.24 Zeitgemäßer formuliert: Ich muss wissen, warum der eine den Gegenstand so darstellt und der andere anders.25 Eine Autobiografie erlaubt hier das Maximum an Transparenz.

Hinabtauchen dürfen in das eigene Leben: Ich weiß, dass es ein Privileg ist, für das bezahlt zu werden, was auch die umtreibt, die Streife laufen müssen, um ihre Wohnung nicht zu verlieren, die dafür kellnern, Müll abholen, Kranke trösten. Aus diesem Privileg erwächst eine Verantwortung. Ich habe Zugang zur großen Arena (wenn auch nur über die Hinterbühne Kommunikationswissenschaft) und die Ressourcen, um so ein Buch zu schreiben. Es wäre fatal, wenn ich das nicht tun würde, zumal ich weiß, dass zumindest die darauf warten, die mir ihre Geschichten geschenkt haben, Fotos und was sonst noch übriggeblieben war von ihrem akademischen Leben in der DDR. »Durch dich leben wir weiter, Michael«, sagte Wulf Skaun Ende November 2019 bei einer Veranstaltung im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig, die im zweiten Kapitel ausführlich gewürdigt wird. Uns verbinden zwei prägende Erfahrungen: eine Umfrage zur Mediennutzung der Leipziger im Mai 1990, mit der der Hochschullehrer Skaun damals Neuland betrat, und das Ringen um ein lebensgeschichtliches Interview, das seit 2015 online ist.26 Auch wenn Wulf (wir sind seit dem Kampf um diesen Text per Du) und seine Kolleginnen und Kollegen nie und nimmer mit allem einverstanden sind, was ich über sie und ihre Arbeit schreibe: Ich weiß, dass sie diese Mühe trotzdem schätzen.

Heinz Pürer, ein Professorenkollege aus Österreich, der schon kurz nach besagter Umfrage als einer der ersten zu uns nach Leipzig in den Hörsaal kam und den ich dann viel später in München wiedergetroffen habe, hat dagegen vehement davon abgeraten, dieses Buch zu schreiben. »Nein, Michael, da bist du viel zu nah dran«. Ich höre Pürer förmlich sprechen, mit diesem Dialekt, der jeden Österreicher erst einmal sympathisch macht, und sehe, dass er Recht hat. In diesem Buch geht es um das symbolische Kapital meiner Diplomurkunde. Jeder Absolvent trägt an der Reputation seiner Universität und seiner Disziplin, so oder so. Wenn wir an der Deutschen Journalistenschule in München die Bewerber prüfen, werfen sich die Chefredakteure und Edelfedern zur Begrüßung Zahlen an den Kopf. 14, 17, 29K, 36. Das ist jeweils die Nummer der Lehrredaktion, die man selbst durchlaufen hat und die offenbar ein Leben lang an einem kleben bleibt, weil sie selbst auf Wikipedia auftaucht. Das ›K‹ steht dabei für Kompaktklasse, ein Format, das schneller zum Ziel führt und deshalb noch begehrter ist. Jede dieser Zahlen sagt: Ich bin einer von euch. Wir sind die Guten. Ich bin auch Diplomjournalist, aber aus Leipzig. Dieses ›aber‹ kann ich in den Augen der anderen sehen.

Was mir Heinz Pürer sagen wollte: Was immer du zu diesem Thema aufschreibst, man wird es dir nicht abnehmen. Du bist Partei. Man wird dir vorwerfen, dass du nur dich selbst aufwerten willst. Ja, lieber Heinz: Das will ich. Das will jeder, der ein Buch schreibt. Juan Moreno wollte alles festhalten, was zum ›System Relotius‹ zu sagen ist, und sich damit zugleich einen Schutzwall bauen aus »absoluter Transparenz«.27 Ganz so dramatisch ist die Lage für einen bayerischen Beamten wie mich hoffentlich nicht, aber ich ziele natürlich auf das, was in der Öffentlichkeit so herumschwirrt an Urteilen über meine Ausbilder und meine Kommilitonen. Auf das Verdikt von Gunter Holzweißig. Auf das Etikett ›rotes Kloster‹, das Brigitte Klump, von 1954 bis 1958 in Leipzig Studentin und dann in den Westen gegangen, der Fakultät für Journalistik in den 1970er-Jahren in einem Roman anheftete und das der Verlag dann in der Neuauflage 1991 mit dem Untertitel Kaderschmiede der Stasi an den Zeitgeist angepasst hat.28 Ich will schauen, was sich hinter diesem Etikett verbirgt, und dabei denen eine Stimme geben, die sich nicht trauen, gegen den Diktaturdiskurs anzuschreiben, oder das objektiv nicht (mehr) können.

 

Das ist ja das Verrückte: So ein Diskurs reproduziert sich selbst. Er bestimmt, welchen Wert eine Biografie hat, und taxiert damit auch das Gewicht von jedem, der sich in die öffentliche Arena wagt. Der Matthäus-Effekt funktioniert auch hier. Wer in den Diskurs ›passt‹, wird lauter und bekommt ein großes Publikum (etwa Wolf Biermann, der sogar im Bundestag gesungen hat und auch sonst stets gefragt wird, wenn es um die DDR geht), und wer von dem abweicht, was einmal als ›gut‹ und ›richtig‹ definiert worden ist, der schweigt. Selbst die, die es gegen jede Regel doch geschafft haben, behalten ihre Erfahrungen lieber für sich. Man muss dabei gar nicht an Andrej Holm, Jahrgang 1970, denken, der in Berlin nicht Staatssekretär sein durfte, weil er als junger Mann ein paar Monate für die Stasi gearbeitet hat, oder an Holger Friedrich, vier Jahre älter als Holm, der in eine ganz ähnliche Debatte geriet, nachdem er und seine Frau Silke im Herbst 2019 die Berliner Zeitung gekauft hatten. Für dieses Buch habe ich mit Bernd Okun gesprochen, für die Leipziger Journalistik-Studenten in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre ein Idol, weil er in seinen Vorlesungen das ansprach, was jeder dachte, aber in keiner Zeitung fand. Okun, inzwischen 75 und als Coach so erfolgreich, dass er einen Tesla fährt und sich feine Büroräume am Thomaskirchhof leisten kann, in Leipzig eine erste Adresse, sagte, er sehe »nicht so gern schriftlich« (vor allem nicht im Internet), dass er 1984 von der Sektion Philosophie an die Sektion Marxismus-Leninismus gewechselt ist. Wenn das heute jemand lese, würde er denken, »ich war ein Ideologe und ein Oberidiot«.29 Der hegemoniale DDR-Diskurs schüchtert heute selbst die ein, die früher mutig waren, weil die Fallhöhe in einer kapitalistischen Gesellschaft viel größer ist.

Eine Ausnahme ist Daniela Dahn. Das »persönliche Panorama zur Lage der Nation und zum Stand des Internationalen«, das diese Schriftstellerin 2019 vor aller Augen entfaltet hat, ist für mich einerseits ein Vorbild und andererseits auch nicht. In Kurzform: ja zur Diagnose, nein zur Methode. Es mag schon richtig sein, liebe Daniela Dahn, »dass ein verzerrtes Geschichtsbild schwerlich durch ausgewogene Gesamtdarstellungen zu erschüttern ist«, dass »das hundertmal Verschwiegene« auf »Kenntnisnahme« wartet und dass der »westliche Diskurs den fremden Blick nicht nur aushalten, sondern als Bereicherung begreifen sollte«. Die »Gegeneinseitigkeit« aber, die man einer Sachbuchautorin möglicherweise durchgehen lässt (zumal wenn sie statt »akademischer Systematik« einen »Gedankenstrom« ankündigt),30 kann sich der professionelle Historiker nicht erlauben. Ich greife stattdessen nach den Sternen und verspreche eine DDR-Geschichte, die über den Tellerrand hinausschaut – in die Bundesrepublik, in die USA. Vielleicht ist das ein Schritt zu jener »gesamtdeutschen Geschichtsschreibung«, die Jochen-Martin Gutsch, ein Ostdeutscher beim Spiegel, Jahrgang 1971, auch 30 Jahre nach dem Mauerfall noch vermisst hat.31 Möglich wird so ein großer Wurf (oder zumindest: seine Ankündigung) durch ein Thema, das klein genug ist, um sich darin wirklich auszukennen.