Die Legende von Arc's Hill

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»Hier ist es immer recht ruhig, Sir«, antworte er mit dunkler, ruhiger Stimme, die es nicht gewohnt schien, viel zu sprechen. »Arc´s Hill ist ein kleiner Ort, der jenseits der Wälder kaum bekannt ist.«

Ich blickte mich in der Schankstube um und fragte mich, ob die Atmosphäre hier wohl weniger düster wirkte, wenn Gäste anwesend seien, die an den Tischen gemütlich ihr Bier tranken oder in Kartenspiele vertieft waren.

»Ich suche ein Zimmer«, kam ich schließlich ohne Umschweife auf den Grund meines Besuches zu sprechen. »Ich weiß von meinem Vater, dass Sie welche vermieten.«

Der Mann nickte. »Es gibt einige Zimmer im Obergeschoß. Sie sind zwar klein, aber behaglich und erfüllen ihren Zweck.«

Er ging zu einem kleinen Schrank und kam mit einem in Leder gebundenen Buch zurück, das er vor mir aufschlug. »Ich bräuchte nur Ihren Namen und Ihre Adresse.«

Er kratzte sich hinter dem Ohr und sah mich an, als sei es ihm unangenehm, mich darum zu bitten. Ich nickte und trug mich mit einem altmodischen Füllfederhalter, den mir der Mann reichte, in das Buch ein. Als ich damit fertig war und der Wirt meinen Namen las, hielt er inne und starrte mich für mehrere Sekunden mit unergründlichem Blick an.

»Sie sprachen von Ihrem Vater«, sagte er mit leiser Stimme und blickte auf das Gästebuch, als erwartete er, dass die Buchstaben zum Leben erwachten. »Ist dieser Mann zufällig James Feldman?«

»Das ist er«, erwiderte ich und registrierte fast augenblicklich, wie sich die Augen meines Gegenübers für den Bruchteil einer Sekunde weiteten.

Auch wirkte er plötzlich sichtlich nervös. Als er das Buch nahm und zurück zu dem kleinen Schrank trug, waren seine Gesten angespannt.

Es gelang ihm kaum, seine nur allzu offensichtliche Unruhe zu verbergen. Als er zu mir zurückkam, hielt er einen kleinen, silbernen Schlüssel mit einem farbigen Anhänger in der Hand.

»Zimmer Drei«, sagte er knapp und deutete mit einem Kopfnicken zu einer hölzernen Treppe, die ins Obergeschoß führte. »Es ist das letzte Zimmer am Ende des Ganges.«

Ich nahm den Schlüssel entgegen, nickte und wollte mich bereits abwenden.

Doch dann siegte meine angeborene Neugierde. »Sie kannten meinen Vater?«

Der Mann sah mich lange schweigend und nachdenklich an.

Dann endlich nickte er, wobei seine Miene einen düsteren Ausdruck angenommen hatte. »Ich kenne Ihren Vater sehr gut, Mr. Feldman. Es ist lange her, dass er zum letzten Mal hier war.«

Ein Lächeln erschien auf dem Gesicht des Mannes, das allerdings die Augen nicht erreichte.

»Wie geht es ihm?«

Ich schüttelte langsam den Kopf und blickte mich in dem Raum um, in dem wohl auch mein Vater so manche Stunde zugebracht hatte.

»Er ist vor einem Jahr verstorben«, antwortete ich schließlich und ging ohne ein weiteres Wort hinaus zu meinem Wagen, um die Koffer zu holen.

Ein leichter Regen hatte eingesetzt, der das Städtchen in trübe, graue Schleier hüllte. Ich wurde plötzlich an die verzerrten Schatten düsterer Friedhöfe erinnert.


Der Schankwirt hatte nicht übertrieben, was den Komfort des Zimmers betraf.

Doch hatte ich auch keinen Luxus erwartet, erst recht nicht, nachdem ich die düstere und schweigende Atmosphäre des Ortes zu spüren bekommen hatte.

Das Zimmer war klein, jedoch gemütlich eingerichtet, mit einem Bett, einem altertümlichen Schrank und einem Tisch mit dazu passenden Stühlen aus zerfranstem Korbgeflecht. Die Decke war niedrig und wurde, ebengleich wie der Schankraum, durch schwere, dunkle Balken gestützt, die eine beklemmende Stimmung erzeugten.

Ich saß an dem kleinen, runden Tisch, der direkt vor dem mit Holzstreben versehenen Fenster stand und mir einen Blick über den Platz mit dem Brunnen bescherte. Der Regen hing einem sanften Tuch gleich über dem Städtchen und ließ die bunten Herbstblätter der Bäume träge und leidmütig im Wind wehen, als versuchten sie verzweifelt, auf sich aufmerksam zu machen.

Pfützen hatten sich auf dem Kopfsteinpflaster und den Wegen rund um den Brunnen gebildet und spiegelten das triste Grau des Himmels und der rasch dahinziehenden Wolken wider.

Der Anblick deprimierte mich. Nicht zuletzt der Tatsache wegen, dass mein Vater vielleicht den gleichen Ausblick genossen oder gar auf einer der Bänke vor dem Brunnen gesessen hatte.

Während ich den trostlosen Nachmittag dieses Tages betrachtete und sich eine steinerne Müdigkeit meiner bemächtigte, überlegte ich, mit welchen Worten ich meinen Bericht beginnen wollte.

Ich wusste nicht zu sagen, ob es überhaupt einen Sinn ergab, in diesem von der Welt vergessenen, elegischen Ort daran zu denken, einen Artikel für Overmind zu schreiben. Doch hatte ich beschlossen, nachdem ich meinen Koffer ausgepackt und meine wenige Habe in dem antiquierten Schrank verstaut hatte, jeden Eindruck niederzuschreiben, den mir Arc´s Hill vermittelte. Was ich später, nach meiner Rückkehr in die Zivilisation, mit diesen Notizen machte, stand noch offen.

Nachdem ich die ersten Eindrücke von meiner Ankunft in dem Ort und dem, was sie in mir auslösten, aufgesetzt hatte, bemerkte ich, dass sich eine graue Dunkelheit über die Häuser gelegt hatte.

Ich hatte den erschreckenden Eindruck, als würde ich das abnorme Gemälde eines entmutigten Künstlers betrachten, der all sein Leid und seine Schwermut in sein Werk gelegt hatte.

Meine Gedanken wanderten zu meinem Gastgeber, und ich fragte mich, wie gut dieser wortkarge Mann meinen Vater wohl gekannt haben mochte.

Was wusste er mir zu sagen, das mir helfen konnte zu verstehen, aus welchem Grund mein Vater derart verwandelt zu seiner Familie zurückgekehrt war?

Ich erinnerte mich der kaum wahrnehmbaren Regung des Schankwirtes, als ich ihm bestätigte, James Feldmans Sohn zu sein.

In seinen Augen hatte ich geglaubt, ein kurzes Aufblitzen von Furcht zu erkennen.

Ich mochte mich getäuscht haben, denn immerhin herrschte in der Schankstube ein diffuses Licht vor, das es kaum möglich machte, sein Gegenüber näher zu betrachten. Doch wollte ich während meines Besuches in Arc´s Hill nichts dem Zufall überlassen. Zudem gehörte Oberflächlichkeit nicht zur Charaktereigenschaft eines guten Verlegers.

Ich beschloss, dem Wirt einen Besuch abzustatten, zudem ich ohnehin ein leichtes Hungergefühl verspürte. Meine letzte Mahlzeit hatte ich in einem Schnellimbiss in Durham eingenommen.

Mit Sicherheit konnte ich den Mann dazu bringen, mir mehr über meinen Vater zu erzählen, sofern er ihn wirklich gekannt hatte, wie er behauptete.

Als ich hinunter in den Schankraum kam, saß er hinter der Theke und blätterte mit ausdrucksloser Miene in einem Buch, das ihn nicht sonderlich zu interessieren schien. Mich überkam das dumpfe Gefühl, als hätte der Mann die ganze Zeit auf mich gewartet, denn kaum dass er meiner gewahr wurde, legte er das Buch zur Seite und begrüßte mich mit einem knappen Kopfnicken.

»Wenn ich Ihnen etwas zu Essen bereiten kann, müssen Sie es mich nur wissen lassen, Mr. Feldman«, sagte er mit seiner ruhigen Stimme und stützte sich dabei mit den Händen auf der Theke ab. »Ist alles im Preis inbegriffen.«

Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel, das ihm viel des düsteren Zuges nahm, der ihn umgab. Ich nickte meinerseits und gesellte mich zu ihm.

»Sie haben meine Gedanken erraten«, antwortete ich. »Ich war lange unterwegs.«

Der Mann brummte leise und deutete auf einen der Tische. »Setzen Sie sich. Ich mache Ihnen einige Bratkartoffeln und Eier. Und natürlich gebratenen Speck.«

Seine ausdruckslose Miene verwandelte sich plötzlich in ein geschäftiges Antlitz, und selbst seine Augen füllten sich mit Leben. Wie es schien, war der Mann dankbar dafür, dass sich das Gespräch zwischen uns fast von alleine entwickelte.

»Übrigens …« Ehe er sich abwenden und in der Küche verschwinden konnte, hielt er noch einmal inne. »Mein Name ist Paxton. Rufus Paxton.«


Die Mahlzeit, die mir der Schankwirt bereitet hatte, schmeckte um einiges besser, als ich es in dieser düsteren Spelunke erwartet hätte.

Paxton hatte sich wieder hinter seine Theke begeben und schien intensiv mit einer Liste beschäftigt zu sein, auf der er manche Dinge abhakte und andere wiederum mit fahrigen Bewegungen durchstrich.

Während ich aß, beobachtete ich den Mann aus den Augenwinkeln, und tatsächlich fiel mir auf, dass mich Paxton seinerseits auf ähnliche Weise taxierte. Ich spürte, dass es da einige Dinge gab, die ungesagt zwischen uns in der Luft schwebten, einem feinen Schleier gleich, den man sanft auf der Haut fühlt.

Der Schankwirt wurde nicht zuletzt durch die Worte meines Vaters für mich von Interesse, da er mir auf seinem Totenbett mitgeteilt hatte, dass ein Mann namens Paxton eine große Hilfe sein könnte. Schließlich, als ich gegessen hatte, winkte ich den Mann zu mir, während ich mir mit der Serviette die Finger säuberte.

»Kommen Sie, Mr. Paxton«, sagte ich, als der Mann damit begann, den Teller abzuräumen. »Setzen Sie sich zu mir. Ich glaube, so viel zu tun haben Sie bei diesem Wetter nicht.«

Paxton trug den Teller zur Theke, stellte ihn dort ab und sah sich dann in seiner Schankstube um. »Das liegt nicht am Wetter«, erwiderte er und blickte mit ernstem Blick zum Fenster hinaus. »Die Leute in Arc´s Hill sind lieber unter sich. Sie sind Einzelgänger.«

 

Ich erneuerte mein Angebot, indem ich mit einer einladenden Geste über den Tisch fuhr. »Was ist mit Ihnen?«, fragte ich. »Ich glaube, Sie sind ein Mann, der einem guten Gespräch nicht abgeneigt scheint.«

Paxton nickte und murmelte etwas. Dann wischte er seine Hände an einem Tuch sauber und nahm umständlich auf dem Stuhl mir gegenüber Platz. Ich bemerkte erneut, wie groß der Mann war, denn selbst als er saß, überragte er mich um gut einen Kopf.

Er faltete die Hände ineinander und blickte sich hilflos auf dem jetzt leeren Tisch um. Lediglich mein Glas mit Bier stand noch in einer Ecke.

»Das mit Ihrem Vater tut mir leid«, sagte Paxton endlich, ohne mir dabei in die Augen zu schauen. Er rieb seine Finger und begutachtete ausführlich die kurzen Nägel.

»Danke. Aber ich denke, zu guter Letzt war es eine Erlösung für ihn.«

Paxton nickte, als wüsste er, wie sehr mein Vater all die Jahre gelitten hatte, und verzog die Mundwinkel zu einem bitteren Lächeln.

Dank meiner Arbeit in der Redaktion und durch zahlreiche Reisen hatte ich viel mit Menschen zu tun und wagte zu behaupten, die meisten von ihnen gut und richtig einschätzen zu können.

Es war einfach eine Gabe, die man sich im Laufe der Jahre aneignete, und die in diesem Job unverzichtbar war, wollte man gute von schlechten Stories unterscheiden. Paxton erschien mir wie ein Mann, der etwas mit sich herumtrug, das förmlich aus ihm herauszubrechen drohte, jedoch von ihm mit Erfolg unterdrückt wurde. Da war etwas, worüber er reden wollte, doch wusste er nicht, wie er dieses Etwas in die passenden Worte kleiden sollte.

»Der Tod ist für viele eine Erlösung«, antworte er schließlich. Dann hob er plötzlich den Kopf und sah mich direkt an. »Manchmal aber auch nicht …«

»Was meinen Sie damit?«

Ich nahm mein Glas und trank einen Schluck. Dabei ließ ich Paxton über den Rand des Glases hinweg nicht aus den Augen.

»Der Tod ist nicht immer das Ende, wie wir es zu verstehen glauben«, fuhr er mit leiser Stimme fort, als vertraute er mir gerade ein gut gehütetes Geheimnis an. »Manches, was tot sein soll, bleibt es nicht.«

Ich spürte, wie mich bei den Worten des Mannes ein eisiger Schauder überfiel, der durch die bedrückende Atmosphäre in der leeren Taverne und die düsteren Silhouetten des Dorfes vor den Fenstern noch verstärkt wurde. Paxton starrte auf seine Hände, als versuchte er gerade den Sinn seiner eigenen Worte zu erfassen. Dann plötzlich blickte er erneut zu mir auf, als bemerkte er erst jetzt, dass ich noch zugegen war.

»Ihr Vater war ein guter Mann, Mr. Feldman. Tut mir ehrlich leid, zu hören, dass er verstorben ist.«

»Woher kannten Sie ihn?«, fragte ich unvermittelt, obgleich mir bewusst war, dass mein Vater während seines Besuches 1986 im ›Knights Head‹ genächtigt hatte. Doch wollte ich dies aus Paxtons Mund hören.

»Ihr Vater hatte in unserer Pension übernachtet«, antwortete dieser auch zu meiner Zufriedenheit. »Das heißt, damals gehörte das Gasthaus noch meinem Vater. Doch ich half oft in der Taverne aus, und so lernte ich Ihren Vater ebenfalls kennen.«

Plötzlich stiegen all jene Fragen an die Oberfläche meines Bewusstseins, die ich seit über zwanzig Jahren in mir vergraben trug. All jene offenen Fragen, auf die ich nie eine Antwort erhalten und von denen mir mein Vater auf dem Sterbebett einige nur andeutungsweise beantworten konnte. Mit einem Schlag fühlte ich mich, als sei ein Riss in mir entstanden, und all das Ungesagte und Zurückgehaltene dränge ans Licht.

Doch schätzte ich Paxton als einen Mann ein, der sich seine Worte wohlweislich überlegte und nicht unbedacht losredete, schon gar nicht, wenn ihm ein Fremder für ihn eventuell unangenehme Fragen stellte.

Anstatt meine Neugierde zum Ausdruck zu bringen, nahm ich einen erneuten Schluck aus meinem Glas. Kaum, dass ich es wieder abgesetzt hatte, musterte mich Paxton mit unsicherem Blick. »Was hat Ihnen Ihr Vater erzählt?«

»Was meinen Sie? Über Ihrem Gasthof oder über Arc´s Hill?«

Paxton breitete die Arme aus, als wüsste er darauf keine Antwort.

Ich beschloss, dem Drängen meiner Fragen zumindest ein klein wenig nachzugeben.

»Mein Vater hat mir seltsamerweise nie etwas über seinen Besuch in diesem Städtchen erzählt. Selbst meine Fragen blieben unbeantwortet. Erst als er schwer krank wurde und spürte, dass es mit ihm zu Ende ging, hat er einige Andeutungen mir gegenüber gemacht.«

Ich beobachtete meien Gastgeber genau. Paxton wurde aufmerksamer, seine Hände verschränkten sich ineinander und hielten sich gegenseitig fest, während sein Blick mich wieder zu fixieren schien.

»Was hat er zu Ihnen gesagt?«

Ich überlegte kurz, Paxton von den Worten meines Vaters, das Grab des Dämons betreffend, zu berichten. Doch dieser Zeitpunkt schien mir noch nicht gekommen.

»Sagen Sie mir erst, was mein Vater in Arc´s Hill gesucht hatte, Mr. Paxton. Oder zumindest, was er zu finden hoffte. Als der Mann 1986 zu seiner Familie – zu mir und meiner Mutter – zurückkehrte, war er nicht mehr derselbe.«

Ich griff erneut nach dem Glas. Doch anstatt zu trinken, rollte ich es gedankenverloren zwischen den Handflächen.

»Er wirkte geistesabwesend und verschlossen. Zu niemandem sprach er ein Wort darüber, was er hier erlebt hatte.«

Ich blickte Paxton geduldig an.

»Ich hatte mir große Sorgen um meinen Vater gemacht. Und meine Mutter hatte gar Angst vor ihm, auch wenn sie diese nie zu äußern gewagt hatte.«

Paxton schüttelte den Kopf und atmete tief ein und aus. »Ihre Furcht war unbegründet. Ihr Vater war immer noch derselbe Mann, den Sie kannten. Er hat viel von Ihnen erzählt. Von seiner Familie. Von seiner Frau und auch von Ihnen, Mr. Feldman.«

Ein Lächeln spielte um Paxtons Mund, als schwelgte er in längst verloren geglaubten Erinnerungen. »Ihre Angst, was Sie und Ihre Mutter betraf, war völlig abwegig. James hatte Sie beide sehr geliebt.«

Mir entging nicht, dass der Mann meinen Vater mit Vornamen anredete. Die Aussicht, vor mir einen Menschen zu wissen, der ihn offensichtlich besser gekannt hatte, als er im Augenblick zuzugeben bereit war, und der mir einige quälende Fragen beantworten konnte, ließ mich schaudern.

»Aber was hat ihn dann derart verändert?«, fragte ich.

Paxton antwortete nicht.

Vielmehr bekam ich den Eindruck, dass der Mann vor seinen Augen noch einmal seine eigene Geschichte mit meinem Vater erlebte. Ein seltsamer melancholischer Glanz hatte sich seines Blickes bemächtigt, wie ihn etwa ein Mann besitzen würde, der sich schwerer Zeiten in seiner Vergangenheit erinnerte.

»Ich nehme an, Sie kannten meinen Vater etwas besser, als Sie zugeben wollen. Oder erinnern Sie sich nach über zwanzig Jahren noch an die Vornamen eines jeden Besuchers von Arc´s Hill?«

Ich wusste, dass ich ein riskantes Spiel begonnen hatte. Auf keinen Fall wollte ich Paxton durch meine direkten Worte gegen mich aufbringen.

Doch sehr zu meinem Erstaunen klärte sich sein Blick. Wieder spielte dieses eigentümliche, nachdenkliche Lächeln um seine Lippen.

»Sie haben Recht, Mr. Feldman. Ich kannte Ihren Vater sehr gut. Obgleich ich ihn nur einmal in meinem Leben getroffen hatte, und das war 1986, als er hier in unserem Städtchen war.« Er sah zum Fenster hinaus, an dem Regentropfen, einem abstrakten Gemälde gleich, herabliefen und die Welt dahinter verzerrten. »Über all die Jahre hegten wir brieflichen Kontakt. Zu Beginn beschränkte sich der Briefwechsel auf Ihren Vater und meinen Vater. Doch als dieser vor etwa fünf Jahren verstarb, blieb der Kontakt dennoch bestehen, und ich übernahm die Rolle meines Vaters.«

Das war das Erste, was ich hörte. Weder aus seinen Erzählungen noch aus dem Nachlass meines Vaters war mir etwas über eine Korrespondenz zu Arc´s Hill bekannt. Die Fragen, die in mir wie flüssiges Feuer brannten, vermehrten sich, doch wollte ich mein Gegenüber nicht durch übertriebene Neugierde abschrecken.

»Das erklärt nicht, was meinen Vater derart verändert hat«, sagte ich vorsichtig, jedes Wort abwägend.

»Ich nehme an, die Briefe sind Ihnen unbekannt«, antwortete Paxton, als wüsste er die Antwort bereits, und blickte wieder zum Fenster hinaus.

»Ich wusste nichts über einen Briefwechsel, da haben Sie Recht. Alles, was mir bisher bekannt war, ist, dass mein Vater vor zwanzig Jahren Arc´s Hill einen Besuch abstattete und hier im ›Knights Head‹ genächtigt hatte.«

Paxton nickte, sein Gesicht wurde ernst. Ich konnte erkennen, wie er mit sich haderte und nicht wusste, wie weit er sich aus seiner Deckung wagen sollte.

»Ich denke, ich sollte Ihnen erzählen, wieso Ihr Vater hier war«, flüsterte er schließlich und beugte sich zu mir, als befürchtete er ungebetene Zuhörer. »Doch lassen Sie mich erst die Taverne abschließen.«

Er stand auf, ein Hüne von einem Mann, der sich unter so manchem Deckenbalken hinwegducken musste, und ging zur Tür.

»Ich glaube, bei diesem Wetter wird sich heute ohnehin niemand mehr hierher verirren.«

Paxtons Stimme sollte ungezwungen klingen, als hätte er gerade einen Scherz gemacht. Und doch wurde ich das dumpfe Gefühl nicht los, dass ich, nachdem der Schankwirt die Tür verriegelt und das Licht in der Eingangsdiele gelöscht hatte, von nun an ein Gefangener in der altertümlichen, in trüben Lichtschein getauchten Taverne sein würde.


Paxton setzte sich wieder und verschränkte die Hände so fest ineinander, als versuche er zu beten. Der Stuhl knarzte unter seinem Gewicht, das einzige Geräusch, das unsere kleine Welt im ›Knights Head‹ erfüllte.

Der Blick, mit dem er mich ansah, verriet mir, dass ihm das, was er mir zu erzählen gedachte, nicht leicht über die Lippen kommen würde. Ich sah ihm an, dass er darüber nachsann, ob es das Richtige war, sich mir anzuvertrauen.

»Frank … ich darf Sie doch Frank nennen?«

Paxtons Beginn der Unterhaltung überraschte mich, doch ich nickte.

»Ihr Vater kam 1986 auf Bestreben meines Vaters nach Arc´s Hill. Er bat ihn, hierher zu kommen wegen einer Sache, die …« Er verstummte und musterte mit fadenscheinigem Interesse seine Finger. »… die wiederum zwanzig Jahre zuvor in dem Ort geschehen war.«

Ich blickte Paxton mit großen Augen an. Dieser hielt inne und sah mich abwartend an.

»Unsere Väter kannten sich bereits vor 1986?«

»Das ist richtig. Genauer gesagt, hatten sich beide bereits im Jahre 1966 kennengelernt.«

Ich schüttelte den Kopf, da Paxton mir Dinge erzählte, die ich bis zu diesem Zeitpunkt weder wusste, noch erwartet hatte. Ich wollte etwas über die Beweggründe erfahren, die meinen Vater diesem düsteren Städtchen einen Besuch abstatten und ihn derart verändert wieder zurückkehren ließen. Doch plötzlich wurde mir bewusst, dass die Verbindung zwischen Arc´s Hill und James Feldman einen tieferen Ursprung besitzen musste, als mir bislang bekannt war.

»Er hatte diesen Ort all die Jahre vor 1986 mit keinem Wort erwähnt«, sagte ich ziemlich ratlos. »Ebensowenig, dass er Ihren Vater kannte.«

»Das hatte seine guten Gründe, Frank. Denn das, was die Freundschaft unserer Väter begründete, waren Dinge, über die man außerhalb von Arc´s Hill besser nicht spricht.«

Wieder schüttelte ich den Kopf, was Paxton ein leichtes Lächeln abverlangte. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich Ihnen die Geschichte von Anfang an erzähle. Zumindest die Dinge, die mir bekannt sind. Ich war damals selbst ein kleiner Junge.«

Paxton ging zur Theke, füllte zwei Gläser mit Whiskey und kam mit ernstem Gesicht zum Tisch zurück.

»Ich glaube, die werden wir brauchen«, sagte er, setzte sich und schob mir eines der Gläser zu. Die Flasche stellte er zwischen uns.

»Was ich Ihnen sage, ist nicht einfach zu verstehen. Aber hier in dieser Gegend geschehen Dinge, die mit dem menschlichen Verstand oftmals kaum zu vereinbaren sind.«

Paxton griff zu seinem Glas und prostete mir zu. Als ich keinerlei Anstalten machte, nach dem Whiskey zu greifen, setzte er sein Glas wieder ab und starrte mit nachdenklichem Blick auf den Tisch. Plötzlich schien die Luft dicker zu werden, als füllte sich der Raum mit den Geistern all jener, die in irgendeiner Form mit der Geschichte und dem damit einhergehenden Schicksal des Ortes verknüpft waren. Dann endlich begann Paxton mit schwerer Stimme zu erzählen.

 

»Ihr Vater kam im Frühjahr 1966 zum ersten Mal nach Arc´s Hill …«


James Feldman … 1966

Ich kam in diesen seltsamen, von der Zeit vergessenen Ort, nachdem mir ein alter Studienfreund einen Brief zukommen ließ. Ich hatte mit diesem Freund zusammen Journalismus studiert, und nach unseren gemeinsamen Tagen auf der Brighton University trennen sich unsere Wege, nicht aber unsere Verbindung.

Arthur verschlug es in ein kleines Städtchen mit Namen Durham, wo er Mitherausgeber eines wöchentlich erscheinenden Magazins wurde. Und aus jenem Ort erreichte mich eines Tages dieser Brief, der mein gesamtes späteres Leben, bis hin zu meinem Tode, verändern sollte.

Arthur war von mir darüber informiert gewesen, dass ich erst vor kurzem eine kleine Zeitung mit Namen Overmind gegründet und unter erheblichen Selbstkosten auf den Markt gebracht hatte. Da sich Arthur, ebenso wie ich, von der Welt des Unbegreiflichen und der Existenz des Übernatürlichen auf höchster Ebene angezogen fühlte, schien er einen guten Riecher für derartige, oftmals morbide Begebenheiten zu besitzen, die sich ihren Weg in unsere moderne Gesellschaft suchten.

Und aus diesem Grund schrieb er mir eines Tages einen Brief, in dem er mir von einem Städtchen namens Arc´s Hill berichtete, das sich keine fünf Meilen westlich von Durham befand, und in dem er selbst einen Großteil seiner Kindheit verbracht hatte. In diesem Städtchen sollten sich, seinen Angaben zufolge, unerklärliche Dinge zutragen. Er hatte mir von einem Mann berichtet, der in der Schenke des Ortes aufgetaucht sein soll und wirres Zeug über eine schwarze Stadt und einen Dämon fantasierte, der ihn in seinen Träumen heimsuchte. Mehr allerdings vermochte mir Arthur nicht darüber zu berichten, doch hatte er dabei an mich und meine Zeitung gedacht, und natürlich an mein Interesse an unerklärlichen Phänomenen. Ich maß dem Brief zunächst nur wenig Bedeutung bei, denn es war nicht das erste derartige Schreiben, das mich erreichte, seit ich Overmind gegründet hatte. Scheinbar gab es in ganz England Menschen, die irgendwann in ihrem Leben irgendwelchen unheimlichen Phänomenen begegnet waren oder Orte kannten, an denen es spukte, und die mich darauf aufmerksam machen wollten. Die meisten der Briefe warf ich direkt in den Papierkorb, wusste ich doch, wie groß das Geltungsbedürfnis vieler Menschen in der heutigen Zeit war. Doch ich kannte meinen alten Studienfreund als einen besonnenen und ernsthaften Menschen, der sich nicht irgendwelche Geschichten aus den Fingern saugen würde, bloß um Aufmerksamkeit zu erringen. Zudem konnte ich durchaus eine Reise nach Arc´s Hill mit einem Besuch bei meinem alten Freund in Durham verbinden. Und wer vermochte schon zu sagen, wieviel Wahrheit in den Worten seines Briefes lag.

Und so hatte ich mich, nachdem ich einen ganzen Tag in Durham bei Arthur und seiner Familie verbracht hatte, in dem kleinen Städtchen Arc´s Hill am Fuße gewaltiger, düster anheimelnder Berge in einem heruntergekommenen Gasthaus mit dem seltsamen klingenden Namen ›Knights Head‹ eingeschrieben.

An jenem Abend saß ich in meiner Kammer, die unter dem Dach lag und deren kleines Fenster zu dem in Dunkelheit liegenden Marktplatz des Ortes hinausging, und dachte darüber nach, was mich überhaupt hierher gerufen hatte, und wie ich als Nächstes vorzugehen hatte. Ich besaß noch nicht viel Erfahrung als Journalist, und noch weniger lag mir das Recherchieren vor Ort. Deshalb nahm ich mir vor, behutsam vorzugehen, um mir nicht bereits am ersten Tag den Zorn der Dorfbewohner zuzuziehen, von denen ich wusste, dass sie, wie es in vielen anderen entlegenen Orten der Fall war, durchaus eigene altertümliche Ansichten vertraten, die teilweise in uraltem Aberglauben wurzelten.

Ich beschloss, hinunter in die Schankstube zu gehen, ein Bier zu trinken und erst einmal den Gesprächen zu lauschen, denen sich die einfältigen Dorfbewohner am Abend hingaben. Doch als ich in die niedrige, mit schweren Holzbalken versehene Taverne trat, sah ich mich der ersten Enttäuschung gegenüber. Ich traf lediglich zwei Männer an diesem Abend dort an. Sie saßen an einem Tisch nahe der zur Straße hinausgehenden Fenster und blickten mit mürrischem Blick und verkniffenen Gesichtern in die nahende Nacht hinaus. Hinter der Theke stand der Schankwirt und Betreiber des Gasthauses, der sich mir als Daniel Paxton vorgestellt hatte, und rieb die altertümliche Theke mit einem Tuch ab. Scheinbar dachte er bereits daran, die Schenke zu schließen und Feierabend zu machen. Ich war versucht, wieder nach oben in meine Kammer zu gehen, denn dem Schweigen in der Stube haftete etwas Unheimliches und Erdrückendes an. Doch dann bestellte ich mir, entgegen meinem Vorhaben, bei Paxton ein Bier und setzte mich an einen einzelnen Tisch in der Ecke, nahe der beiden schweigsamen Männer.

Ich betrachtete sie eine Weile und dachte daran, wie mir Arthur in seinem Brief mitgeteilt hatte, Arc´s Hill sei irgendwo zwischen den Jahrhunderten von der Zeit vergessen worden. Tatsächlich machten die beiden alten Männer den Eindruck, als befänden sie sich immer noch im neunzehnten Jahrhundert. Ihre Kleidung war mit der einfacher Bauern aus jenen Zeiten zu vergleichen, ihre Gesichter wirkten verhärmt, die Blicke hart. Hinzu kam der Atem einer altertümlichen Schankstube, wie man sie in alten Siedlungen des Mittelalters vermutet haben mochte.

Solche Orte waren dafür geschaffen, Gespenster- und Spukgeschichten hervorzubringen. Doch neigten die Menschen derartiger Orte dazu, noch verschwiegener zu werden, wurden sie mit Dingen konfrontiert, die über ihr Begriffsvermögen hinauswuchsen. Aus Erfahrung wusste ich, dass man Fremden in entlegenen Dörfern eher skeptisch entgegentrat und sie mit Argwohn betrachtete. Die beiden Alten oder gar Paxton einfach in ein Gespräch zu verwickeln und sie offen auf jenen merkwürdigen Mann anzusprechen, der laut Arthurs Brief in seinen Träumen von Dämonen heimgesucht wurde, konnte für mich fatale Folgen mit sich bringen.

Aus diesem Grund blieb ich schweigend an meinem Tisch sitzen, trank mein Bier und warf den beiden Männern am Tisch nahe der Fenster verstohlene Blicke zu. Doch keiner von ihnen sprach auch nur ein einziges Wort. Sie saßen da, nahmen kleine Schlucke ihres Bieres und starrten in die Dunkelheit hinaus, die jenseits der Fenster von ein paar Lampen erleuchtet wurde. Beide schienen ihren düsteren eigenen Gedanken nachzuhängen, ihre Gesichter wirkten verschlossen und drückten den Hauch einer Furcht aus, den sie versuchten, sich nicht anmerken zu lassen. Ihre Blicke wanderten des Öfteren unstet zum jeweils anderen. Dann blickten sie wieder zum Fenster hinaus, ohne ein Wort zu äußern.

Es erschien mir, als würden beide auf etwas warten, das die Nacht mit sich brachte.

Schließlich legten sie stumm ihre Zeche auf den Tisch, erhoben sich und grüßten Paxton mit einer knappen Handbewegung.

»Ich glaube, heute Nacht wird es still bleiben«, murmelte der eine und machte eine Bewegung, als lüfte er den Hut vor Paxton.

»Vielleicht gibt es morgen etwas Neues von Ward«, erwiderte der andere und nickte dem Schankwirt ernst zu. Sein Gesicht glich einer starren Maske, doch in seinen hellen Augen glaubte ich eine tief sitzende Furcht zu erkennen.

»Ich hoffe nicht«, antwortete Paxton.

Dann warf er mir einen Blick zu, der mir bedeutete, dass ich zu solch später Stunde der einzige und letzte Gast war. Ich verstand seine Geste, nahm mein Bier und ging zur Theke, während die beiden Männer mit müden Schritten die Stube verließen und in der Dunkelheit verschwanden.

Paxton war zum Tisch der beiden Alten gegangen und hatte die Geldscheine eingestrichen. Nachdem er zurückgekommen war, deutete er mit einem Kopfnicken auf mein Glas.

»Soll ich es anschreiben?«, fragte er und hielt bereits einen Stift in der Hand.

»Wenn das möglich ist.«

Paxton nickte abwesend. »Sie bezahlen einfach, wenn Sie wieder abreisen.«

Damit schrieb er etwas auf einen Zettel und legte ihn in das kleine, lederne Gästebuch, in das ich mich am Mittag hatte eintragen müssen.

»Haben Sie heute Abend noch jemanden erwartet?«, fragte ich, da die Anspannung, die sich wie ein stilles Tuch über der Schenke ausgebreitet hatte, begann, mir die Luft zum Atmen zu nehmen.

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