Die Legende von Arc's Hill

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2006

Zwanzig Jahre waren vergangen, seit mein Vater, der Verleger und Journalist James Feldman, als toter Mann aus Arc´s Hill zurückkehrte …

Im modernen Meer der Zeit, das von Hektik und dem ständigen Streben nach Erfolg und Reichtum geprägt und vergiftet ist, gibt es keinen Platz für die alten Geschichten über Geister und Dämonen oder ähnliche übersinnliche Phänomene, die uns als Kind noch zu reizen wussten.

Derartige Mythen und Sagen wurden von der Moderne ins Reich purer Phantasie und alteingesessenem Aberglauben verbannt und jenen schlichten Geistern vorbehalten, die man gemeinhin in unserer Gesellschaft als leichtgläubig, wenn nicht gar schwachsinnig bezeichnet.

Denkt man heute an übersinnliche Erscheinungen, bringt man sie, dank Fernsehen und Kino, nur allzu gerne mit den hohen und kalten Zimmern herrschaftlicher Häuser in Verbindung, in denen die Seelen lange Verstorbener ihr Unwesen treiben. Oder man denkt an mittelalterliche Burgen mit ihren dunklen, nach Zerfall stinkenden Gängen und verschlossenen Turmzimmern, in denen man des Nachts das ruhelose Heulen der in den Kerkern Verschiedenen oder gar einer gemeuchelten Adligen vernehmen konnte.

Ein jeder von uns besitzt eine gewisse Faszination derartigen Geschichten gegenüber, auch wenn diese innere Verzauberung nie im Kreise seiner Mitmenschen geäußert wird. Viele von uns hegen gleichfalls einen festen und tief verwurzelten Glauben an die Existenz anderer Bewusstseinsebenen und Welten in sich, der von keiner wissenschaftlichen Theorie gestützt werden kann.

Doch auch dieser Glaube an jene parallelen Sphären öffnet seltsamerweise den Geist desjenigen nicht dafür, diese spirituelle Welt ebengleich im öffentlichen Leben zu akzeptieren, wie er die Welt als gegeben hinnimmt, die er mit seinen Augen sehen und mit Händen greifen kann.

Die Zeit der Geister scheint vorbei, glaubt man den verhehlenden Worten jener Menschen, die man direkt auf ihre Erfahrungen und ihren Glauben an die Welten jenseits der unseren anspricht. Übernatürliche Erscheinungen können mit der modernen Jagd nach Status, Reichtum und Karriere nicht mehr vereinbart werden. Der Geist der Moderne scheint die Geister der Vergangenheit in ihre dunklen Grüfte gebannt zu haben.

Und doch gilt es für manche Menschen in dieser schnellen und lärmenden Welt den Glauben an ruhelose Seelen und umherirrende Geister am Leben zu erhalten. Denn einen Funken jenes Glaubens besitzt ein jeder von uns tief in seinem Innern, in einer kleinen furchtsamen Ecke seines Bewusstseins verborgen, mag er ihn auch noch so sehr verleugnen und von sich weisen.

Diesen Funken gilt es, zum Glimmen zu bringen.

Und dafür lebe ich.

Mein Name ist Frank Feldman, und ich bin Herausgeber eines Magazins, das sich Overmind nennt.


Gegründet hatte die Zeitschrift mein Vater James Feldman im Jahre 1964, als man noch Dingen wie dem mysteriösen Außerirdischen von Roswell und der damit verbundenen Verschwörungstheorie der US-Regierung in den späten vierziger Jahren Glauben schenkte.

Während er die Recherchen und Studien der übersinnliche Phänomene seinerzeit mit der ihm eigenen Begeisterung betrieb, wuchs – sehr zum Leidwesen meiner Mutter – auch meine kindliche Zuneigung zu diesen abstrusen Themen, die das Magazin behandelte. Interessierten sich andere Jungen in meinem Alter für die wilde Musik der Flowerpower-Generation und träumten von der Stadt der freien Liebe in Amerika, versuchte ich alles über Spukhäuser in den skandinavischen Wäldern oder die mehrfach beschriebenen Geistererscheinungen auf einem verlassenen Bauernhof in den südlichen Provinzen von Spanien herauszufinden.

Sobald ich ein Alter erreicht hatte, in dem mein Vater es vor meiner Mutter rechtfertigen konnte, mich in die Redaktion von Overmind einzubinden, trat ich mit viel Idealismus und Elan der kleinen Gruppe von Schreibern bei, die mein Vater damals beschäftigte.

Mein persönlicher Funke an Glauben und Akzeptanz wurde augenblicklich zum Glimmen gebracht. Und aus dieser Glut entwickelte sich bald ein unkontrollierbarer Flächenbrand, der meinen Geist in wahre Ekstase versetzte und ihn gleichermaßen zu verschlingen drohte.

Nach dem Tod meines Vaters vor fast einem Jahr war es mir zuteil geworden, seinen Traum weiterzuführen. Es ist in dieser Branche keine leichte Aufgabe, diesen kleinen Funken an Glauben in vielen modernen und erfolgsorientierten Menschen zum Glühen zu bringen, und diese Glut zusätzlich anzufachen, bis daraus ein Feuer entsteht.

Overmind ist ein Magazin, das unter eingefleischten Fans hoch gehandelt wird. Jedoch ist es mir bislang noch nicht gelungen, die breite Masse der Leser mit meinen Artikeln zu erreichen. Doch, um der Wahrheit die Ehre zu geben, ist dies weder mein erklärtes Ansinnen, noch war es das meines Vaters. Vielmehr liegt mein Bestreben darin, die Glut zu schüren, die wir im Laufe der Jahre bereits in jenen Menschen angefacht hatten, die den erforderlichen Glauben an Erscheinungen und parallele Welten in sich vereinen und – vor allen Dingen – ihre geistigen Neigungen auch nicht zu verleugnen suchen.

Nicht zuletzt wollte ich auf keinen Fall das Andenken meines Vaters in Vergessenheit geraten lassen, denn ich hatte oft selbst miterlebt, mit welchem Enthusiasmus er Leib und Seele diesem obskuren Thema verschrieben hatte.

Zu den Aufgaben eines Herausgebers gehörte es, neben vielen trockenen und aufzehrenden Recherchearbeiten, sich um gewisse Geschichten persönlich zu kümmern.

Geschichten, von denen man spürte, dass sie eine eigene Seele besaßen. Einen tief in sich vergrabenen, schlafenden Geist, den es zu erwecken galt …

… ganz gleich, ob dieser Geist guter oder böser Natur war.

Man musste ihn packen und seine Geschichte erzählen lassen.

Aus diesem Grund stattete ich im Herbst 2006 dem kleinen Städtchen Arc´s Hill im Westen Englands einen Besuch ab …


Zwanzig Jahre sind vergangen, seit sich etwas in Arc´s Hill ereignet hatte, das mit wissenschaftlichen und rationalen Erklärungen nicht wiedergegeben werden konnte.

Der regionalen Presse in der Gegend von Durham, der letzten Bastion von Zivilisation, bevor der Wald den Reisenden nach Arc´s Hill führte, war dieses Geschehene nicht mehr wert, als einen kleinen Artikel auf der letzten Seite, wo normalerweise von Dingen berichtet wurde, denen nicht allzu viel Interesse entgegengebracht wurde.

Die großen, traditionsreichen Zeitungen Südenglands, wie etwa die London Times, ignorierten die Ereignisse, die sich rund einhundertsechzig Meilen westlich der Metropole ereignet hatten, gar völlig.

Selbst meinem Vater war es damals nur durch gute Kontakte gelungen, mehr über die seltsamen Geschehnisse in Erfahrung zu bringen. Überall in England unterhielt James Feldman Kontakte zu Menschen, die, wie er selbst, ihr Leben der Erkundung übersinnlicher Phänomene verschrieben hatten. Männer und Frauen, die er auf zahlreichen Exkursionen oder auf zwielichtigen Zusammentreffen in geheimen Logen auf der ganzen Welt kennengelernt hatte. Viele dieser Menschen waren aber auch ehemalige Studienkollegen aus seinen jungen Jahren an der Universität von Cambridge.

Einer dieser Freunde meines Vaters, ein Mann namens Arthur Fuller, war es schließlich gewesen, den es im Jahre 1986 auf einer seiner zahlreichen Reisen durch den Süden und Westen Englands in ein kleines Städtchen namens Arc´s Hill verschlagen hatte.

Wie Fuller verlauten ließ, hatte er sich auf der Suche nach unerklärbaren Begebenheiten oder gar Geistergeschichten befunden, die man sich vornehmlich in kleinen Dörfern erzählte, und sich nach den wirren Erzählungen eines alten Mannes in einer Taverne im Norden Durhams, in jenem kleinen, unheimlichen Dorf wiedergefunden.

Zumindest war dies der Wortlaut, den mir mein Vater zu damaliger Zeit hatte zukommen lassen. Die Wahrheit jedoch, so sollte ich erst sehr viel später erfahren, war eine andere.

Nach seiner Rückkehr aus Arc´s Hill schrieb Fuller meinem Vater einen langen Brief, in dem er behauptete, in dem Städtchen auf einen Mann gestoßen zu sein, der vom Teufel berührt worden sei.

Nur drei Tage später, nachdem er die Nachricht erhalten hatte, begab sich James Feldman auf den Weg zu jenem seltsamen Dorf. Dabei wirkte er angespannt und ernst, ganz entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten, die er an den Tag legte, wenn er auf eine interessante Geschichte gestoßen war.

Selbst mir, seinem Sohn und engsten Mitarbeiter des Magazins, hatte er nicht anvertrauen wollen, aus welchen Gründen es unabdingbar war, alleine nach Arc´s Hill zu reisen. Auch nicht, weshalb er derart nervös wirkte, während er schweigsam seine Koffer packte und sich ebenso wortkarg von mir und meiner Mutter verabschiedete.

Hatte ich ihn Tage vor seiner Abreise noch auf den Brief von Arthur Fuller angesprochen, so lernte ich meinen Vater, den ich stets als besonnenen und sachlichen Menschen geschätzt hatte – trotz seiner merkwürdigen Passion im Leben – nun als einen Mann kennen, der nur noch wenig mit dem mir vertrauten Bild dieses Menschen gemein hatte. Er wirkte unkonzentriert und abwesend und schien nicht einmal zu registrieren, wenn sich jemand in seiner Nähe aufhielt und das Wort an ihn richtete. Er redete kaum aus freien Stücken, und wenn, dann führte er Selbstgespräche, als müsse er mit wirrem Flüstern seine Entscheidung vor sich selbst rechtfertigen. Sprach ich ihn auf seine Reise an und darauf, was er sich in dem kleinen Städtchen zu finden erhoffte, wich er meinen Worten aus oder bedachte mich mit einem Blick, der voller Furcht und dunkler Vorahnungen war.

 

Ich glaubte aber auch eine stumme Warnung in seinen Augen lesen zu können, die mir ohne Worte riet, mich nicht in diese Geschichte einzumischen.

Ich kannte meinen Vater und seine Leidenschaft für das Übersinnliche sehr gut. Ebenso das Funkeln in seinen Augen, wenn er den Faden einer interessanten Geschichte aufgegriffen hatte und damit begann, jedes noch so kleine Detail dieser Begebenheit bis zurück zu den Wurzeln zu enthüllen.

Doch das, was ich in diesen Tagen im Herbst 1986 in den Augen meines Vaters sah, war pure Furcht. Und vielleicht etwas, das ich als sein Sohn, als verzweifelten, stillen Hilferuf hätte deuten müssen, es damals allerdings nicht tat. Um dies alles verstehen zu können, waren meine Sorge um den Mann und seinen Zustand, ebenso seine befremdliche Verwirrung, einfach zu groß.

So hatte ich meinen Vater ziehen lassen, ohne dass er mir auch nur ein Wort darüber erzählte, was ihm Arthur Fuller berichtet hatte. Das Wenige, das er mir anvertraut hatte, war verworren und mit abwesendem Klang in der Stimme vorgebracht und wies mich indirekt an, mich in diesem Fall aus seinen Belangen herauszuhalten.

Während er sich in Arc´s Hill aufhielt, meldete sich mein Vater nicht bei seiner Familie. Ein weiterer Umstand, der ungewöhnlich für ihn war, telefonierte er doch bei ähnlichen Exkursionen fast jeden Abend mit meiner Mutter, sofern er dies auf Grund seiner Recherchen einrichten konnte.

Diesmal jedoch hörten wir beinahe eine Woche nichts von ihm, was meine Mutter fast verzweifeln ließ, auch wenn sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen.

Doch ich lebte damals im selben Haus, besaß eine eigene, kleine Wohnung unter dem Dach, und konnte den inneren Zerfall meiner Mutter nur zu gut beobachten.

Wann immer ich es einrichten konnte, war ich für sie da, führte sie zum Essen aus oder lud sie ins Kino ein. Dies führte dazu, dass sich ihre Augen wieder etwas mit Leben füllten und wir uns über Dinge unterhalten konnten, die sich nicht ausschließlich um meinen Vater und seine mysteriöse Reise drehten. Doch am Abend, wenn es still wurde und ihr Blick fast automatisch zum Telefon ging und es stumm blieb, ohne ihr Leid zu lindern, konnte ich sehen, wie sich wieder der Schleier tiefster Besorgnis über ihren Blick legte.

In diesen Momenten hasste ich meinen Vater für das, was er tat. Für das, was er meiner Mutter und auch mir antat. So sehr ich seinen Enthusiasmus für seinen Job nachvollziehen konnte, so besaß er dennoch nicht das Recht, die Menschen, die ihn liebten, in einer derart schrecklichen Form zu verletzen.

Dann, eine Woche nach seiner Abreise, erreichte uns ein Brief.

Darin bat er sowohl mich als auch meine Mutter um Verzeihung für sein Verhalten, und wir bräuchten uns keine Sorgen um ihn zu machen.

Alles, so schrieb er damals, verliefe genauso, wie er es erhofft hatte, und in einigen Tagen würde er sich auf den Weg nach Hause machen.

Meine Mutter war erleichtert. Sie drückte den Brief an ihre Brust und weinte hemmungslos, obgleich ich noch zugegen war.

Die Worte meines Vaters erlösten auch mich, und meine Wut auf den Mann verflog in dem Maße, wie meine Hochstimmung über seinen Brief zunahm. Doch trotz aller Freude darüber, endlich ein Lebenszeichen von James Feldman zu erhalten, war mir nicht entgangen, wie unsauber der Brief verfasst war … und wie unstet mir die ansonsten exakte Schrift meines Vaters erschien.

Als hätte er den Brief in höchster Hast und mit zitternder Hand niedergeschrieben.


Zwei Tage später kam mein Vater, wie angekündigt, tatsächlich nach Hause.

Ich erschrak, als ich ihn sah, denn die zehn Tage, die er in diesem merkwürdigen Städtchen zugebracht hatte, schienen ihn Jahre seines Lebens gekostet zu haben.

Sein Gesicht wirkte fahl und eingefallen, und um seine Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet, die von zu wenig Schlaf und zu viel Arbeit kündeten.

Meine Mutter schien von diesen augenscheinlichen Veränderungen nichts mitzubekommen. Sie drückte ihren Gatten an sich, weinte und beteuerte fortwährend, wie glücklich sie sei, ihn endlich wieder in ihrer Nähe zu wissen. Dann verfluchte sie ihn und schlug ihm gegen die Brust und fragte, wieso er sich nicht gemeldet hatte. Schließlich begann sie erneut zu weinen, schmiegte sich fest in seine Arme und lachte zu guter Letzt mit glänzenden Tränen in den Augen.

Ich meinerseits war auf seine Geschichte gespannt und hoffte, dass mir mein Vater berichten würde, was sich in den Tagen in Arc´s Hill ereignet hatte und ob sich die Reise für ihn und unser Magazin gelohnt hatte.

Doch in diesem Punkt wurde ich enttäuscht.

Alles, was ich James Feldman entlocken konnte, war, dass es sich bei Arc´s Hill um eine sehr seltsame Stadt handelte, die westlich von Durham in einem stillen, vergessenen Landstrich lag, und die irgendwann in der Zeit stehen geblieben sein musste.

Es sei eine Stadt, die viele der Geistergeschichten vergangener Jahrhunderte verbarg. Doch trotz intensiver Suche war mein Vater auf nichts gestoßen, das es wert gewesen wäre, im Overmind aufgenommen zu werden. Diesmal hätte sich sein Informant und Freund Arthur Fuller getäuscht. Dies alles äußerte er mit einer kraftlosen, fast lethargisch zu nennenden Stimme, als widerstrebte es ihm, meine drängenden Fragen beantworten zu müssen.

Mit diesen Erklärungen musste ich mich damals begnügen. Spätere, zögerliche Versuche, mehr über jenen geheimnisvollen Ort zu erfahren, schlugen ebenfalls fehl. Mein Vater verstand es jedes Mal geschickt, das Thema zu wechseln. Auch wurde nie ein Artikel über seine Reise oder jene geheimnisvolle Stadt im Overmind gedruckt.

Manchmal kam es mir in unserem Haus und innerhalb der Familie so vor, als hätte diese Reise niemals stattgefunden.

Erst neunzehn Jahre später – am Totenbett meines Vaters – sollte das Thema Arc´s Hill noch einmal Gegenstand einer letzten Unterhaltung sein …


Ein Jahr, nachdem mein Vater verstorben war, erreichte ich Arc´s Hill an einem grauen und verregneten Herbsttag.

Ich vermutete, dass er damals von eben dem gleichen trüben und düsteren Klima empfangen worden war.

Nachdem man Durham verlassen hatte, führte die einzige Straße durch einen dichten Wald. Nasses Laub bedeckte den von Regen und Schnee aufgebrochenen Asphalt und glitzerte tückisch im trüben Tageslicht, sodass ich es nicht wagte, schneller als Schrittgeschwindigkeit zu fahren.

Die dichten Baumreihen beiderseits der Straße wirkten alt und versteinert und schienen mich mit ihrer lauernden Präsenz zu beobachten. Fast hatte ich das absurde Gefühl, dass ich, sollte ich meinen Blick von der regennassen Straße abwenden, zwischen Baumstämmen und Buschwerk glühende Augen entdecken würde, oder gar düstere Schatten, die sich schnell zwischen den Bäumen umher bewegten. Graues Herbstlicht funkelte in den Wipfeln und ließ nur selten einen bleichen, zitternden Lichtfinger durch das Unterholz gleiten.

Ich konnte mich des beklemmenden Gefühls nicht erwehren, dass mich der finstere Korridor geradewegs in eine andere Welt führte. Umso erleichterter war ich, nach einer langgezogenen Kurve endlich helles Tageslicht am Ende der Straße erkennen zu können.

Tatsächlich befand ich mich auf einem Hügel, als ich die letzten Baumreihen hinter mir zurückließ und sich mir der Ort zum ersten Mal offenbarte. Mein Vater schien nicht übertrieben zu haben, als er mir in einer seiner wenigen Erzählungen über das Städtchen gesagt hatte, Arc´s Hill sei zwischen den Jahrhunderten verloren gegangen.

Der Ort wirkte düster und schmiegte sich an die schroffen Ausläufer eines hohen Gebirgszuges, der die Häuser wie die Faust eines gigantischen Riesen umschloss.

Die Gebäude machten den Eindruck kleiner, dem Zerfall preisgegebener Hütten, deren Dächer sich unter dem mit düsteren Wolkenfetzen bedeckten Himmel gegenseitig zu stützen schienen. In die Fassaden waren im Fachwerkstil mächtige Holzbalken eingearbeitet, deren Farbe jedoch schon vor langer Zeit abgeblättert schien, und die sich nun in einem ebenso schmutzigen und sterbenden Grau präsentierten, wie der übrige Stein der Häuser. Vom Hügel aus, auf dem ich meinen Wagen angehalten hatte, schlängelte sich eine unebene, schiefe Straße aus Kopfsteinpflaster ins Tal hinab und verschwand zwischen den eng beieinanderstehenden, niedrigen Häuserklüften. Der Stein glitzerte im Regen.

Plötzlich konnte ich das merkwürdige Verhalten meines Vaters verstehen. Zwar wusste ich immer noch nicht die Beweggründe, die ihn vor rund zwanzig Jahren dazu veranlasst hatten, eine ganze Woche an diesem Ort zu verbringen, ohne sich während dieser Zeit bei seiner Familie zu melden, sah man von dem einzigen Brief einmal ab.

Doch konnte ich mir durch diesen ersten Eindruck gut vorstellen, dass der Aufenthalt in diesem seltsamen Dorf jenes Geschöpf aus meinem Vater gemacht hatte, das schließlich wieder nach Hause zurückgekehrt und fortan nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen war. Irgendetwas hing wie ein feiner, dunstiger Schleier über den Dächern und Schornsteinen dieses Städtchens, das eine Aura des Bösen mit sich trug. Fast hatte ich den Eindruck, diesen unheiligen Hauch gar in der feuchten Herbstluft schmecken zu können.

Ich gedachte der Worte meines Vaters in seinen letzten Stunden, als ich mich zu ihm auf die Bettkante gesetzt und er mich aus trüben, vom nahen Ende gezeichneten Augen angeblickt hatte. Es war das erste Mal gewesen, dass James Feldman ausführlicher auf seine Erlebnisse in dieser wundersamen Stadt zu sprechen kam. Gleichermaßen war es eine Stunde in meinem Leben, die mich auf ewig zeichnen sollte.

Ein eisiger Schauer überkam mich, als ich noch einmal seine schwache, vom Tod beherrschte Stimme in meinem Kopf hörte, ehe er seine Augen für immer schloss.

»Fahre nach Arc´s Hill, Frank … fahre zurück nach Arc´s Hill … und suche … nach dem Grab des Teufels …«


Der Eindruck, den mir der Ort vom Hügel aus gemacht hatte, verstärkte sich, als ich langsam über die unebene Straße fuhr und die ersten, niedrigen Häuser passierte. Die schmutzigen Fassaden versteckten sich hinter von Büschen verwilderten Vorgärten, oder duckten sich in die Schatten ausladender Trauerweiden und grauer Birken.

Die Fenster erschienen schwarzen Löchern gleich, die mir blind und apathisch entgegenstarrten. Nichts Lebendiges schien sich dahinter zu regen. Ebenso wenig begegneten mir irgendwelche Menschen auf den schmalen Gehsteigen oder in den finsteren Gassen, die sich tief in den Schatten verwahrloster Häuserfirsten verbargen.

Und doch konnte ich mich des eisigen Gefühls nicht erwehren, dass mich versteckte, misstrauische Augen aus den dunklen Häusern heraus zu beobachten schienen. Fast schon konnte ich die Blicke wie das Streicheln eiskalter Finger auf meiner Haut spüren.

Zum wiederholten Male dachte ich daran, dass mein Vater eine ganze Woche in diesem schauerlichen, mittelalterlichen Ort verbracht hatte. Und wieder fragte ich mich, was einen Mann wie James Feldman in diese düsteren Häuserschluchten führen konnte. Trotz seiner Passion für das Übersinnliche und Unerklärbare war er ein Mensch gewesen, der mit beiden Beinen im Leben gestanden und sich aufopfernd um das Wohlergehen seiner Familie gekümmert hatte.

Mit Schaudern dachte ich daran, in welch psychischem Zustand mein Vater aus Arc´s Hill zurückgekehrt war. Ein Mann, der innerlich erschöpft und gebrochen schien.

Ohne, dass ich mir dessen bewusst wurde, begann ich einen Groll gegen die Straßen und Häuser des Städtchens zu hegen, obgleich ich noch keiner menschlichen Seele begegnet war. Doch es war diese finstere Atmosphäre, die mich an altertümliche Siedlungen mit mürrischem Bauernvolk und Knechten erinnerte, die in mir den Wunsch hervorbrachte, diesem Ort so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. Etwas lag über den spitzen, mit verrotteten und schwarzen Schindeln gedeckten Dächern, den steinernen, dem Zerfall preisgegebenen Schornsteinen und den mit Kopfsteinpflaster und festgestampfter Erde versehenen Straßen und Gassen, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

 

Es war, als würde durch die Durchlässe und Unterführungen des Ortes der Atem von etwas Bösem wehen, der die Gedanken lähmte und jedes Leben zum Erlöschen brachte.

Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen und bemerkte eine bleierne Müdigkeit, die sich unter den Lidern verbarg. Wieder dachte ich an meinen Vater und somit an den fremden Mann, der aus Arc´s Hill in den Schoß seiner Familie zurückgekehrt war.

Körperlich hatte er sich zwar relativ schnell erholt, dank der Aufopferung meiner Mutter. Doch sein Geist war in den ihm verbliebenen neunzehn Jahren nie wieder derselbe gewesen.

In vielerlei Hinsicht war James Feldman während dieser Jahre für mich zu einem fremden Mann geworden, auch wenn ich in seinen Augen immer noch den liebevollen und treusorgenden Ehemann und Vater wiedererkannt hatte.

Seine letzten Worte kamen mir in den Sinn, die er nur an mich gerichtet an seinem Totenbett gesprochen hatte, ohne dass meine Mutter zugegen war. Wie gut erinnerte ich mich des abgedunkelten Raumes, in dem nur eine einzige, schwache Lampe gebrannt hatte. Die Fenster waren mit dicken Vorhängen verhüllt, und in dem Zimmer hatte der beklemmende Gestank eines kranken, sterbenden Leibes gehangen.

Dennoch waren die Augen meines Vaters in diesen letzten Minuten seines Lebens erstaunlich klar gewesen. Er hatte mit einer Stimme zu mir gesprochen, die ihre alte Stärke wiedererlangt hatte, jedoch eine tief sitzende Furcht nicht zu verbergen wusste. Es war nicht viel, was er in dem abgedunkelten Zimmer zu mir gesagt hatte.

Doch an diesem Herbsttag, als ich langsam durch die Straßen von Arc´s Hill fuhr, hatte ich das Gefühl, die Stimme meines Vaters befände sich direkt in meinem Kopf. Ich glaubte gar, seinen ausgemergelten Leib in der stillen, kalten Herbstluft vor mir stehen zu sehen.

»Du musst das Grab finden, Frank. Suche nach dem Grab des Teufels. Fahre nach Arc´s Hill und finde das Grab des Dämons. Ein Mann namens Paxton wird dir helfen können. Du musst dich vergewissern, dass ER weiterhin schläft … «

Doch es hatte noch fast ein Jahr gedauert, bis ich es wagte, mich auf den Weg zu diesem gottlosen Ort zu machen.


Durch die Unterlagen meines Vaters, den Verlag des Overmind betreffend, die nach seinem Tod testamentarisch an mich gefallen waren, war ich auf die Rechnung eines Gasthauses in Arc´s Hill mit dem Namen ›Knights Head‹ gestoßen.

Der Ort erwies sich als nicht sehr groß. Auch wenn die engen Gassen ähnlich einem Labyrinth angelegt waren, so führte mich die breite Hauptstraße doch geradewegs zu einem zentralen Platz, in dessen Mitte ein vernachlässigter Brunnen aus dunklem Gestein und kupfernen Pfannen stand. Angesichts des herannahenden Winters führte die Zisterne jedoch kein Wasser.

Um den Brunnen standen einige schmiedeiserne, verwaiste Bänke und niedrige, verkrüppelt wirkende Bäume, die sich bereits ihres Blattwerks entledigt hatten. Ein Teppich aus roten und braunen Blättern bedeckte die Wege, die den Brunnen umschlossen. Ein leichter Wind war aufgekommen und spielte mit dem Laub; das einzige Anzeichen dafür, dass sich irgendetwas in Arc´s Hill regte.

Ich hielt den Wagen am Straßenrand an und ließ meinen Blick über den freien Platz wandern, der von windschiefen Häusern und niedrigen, verlassen wirkenden Hütten flankiert wurde.

Zwischen manchen der Bauten konnte ich die Schatten finsterer Gassen erkennen, die sich in Dunkelheit verloren und vermutlich in Hinterhöfe oder zu den Außenbezirken des Städtchens führen mochten. Mein Blick jedoch wurde von einem größeren, zweigeschossigen Haus angezogen, dessen Fassade sich merklich von den verkommenen, mit blinden Fenstern versehenen Häusern und Hütten ringsum abhob.

Ein im Wind schwankendes Schild an verrosteten Ketten verriet mir, dass ich die Pension gefunden hatte, in der mein Vater vor über zwanzig Jahren abgestiegen war.

Mit der Gewissheit, in diesem Haus auf ein lebendiges Wesen zu treffen, setzte ich meine Fahrt fort und stellte den Wagen direkt vor der Pension auf einem kleinen, von Laub gesäumten Parkplatz ab.

Ein Blick auf das Schild über der Eingangstür verriet mir, dass ich tatsächlich das ›Knights Head‹ gefunden hatte. Die in alter Sprache gehaltenen Buchstaben wölbten sich fast schon majestätisch über dem Abbild eines finster anheimelnden Ritterhelms.

Ich stellte den Motor ab … und in diesem Augenblick nahm ich die Stille des Ortes ganz bewusst wahr.

Es erschien mir, als seien alle Geräusche um mich herum mit einem Schlag verstummt. Selbst der Wind, der mit den Blättern spielte, sie vor sich hertrieb und das Schild des Gasthauses an seinen rostigen Ketten zum Schwingen brachte, verursachte nicht das leiseste Geräusch.

Ich hatte immer mehr das Gefühl, mich in einer Welt zu bewegen, die mir fremd und unheimlich anmutete. Doch nicht nur eine völlig andere Welt schien mich zu erwarten. So, wie es mein Vater einmal erwähnt hatte, war Arc´s Hill tatsächlich irgendwo vor einhundert Jahren in der Zeit stehengeblieben.

Das, was ich hier an diesem Herbsttag unternahm, war eine Zeitreise in eine Wirklichkeit, die mit der Realität, wie ich sie kannte, nichts gemein hatte.

Zögernd ließ ich meinen Blick über den leeren Platz wandern.

In den Schatten einer Gasse glaubte ich, eine Bewegung zu erkennen. Es kostete mich etwas Mühe, in dem trüben Tageslicht die zierliche Gestalt eines kleinen Mädchens wahrzunehmen. Sie trug einen dunklen Mantel und stand in der Durchfahrt zweier Häuser, deren Fenster so düster wie der Himmel über ihren verrotteten Dächern waren. Unsere Blicke trafen sich im schwindenden Tageslicht, obgleich ich ihre Augen auf die Entfernung hin nicht erkennen konnte. Ich spürte sie kalten Fingern gleich auf meiner Haut.

Ich spielte mit dem Gedanken, zu ihr hinüberzugehen, da sie das erste menschliche Wesen war, dessen ich seit meiner Ankunft gewahr wurde. Doch da drehte sich das Mädchen langsam um und verschmolz mit der Schwärze der Gasse.

Lange Zeit noch starrte ich auf die Stelle, an der sie gestanden hatte. Doch der kleine Platz hatte wieder seine alte Verlassenheit zurückerlangt. Nirgends war auch nur eine Menschenseele zu erblicken. Dafür war das Gefühl, von versteckten Blicken beobachtet zu werden, stärker geworden und ergriff mich nun mit erbarmungsloser Härte.

Es kostete mich Überwindung, meine Hand nach der Tür des ›Knights Head‹ auszustrecken. In meinen Gedanken stieg das absurde Gefühl auf, dass ich, sobald ich etwas in dieser geheimnisvollen Stadt berührte, unweigerlich Teil ihrer Essenz wurde.

Als ich die Tür öffnete, begann eine kleine Glocke zu klingeln, deren heller Klang sich schauerlich in der Stille des Ortes verlor.

Ich betrat einen düsteren Raum, der von einigen trüben Lampen erhellt wurde, die in Drahtkäfigen von der Decke hingen. Schwere, dunkle Balken stützten ein Geflecht von Stuckarbeiten und Brettern, in deren Zwischenräume das matte Licht nicht hinauf reichte.

Auf den ersten Blick glaubte ich, dass über dem Schankraum die endlose Nacht begann.

Ich erblickte einige Tische mit Stühlen, und an den Wänden alte, ehemals farbenfrohe Teppiche, die im Laufe der Jahre verblasst waren und vom gelblichen Schein der Lampen in ein bedauernswertes Grau getaucht wurden. In einer Ecke des Schankraumes konnte ich eine Musicbox erkennen, die jedoch ausgeschaltet und deren Scheiben blind waren.

Hinter einer antiquiert anmutenden, aus dunklem Holz erbauten Theke erblickte ich einen stämmigen Mann von etwa fünfzig Jahren, der mich mit ausdruckslosem Gesicht aus hellen, wachsamen Augen neugierig betrachtete. Da ich nicht den Argwohn des Mannes schüren wollte ob der Tatsache, dass sich ein Fremder in seine kleine Taverne verirrte, trat ich mit sicherem Schritt vor ihn und nickte ihm freundlich zu.

»Guten Tag. Wie ich sehe, ist es noch ziemlich ruhig um diese Tageszeit.«

Die Worte kamen rein mechanisch über meine Lippen und konnten meine Nervosität nicht überspielen. Mein Versuch, ein banales Gespräch in Gang zu bringen, veranlasste den Schankwirt, ein Lächeln über sein ausdrucksloses Gesicht ziehen zu lassen.