Das Erbe sind wir

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Das Erbe sind wir
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de abrufbar.

Michael Meyen

Das Erbe sind wir.

Warum die DDR-Journalistik zu früh beerdigt wurde. Meine Geschichte

Köln: Halem, 2020

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2020 by Herbert von Halem Verlag, Köln


ISBN (Print) 978-3-86962-570-6
ISBN (PDF) 978-3-86962-571-3
ISBN (ePub) 978-3-86962-576-8

Den Herbert von Halem Verlag erreichen Sie auch im

Internet unter http://www.halem-verlag.de E-Mail: info@halem-verlag.de

SATZ: Herbert von Halem Verlag

LEKTORAT: Julian Pitten

DRUCK: docupoint GmbH, Magdeburg

UMSCHLAGFOTO: Armin Kühne; @ Universitätsarchiv Leipzig

GESTALTUNG: Bruno Dias, Porto (Portugal)

Copyright Lexicon ©1992 by The Enschedé Font Foundry.

Lexicon® is a Registered Trademark of The Enschedé Font Foundry.

Michael Meyen

Das Erbe sind wir

Warum die DDR-Journalistik zu früh beerdigt wurde.

Meine Geschichte


Für alle, die mir ihre Geschichte geschenkt haben.

Für Antje, meinen Bruder Andreas und meine Eltern Christa und Hans-Peter, ohne die es diese Geschichte nicht geben würde.

Für Juliane, Ferdinand und Josefine, die hoffentlich die Chance bekommen, ihre eigene Geschichte zu schreiben.


MICHAEL MEYEN, Prof. Dr., Jahrgang 1967, studierte an der Sektion Journalistik und hat dann in Leipzig alle akademischen Stationen durchlaufen: Diplom (1992), Promotion (1995), Habilitation (2001). Parallel arbeitete er als Journalist (MDR info, Leipziger Volkszeitung, Freie Presse). Seit 2002 ist Meyen Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienrealitäten, Kommunikations- und Fachgeschichte sowie Journalismus.

INHALT

1.WAS NACH REDAKTIONSSCHLUSS PASSIERT IST

2.WARUM DAS FASS NOCH EINMAL AUFGEMACHT WERDEN MUSS

3.WIE ICH GESCHICHTE SCHREIBEN WILL

4.WARUM DIE VERGANGENHEIT NICHT VERGEHT

Ein Podium, in dem alles drin ist – sogar die Ostsee-Zeitung

5.WIE ICH PARTEIJOURNALIST WERDEN WOLLTE

Ein sehr persönliches Kapitel, das von Rügen über einen T-34 in den Leipziger Herbst führt

6.WO BRIGITTE KLUMP STUDIERT HAT

Eine Reise in die 1950er-Jahre, vermittelt von Ingeborg Schmidt

7.WIE DIE LEIPZIGER JOURNALISTIK DER NABEL DER WELT WERDEN KONNTE

Eine kurze Geschichte der Kommunikationswissenschaft

8.WIE ILSE, NIKOLAI UND TILO ZU IHREM DIPLOM GEKOMMEN SIND

Drei Studentenleben, stellvertretend für mehr als 5000 andere

9.WAS EIN WESTDEUTSCHER PASTORENSOHN AUS DEM ›ROTEN KLOSTER‹ GEMACHT HAT

Ein Ost-West-Seminar, Studenten auf der Suche und ein Minister, der mit sich reden ließ

10.WAS DER ABRISS DER LEIPZIGER JOURNALISTIK MIT DER KRISE DER GEGENWART ZU TUN HAT

Eine Erbengeneration, die ihren größten Schatz nicht zeigen kann

PERSONENREGISTER

1.WAS NACH REDAKTIONSSCHLUSS PASSIERT IST

Ein Buch, das den Untertitel Meine Geschichte trägt, kann den Angriff nicht auslassen, der Ende Mai 2020 auf Twitter begann und nach einem tendenziösen Bericht in der Süddeutschen Zeitung unter anderem dazu führte, dass ich meine Position als Co-Sprecher des bayerischen Forschungsverbundes »Zukunft der Demokratie« aufgegeben und meinen Blog Medienrealität eingestellt habe.1

Auf den ersten Blick hat dieser Angriff nichts mit diesem Buch zu tun. Ich schreibe hier über die Journalistenausbildung in der DDR – über ein Thema, das ich in die Fachgeschichte der Kommunikationswissenschaft einbette und als Beispiel sehe für den Umgang mit dem Erbe der DDR. Um das zuzuspitzen: Dieses Erbe wird ignoriert. Zu diesem Erbe gehören die Erfahrungen des Scheiterns, die Debatten, die dem Scheitern im langen 89er Herbst folgten, und die Ideen, die dort produziert wurden. Egal ob an runden Tischen, auf Vollversammlungen oder in den vielen kleinen Foren, die diese Zeit für alle unvergesslich machen: Es ging um die Fragen, die uns immer noch beschäftigen. Wie wollen wir zusammenleben? Wie schaffen wir es, dass alle mitsprechen können, wenn es um ihr eigenes Leben geht?2 Wie schaffen wir es vor allem, dass auch unsere Urenkel noch darüber streiten können? Was heute die Welt bedroht, in der sich viele gemütlich eingerichtet haben, stand schon vor 30 Jahren auf der Tagesordnung.

Die Antworten von damals sind verschluckt worden von einer Vereinigungsmaschine, die nur einen kleinen Teil der Ostdeutschen brauchte, um genauso weitermachen zu können wie vorher – die Opposition und die Reste der bürgerlichen Milieus, denen Uwe Tellkamp in seinem Roman Der Turm ein Denkmal gesetzt hat.3 Man muss nur diesen Roman lesen, um zu verstehen, warum Ärzten, Künstlern, Ingenieuren, Kirchenleuten der Übergang von einer staatlichen Werteordnung in die andere längst nicht so schwer fiel wie den Kommunisten oder den vielen Aufsteigern, die die DDR getragen haben4 und denen ich mich schon deshalb verbunden fühle, weil ich wahrscheinlich einer von ihnen geworden wäre.

Das Erbe sind wir: Dieser Titel meint nicht nur Menschen wie mich, sondern auch das, was wir einbringen können. Dieses Buch erzählt eine Geschichte, die ich selbst erlebt habe. Mit der Leipziger Sektion Journalistik ist ein Paradigma entsorgt worden, das Forschung und Berufspraxis verbunden hat und heute helfen könnte, die Redaktionen aus der Umklammerung der Politik zu befreien oder von den Zwängen einer kommerziellen Medienlogik, für die Aufmerksamkeit alles ist und alles andere nichts. Das ist kein Plädoyer für eine Rückkehr zur DDR oder gar zu den ideologischen Prämissen, die die Parteipresse genauso unglaubwürdig gemacht haben wie die TV-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera.5 Der Journalismus war damals kein Journalismus, sondern politische PR.6

Gerade die Gängelung durch die SED hat allerdings, das hoffe ich in diesem Buch zu zeigen, ein Journalismusideal gefüttert, das »Öffentlichkeit als gesellschaftlichen Auftrag« sieht.7 In Kurzform: erst das Handwerk, dann die Haltung. Alle Perspektiven und Interessen zu Wort kommen lassen, ohne die (Ab-)Wertung gleich mitzuliefern. Dieser journalistische Auftrag lässt sich leicht mit einem Demokratieverständnis verbinden, das alle als Freie und Gleiche anerkennt und den öffentlichen Debattenraum braucht, um den Frieden nach innen und nach außen zu sichern. Auch hier wieder in Kurzform: Öffentlichkeit ist der Ort, an dem Pluralität und Heterogenität in Einklang gebracht werden können. Öffentlichkeit ist das »Herzstück« der Demokratie, weil wir hier zu »argumentativen Anstrengungen« gezwungen sind, um unsere subjektiven Interessen zu objektivieren.8

 

Wer wie ich unter Zeitungen gelitten hat, die die Lesbarkeit und die Gunst ihres Publikums auf dem Altar der Interessen ihrer Besitzer geopfert haben, hat das Schlagwort ›publizistische Vielfalt‹ als Versprechen verstanden.9 Ich war nicht dabei, als Armin Kühne am 16. Oktober 1989 das Cover-Foto geschossen hat, wie vermutlich die meisten nicht, die mit mir studiert haben. »Pressefreiheit« und Sektion Journalistik: Das passt auch aus historischer Distanz nicht zusammen. Zwei Tage nach dieser Leipziger Montagsdemo ist neben Erich Honecker auch Joachim Herrmann zurückgetreten, sein Adlatus für Agitation und Propaganda. Fortan, so habe ich das damals gesehen, fortan wird es möglich sein, über all die unterschiedlichen Meinungen und Interessen zu diskutieren, die es in einer Gesellschaft gibt. Man wird sich nicht immer einigen können, natürlich nicht, sich aber selbst ein Bild machen können, weil die entsprechenden Informationen und die wichtigsten Interpretationen für jeden zur Verfügung stehen.

Mein Blog Medienrealität war diesem Ideal verpflichtet. Ich habe den öffentlichen Debattenraum dort mit den Mitteln der Wissenschaft seziert und all das kritisiert, was die Erfüllung des Auftrags Öffentlichkeit gefährdet. Ich will mir nicht anmaßen, hier einen schärferen Blick zu haben als andere, da es in diesem Buch aber um das ›Erbe‹ geht (ein positiv besetzter Begriff), das Menschen wie ich einzubringen haben, möchte ich hier wenigstens einen Punkt setzen und dafür den Sozialkonstruktivismus bemühen.

Jeder Mensch wird in eine »institutionelle Ordnung« hineingeboren, die uns »Wissen« über die »Wirklichkeit« liefert (über Phänomene, die ohne unser Wollen da sind). In dieser »institutionellen Ordnung«, die durch eine »symbolische Sinnwelt« legitimiert wird (etwa: Katholizismus, Marxismus, Neoliberalismus), leben wir normalerweise »ganz naiv« vor uns hin – solange jedenfalls, wie der Alltag funktioniert und bis »eine Gesellschaft auf eine andere stößt, die eine ganz andere Geschichte hat«.10 Vermutlich muss ich gar nicht mehr ausformulieren, worauf diese Argumentation hinausläuft. In den späten 1980ern hat der Alltag in Leipzig nicht mehr funktioniert. Es hat gestunken, die Läden waren leer, die Menschen sind weggelaufen – und in der Realität der Medien war der Sozialismus trotzdem auf der Siegerstraße.

Die ›institutionelle Ordnung‹ der Gegenwart und die ›symbolische Sinnwelt‹, die sie legitimiert, waren für mich nicht einfach da. Ich kann verstehen, dass es Menschen gibt, die keinen Grund haben, beides in Frage zu stellen. Ich muss dafür nur durch München gehen. So viel Reichtum und so viele braungebrannte Gesichter. Gerade mit Blick auf die existenziellen Fragen, die wir in den nächsten Jahren beantworten müssen, sollten diese Menschen aber auch verstehen, welche Vorteile es hat, ›institutionelle Ordnung‹ und ›symbolische Sinnwelt‹ stets einem Wirklichkeitstest zu unterziehen. Das ist das, was Menschen wie ich zu bieten haben. Das ist das ›Erbe‹, auf das der Buchtitel anspielt. Und dafür steht der Ruf nach »Pressefreiheit«, der für den flüchtigen Blick weit weg vom Thema DDR-Journalistik zu sein scheint.

Anmerkungen

1Vgl. Michael Meyen: Kontroverse um »Medienrealität«. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2020. https://medienblog.hypotheses.org/9621 (5. Juni 2020)

2Vgl. Stephan Lessenich: Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem. Stuttgart: Philipp Reclam 2019, S. 18

3Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008

4Vgl. Lutz Niethammer: Erfahrungen und Strukturen: Prolegomena zu einer Geschichte der Gesellschaft der DDR. In: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Hartmut Zwahr (Hrsg.): Sozialgeschichte der DDR. Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 95-115

5Vgl. Franziska Kuschel: Schwarzhörer, Schwarzseher und heimliche Leser. Die DDR und die Westmedien. Göttingen: Wallstein 2016, Michael Meyen: Denver Clan und Neues Deutschland. Mediennutzung in der DDR. Berlin: Ch. Links 2003

6Vgl. Anke Fiedler: Medienlenkung in der DDR. Köln: Böhlau 2014

7Horst Pöttker (Hrsg.): Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Klassiker der Sozialwissenschaft über Journalismus und Medien. Konstanz: UVK 2001

8Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören. Frankfurt/M.: Westend 2018, S. 192

9Vgl. Günther Rager, Bernd Weber: Publizistische Vielfalt zwischen Markt und Politik. Eine Einführung. In: Günther Rager, Bernd Weber (Hrsg.): Publizistische Vielfalt zwischen Markt und Politik. Mehr Medien – mehr Inhalte? Düsseldorf: Econ 1992, S. 7-26

10Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2016, S. 112

2.WARUM DAS FASS NOCH EINMAL AUFGEMACHT WERDEN MUSS

Dieses Buch erzählt eine deutsche Geschichte, die zwar in der DDR spielt und schon vorher angefangen hat, aber noch lange nicht vorbei ist. Auf den ersten Blick hat diese Geschichte nichts zu tun mit den Dingen, die uns gerade auf den Nägeln brennen. Es geht nicht um Klima, Natur oder Pandemien und auch nicht um die großen Fragen von Krieg und Frieden oder von Arm und Reich. Warum, so ließe sich das zuspitzen, beschäftige ich mich mit der Ausbildung von Journalisten, wenn die Zukunft der Menschheit auf dem Spiel steht? Und warum steige ich dafür gewissermaßen in die Gruft und schreibe nicht über die Medienrealität der Gegenwart?

Ich bin »Exil-Ostdeutscher«. So hat Yana Milev, 1964 in Leipzig geboren, Menschen genannt, die in der DDR aufgewachsen und dann in ein »fremdes Land« gekommen sind, ohne ihre »Heimat« zu verlassen.1 Mein Gepäck habe ich bei der Ankunft versteckt. Ich musste dieses Gepäck verstecken, weil all das, was mich vorher ausgemacht hat, im größeren Deutschland verpönt war. Ich konnte nichts vom Widerstand berichten oder vom Überleben in einer Nische. Am 9. Oktober 1989 war ich in Leipzig, aber nicht in der Nikolaikirche, sondern in einer Parteiversammlung an der Sektion Journalistik. Und als ich mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz demonstriert habe, riefen die meisten schon »Wir sind ein Volk«.

Die Mehrheit hat nicht immer Recht und der Sieger schon gar nicht. Im Dezember 1990 hat die sächsische Regierung beschlossen, meinen Studiengang zu schließen – angetrieben vom Trommelfeuer der Leitmedien und später bestätigt durch Publikationen, die alles in Bausch und Bogen verworfen haben, was an der Sektion Journalistik in Leipzig gemacht worden war. Die Folgen konnte ich an mir selbst beobachten. ›Exil-Ostdeutsche‹ wie ich haben versucht, die besseren Westdeutschen zu werden, und dabei auch all das tief in uns vergraben, was den hegemonialen Diskurs hätte aufbrechen können. Dieser Mechanismus scheint mir universell zu sein und wäre schon für sich genommen Grund genug gewesen, dieses Buch zu schreiben. Wer Erfahrungen oder Ideen hat, die der dominanten Deutung widersprechen, muss entweder schweigen, um die eigene Reputation nicht zu gefährden, oder in Arenen ausweichen, die der Stimme von vornherein jede Wucht nehmen.

In diesem Buch geht es um mehr. Die kleine Sektion Journalistik steht hier pars pro toto für einen Vorgang, den Yana Milev »Kulturkatastrophe«2 nennt. Was diese Soziologin aus der Vogelperspektive und mit einem Vokabular macht, das keinen Raum für Zweifel lässt (›Regime Change‹, ›Schockstrategien‹, ›Landnahme‹, ›struktureller Kolonialismus‹, ›neoliberale Annexion‹), schaue ich mir aus der Nähe und mit dem Blick des Insiders an, der die DDR nicht nur mit der Bundesrepublik oder mit den USA vergleichen kann, sondern auch weiß, wie es ab 1991 weitergegangen ist in seinem Feld. Was ich dabei sehe, erlaubt zu verstehen, warum der deutsche Osten auch 30 Jahre später anders ist als der Rest des Landes.

Punkt 1: Es gibt keine Sektion Journalistik mehr. Nichts, nada, niente. Inhalte weg, Personen weg, alles weg. Entsorgt auf dem Müllhaufen der Geschichte. Etwas weniger polemisch: Die westdeutsche Fachgemeinschaft hat 1991 einen neuen Standort bekommen und in Leipzig etwas ausprobiert, was woanders nicht so leicht gegangen wäre. Mit der Tradition des Standorts oder gar mit den Menschen dort hatte das alles nichts zu tun. Motto: ein bisschen Fußvolk übernehmen (in der Verwaltung, im akademischen Mittelbau), das Sagen aber haben wir. Mehr noch: Wir schreiben künftig auch eure Geschichte und die gemeinsame Geschichte sowieso. Karl Friedrich Reimers, der als Gründungsdekan aus München nach Leipzig kam, hat sich noch Ende 2019 bitter beklagt, als er einmal nicht auf einem einschlägigen Podium sitzen und sein Wunderwerk beweihräuchern durfte.

Punkt 2: Wer von 1990 spricht, muss von den Menschen sprechen und davon, was politische Entscheidungen aus Wünschen und Träumen machen. Der Lebensweg der Älteren war von einem Tag auf den anderen zu Ende. Übergang in das bezahlte Nichtstun, mit Mitte 50, wenn sich langsam die Souveränität einstellt, die jede akademische Ausbildung braucht. Die etwas Jüngeren wie Jürgen Schlimper, Wolfgang Tiedke oder Wulf Skaun, drei meiner Helden aus Studententagen, gerade auf dem Sprung in Richtung Professur, sind ins Nichts gefallen. Ökonomisch ist dieser Satz falsch, weil das reiche Deutschland jedem irgendwo ein Auskommen bietet. Intellektuell aber, und darum geht es hier, hat dieses Land all das Potenzial verschenkt, das in der DDR gewachsen war und das heute schon deshalb wichtig wäre, weil es den Umgang mit gesellschaftlichen Krisen einschließt und das Wissen, dass sich die Verhältnisse selbst dann verändern lassen, wenn sie in Stein gemeißelt scheinen.

Das führt direkt zu Punkt 3: Mit der Sektion Journalistik ist ein Paradigma entsorgt worden, das Forschung und Berufspraxis verbunden hat. Anders formuliert: Wer heute fragt, wie man die Redaktionen aus der Umklammerung der Politik befreien kann oder von den Zwängen einer kommerziellen Medienlogik, für die Aufmerksamkeit alles ist und alles andere nichts, der findet hier eine mögliche Antwort. Das klingt zunächst befremdlich. Das ›rote Kloster‹ in Leipzig, der Prototyp einer Schule für Parteijournalisten, als Lösung für die Medienkrise der Gegenwart? Ich werde den Spieß umdrehen und zeigen, wie die Gängelung durch die Herrschenden ein Journalismusideal füttern konnte, bei dem ›umfassende demokratische Öffentlichkeit‹ im Zentrum steht. Handwerk statt Haltung.

So gesehen, schreibe ich doch über die Medienrealität der Gegenwart. Ich lasse Menschen sprechen, die marginalisiert worden sind oder sich freiwillig zurückgehalten haben, weil sie in der DDR zur Elite gehört haben oder in diesem Land etwas werden wollten. Wir brauchen die Geschichten dieser Menschen. Wir brauchen die vielen Ideen, die in den anderthalb Jahren des langen 89er Herbstes reifen konnten, als die alten Fesseln abgestreift waren und die neuen nur eine Ahnung am Horizont. Ohne diese Geschichten und ohne diese Ideen können wir nicht verstehen, warum es im Osten immer noch gärt und wie wir die Probleme angehen müssen, die das deutsch-deutsche Klein-Klein schon jetzt in den Hintergrund rücken lassen.

Anmerkungen

1Yana Milev: Das Treuhand-Trauma. Die Spätfolgen der Übernahme. Berlin: Das Neue Berlin 2020, S. 246f., vgl. Yana Milev: Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90. Drei Bände. Berlin: Peter Lang 2019/20

2Milev: Treuhand-Trauma, S. 8, 36, 49, 69, 91, 117, 252

 

3.WIE ICH GESCHICHTE SCHREIBEN WILL

Eigentlich sollte dieses Buch Rückkehr nach Leipzig heißen. Ich wollte schon im Titel einen Anspruch signalisieren, der weit über die Journalistik hinausgeht, und mich deshalb an Didier Eribon anlehnen.1 Der Bestseller Rückkehr nach Reims erklärt, was viele nicht nur in Frankreich unerklärlich finden: Wie konnte es passieren, dass die extreme Rechte in diesem Land heute ausgerechnet von denen gewählt wird, die auf den ersten Blick nichts zu verlieren haben als ihre Ketten und deshalb früher, in den 1960ern und vielleicht sogar noch in den 1980ern, gewissermaßen mit einem roten Parteibuch zur Welt kamen? Als wenn diese Frage nicht schon außerordentlich genug wäre, widmet sich ihr ein Autor, der Ungewöhnliches erlebt hat. Homosexualität in der Provinz, der Bruch mit dem Vater und mit der Familie, Freundschaften mit Bourdieu und Foucault. Das ist der Stoff, der soziologische Analysen auf die große Theaterbühne bringt.2

Wer 2020 Rückkehr nach Leipzig auf einen Buchdeckel schreibt, sagt: Ich werde den Osten Deutschlands erklären. Ich werde erzählen, warum die Menschen dort ›drüben‹ unzufrieden sind. Warum sie all das nicht zu genießen scheinen, was die Einheit ihnen beschert hat, Autobahnen, hübsche Fassaden, Kreuzfahrten in die weite Welt, und stattdessen so wählen, dass die großen Medienhäuser in München, Hamburg, Frankfurt immer wieder Reporter ausschwärmen lassen müssen. Und: Ich werde das alles mit einer persönlichen Geschichte verbinden, die so unerhört ist und so spannend, dass sie ein ganzes Buch trägt.

Ich habe gemerkt: Dieser Titel ist zu groß. Es geht um die DDR, das schon. Es geht auch um das, was aus diesem Land geworden ist und aus den Menschen, die dort gelebt und gearbeitet haben. Es geht aber nicht um alle, sondern nur um die, die ich am besten kenne: Journalistinnen und Journalisten und ihre Ausbilder an den Universitäten. Ich bin 1988 zum Studium nach Leipzig gegangen, um Heinz Florian Oertel zu beerben oder Chefredakteur zu werden. So ganz genau weiß man das nicht, wenn man 21 ist und seine Jugend auf der Insel Rügen verbracht hat. Vor allem wusste ich damals nicht, dass der Weg auf den Kommentatorensessel bei einem Fußball-Länderspiel unendlich viel weiter ist, wenn man sein Volontariat bei der Ostsee-Zeitung macht und nicht beim Fernsehen, vielleicht sogar mit dem großen Oertel als Mentor. Dass Leipzig dann in die Geschichtsbücher eingehen würde, konnte ohnehin niemand wissen.

Heute bin ich Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität München. Das heißt: ein kleines Licht, verglichen jedenfalls mit Didier Eribon und all jenen, die sonst glauben, ihre Lebensgeschichte in ein Buch gießen zu müssen. Die Kommunikationswissenschaft ist in diesem Land so unbedeutend, dass man den meisten erst einmal erklären muss, was wir da machen. Nein: Wir interessieren uns nicht für Gespräche wie das, was wir gerade führen, und auch nicht für das, was zwischen dir und deiner Chefin gerade läuft. Wir untersuchen Medien. Massenmedien. Öffentliche Kommunikation. Bei uns studieren auch Menschen, die in den Journalismus wollen, sie lernen dabei aber nicht, wie man einen Artikel schreibt oder einen Film dreht, sondern wie man solche Medienprodukte analysiert und ihren Wirkungen auf die Spur kommt.

Die öffentliche Resonanz auf unsere Forschung geht gegen Null. Wenn irgendetwas schief läuft mit den Medien, werden eher Soziologen gefragt, Philosophen oder Politiker. Welterklärung verkauft sich besser als eine Sozialwissenschaft, die jeden ihrer Befunde mit einem ›Wenn und Aber‹ versehen muss und schon deshalb nicht dazu neigt, irgendeinen Alarmismus zu bedienen. Vermutlich war diese Bedeutungslosigkeit mein Glück. Ich kann mir immer noch schwer vorstellen, dass man mit meiner Kaderakte in diesem Deutschland einen Posten bekommt, der außerhalb der kleinen akademischen Disziplin, die ich vertrete, für wichtig gehalten wird. Dafür war ich aller Jugend zum Trotz schon zu tief drin in einer DDR, die im hegemonialen Diskurs als Diktatur konstruiert wird. Die Stasi und die Mauer. Bautzen und Torgau. »Wenn ich DDR höre, dann denke ich an Schmerz«, sagte Jan, ein Schüler aus Bayern, damals 16 Jahre alt und ohne jeden Kontakt in den Osten, als wir ihn 2012 in einer Studie zum kollektiven Gedächtnis befragt haben. »Diese Unterdrückung. Die Leute wurden da mehr oder weniger eingepfercht. In so ein großräumiges KZ. Jeder musste immer genau angeben, was er tut.«3

In diesem Lager (um in Jans Bild zu bleiben) war ich dazu ausersehen, für gute Laune zu sorgen. Ist doch schön hier. Was nicht schön ist, wird schon noch. Habt Geduld. Im Zweifel ist der Kapitalismus schuld. Egal ob bei der Presse in Rostock oder beim Fernsehen in Berlin-Adlershof: In der DDR wurde man nur dann Journalist, wenn einem dieser Staat und seine Idee vom Sozialismus irgendwie gefielen. Ich habe mich immer amüsiert, wenn meine Studenten in München akribisch aufzählen wollten, was sich die SED alles ausgedacht hatte, um den Spielraum in den Redaktionen zu begrenzen. Agitationskommission, Abteilung Agitation, Donnerstags-Argu, Presseamt. Die Nachrichtenagentur ADN. Die Staatssicherheit. Und über allem der General-Chefredakteur, eine Rolle, die Erich Honecker viel mehr geliebt und gelebt hat als Walter Ulbricht.4 Das gab es, keine Frage. Nur: Wie überall steht und fällt auch in den Medien alles mit der Personalauswahl. Die Ostsee-Zeitung hätte nie und nimmer einen unsicheren Kantonisten eingestellt. Es war dort Mitte der 1980er-Jahre schon schwer, ein Volontariat zu bekommen, wenn man nicht versprechen wollte, gleich nach seinem 18. Geburtstag Kandidat der führenden Partei zu werden.

Ein SED-Mitglied an der Universität München. Ein kommunistischer Agitator. Ich werde später berichten, wie Ulrich Hörlein darauf reagiert hat, lange Ministerialdirigent im bayerischen Wissenschaftsministerium und dort 2002 für meine Berufung zuständig. So aufregend das für mich und meine Familie auch war (meine Frau bekam in dieser Zeit eine Gesichtslähmung, die man noch sehen kann, wenn man ganz genau hinschaut): Eigentlich ist das alles nichts, was man vor einem größeren Publikum ausbreiten sollte. Aus meinen Studien zur Medienlogik weiß ich, dass es dafür Prominenz braucht, Konflikte mit Spitzenleuten oder irgendetwas, das es so noch nicht gegeben hat.5 So vermessen kann niemand sein, der jeden Tag aus einer 60-Quadratmeter-Wohnung in Haidhausen in ein kleines Universitätsinstitut am Rande des Englischen Gartens spaziert und dort Mühe hat, drei Retweets zu bekommen und den Vorlesungssaal bis zum Ende des Semesters wenigstens nicht ganz leer zu spielen.