Die Legende von Arc's Hill

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Der Name der Stadt lautete Re´grith Dath – die Traumstadt, die man nur des Nachts erblicken konnte. Nur wenige waren dazu auserkoren, jemals einen Fuß in diese Stadt zu setzen. Und es waren noch weniger, die sich in der Morgendämmerung ihrer erinnerten. Ich sei einer dieser wenigen Auserwählten, so erzählte mir das Wesen. Dabei erfüllte seine melodische Stimme meinen Kopf wie die Verführung der Sirenen. Er erzählte mir, Re´grith Dath sei untergegangen. In einem gewaltigen Krieg, mit einer Macht außerhalb unserer Welt, sei die Stadt mit all ihren Bewohnern und Palästen und blühenden Gärten in einem schrecklichen und stinkenden Aschenregen versunken und im Laufe der Zeitalter in Vergessenheit geraten.

Selbst der Name der Stadt war den Ruinen in die dunkle Vergangenheit gefolgt. Nur wenige wussten der Legenden der versunkenen Stadt Re´grith Dath, und diejenigen, die davon sprachen, wurden eingesperrt oder lebten abgeschieden und dem Wahnsinn verfallen in tiefen Höhlen, in die nie das Licht des Tages drang. Bald schon würde es nicht einmal den Hauch einer Erinnerung an diese Stadt geben, und auch der letzte Geist die Mauern des Hohetempels verlassen haben.

Und dann erzählte mir die Gestalt in ihrer lichtgetränkten Herrlichkeit von einem Ort in dieser Welt, die wir die unsere nennen. Sie erzählte mir von Arc´s Hill.

Der Ort sei seit Anbeginn aller Zeiten ein mystischer Platz im Kosmos gewesen, denn er beherbergte die verschlossene Pforte, einen alten, toten Baumkreis in den Bergen. Ein Ort, an dem in frühen Zeitaltern Dämonen und Teufel tanzten und mit den Herrschern anderer Welten palaverten und tranken und aßen. Dort, an jenem versteinerten, vorzeitlichen Ort, fand man die Pforte und den langen Gang, der hinunter nach Re´grith Dath führte.

Denn was nicht vergessen, war nicht tot, und was nicht tot, würde wieder auferstehen.

Der Geist aus Licht und Schatten, der letzte Hohepriester von Re´grith Dath, erzählte mir mehr. Mit Worten, die feiner als die leiseste Musik waren. Ich verfiel diesen Worten.

Er, der Nad´naruhl mit Namen hieß und einst über die prächtigen Bauten und breiten Straßen und blühenden Schlossgärten herrschte, erzählte mir, was zu tun sei, um nach Re´grith Dath zu gelangen. Er brachte mir die Worte bei, die nötig waren, um die versiegelte Pforte zu öffnen …

… und die dunkle Stadt aus ihrem stillen, verborgenen Grab zurück ans Licht zu bringen, wo sie einst über ungezähmte Welten herrschte.

Doch erst galt es, den toten Baumkreis zu finden …

An dieser Stelle waren einige Seiten aus dem Tagebuch gerissen. Mikes Finger glitten über die gezackten Überreste, dort, wo die Seiten offenbar in Eile entfernt worden waren. Er zählte vier und fragte sich, was Charles Ward der Nachwelt verschweigen wollte.

Die fünfte Seite war nur zur Hälfte herausgerissen … die Schrift kaum zu entziffern.

13. Februar 1966

Ich hatte den Baumkreis gefunden, auf einem Felsplateau, das schwer zugänglich ist. Es war eine kalte Nacht mit tief hängenden, schwarzen Wolkengebilden, doch glaubte ich weniger, dass mein Frösteln vom scharfen Nordwind herrührte. Ich begann die Worte zu sprechen, die mich Nad´naruhl gelehrt hatte. Nur wenige kennen diese Worte, und ich bin einer dieser wenigen Auserwählten.

Ein seltsames Gefühl hielt mich gefangen. Auf der einen Seite eine schier ungebändigte Furcht vor dem, was da kommen möge. Doch wurde dieses Entsetzen fast vollständig von einer nahezu unmenschlichen Neugierde verdrängt, wie ich sie nicht einmal als Kind empfunden hatte. Wusste ich doch, dass mein Handeln inmitten des steinernen Baumkreises die Grenzen des Universums zu zerrütten vermag und die Geburt eines neuen, ewigwährenden Zeitalters einläuten konnte. Ich bin Teil von etwas Großem, Unfassbarem. Ich bin der Auserwählte.

Während ich den Gesang der versunkenen Stadt anstimmte, spürte ich, wie die Erde unter meinen Füßen erzitterte. Ich weiß nicht, ob ich mir dies nur einbildete, denn meine Nerven waren bis aufs Äußerste angespannt. Aber eines war ganz sicher kein Trugschluss … je öfter ich die alten Worte Nad´naruhls wiederholte und mich dabei unweigerlich in einen tranceähnlichen Zustand versetzte, desto deutlicher erschien mir das Flüstern, das an meine Ohren drang. Erst dachte ich an den kalten Wind, der aus den Bergschluchten zu mir herüberwehte und mir eine letzte Warnung zuzurufen schien. Doch mittlerweile bin ich mir sicher, dass das Flüstern eine Stimme war. Worte, die tief aus der Erde auf meinen monotonen Gesang zu antworten schienen …

Eine Stimme aus der Erde.

Mike spürte eine Kälte, die nicht einmal das prasselnde Kaminfeuer zu bändigen vermochte.

Der Rest der Seite fehlte, und auch die nächsten Seiten hatte eine unwirsche Hand aus dem Tagebuch gerissen. Dann stieß Mike auf einen einzigen Satz, den Ward scheinbar in seinen furchtsamen Aktionen zu entfernen übersehen hatte.

Ich habe die Stadt gesehen; Re´grith Dath … die schwarze Stadt, tief in der Erde …

Und dann, etwas später, mit fahriger, fast kindlich wirkender Schrift …

… Pesthauch aus der Urzeit …

Die restlichen Seiten des alten Buches fehlten … bis auf die Letzte. Sie war zerknittert und eingerissen, und Mike hatte Mühe, die zittrige Handschrift zu entziffern. Es waren nur ein paar Sätze, die sich scheinbar ziellos über die Seite erstreckten. Es waren die Worte eines Mannes, den Furcht lenkte und dessen Gedanken nicht mehr die seinen schienen. Ich kann nicht zulassen, dass Nad´naruhl sich der Träume meiner geliebten Frau und Töchter bemächtigt. Niemand soll jemals wieder einen Fuß in diese schreckliche Stadt setzen. Die Pforte muss auf ewig verschlossen bleiben, die Legende vergessen werden.

Es darf keine Träume mehr geben, denn wenn Re´grith Dath aus der Asche geboren wird, werden die Welten sterben. Meine Familie darf nicht träumen … ich darf nicht träumen … niemand darf träumen …

Hier endete das Tagebuch des Charles Ward.


Mike blätterte das alte Buch noch einmal mit fahrigen Bewegungen durch, suchte nach Einträgen, die seinem fast schon berauscht zu nennenden Verstand entgangen sein mochten. Doch er fand keine weiteren Erläuterungen oder Hinweise auf die merkwürdigen Träume Wards – oder gar auf seine eigenen – oder auf den mystischen Baumkreis und seine unheilschwangere Bedeutung.

Sofern Ward tatsächlich in seinen Aufzeichnungen näher auf diesen fremdartigen Ort eingegangen war, so musste er dies auf jenen Seiten getan haben, die er in seinem offensichtlichen Wahn aus dem Buch herausgerissen hatte.

Frustriert und zutiefst verstört warf Mike das Tagebuch auf den Tisch, wo es über die glatte Oberfläche rutschte und mit einem dumpfen Knall zu Boden fiel. Fast augenblicklich spürte er einen stechenden Schmerz hinter seiner Stirn und zwischen den Schläfen. Eine Nachwirkung des seltsamen Traumes, dessen Opfer er geworden war? Oder hatte sich sein Verstand derart auf Wards Geschriebenes konzentriert, dass es ihm plötzlich an klarem Denken mangelte?

Vor seinen übermüdeten Augen tauchten immer wieder die letzten Worte des Buches auf. Insbesondere die Fragmente, die von zitternder Hand niedergeschrieben waren. Sie übten eine unheimliche, fast grotesk zu nennende Anziehungskraft auf Mike aus. Doch Ward hatte – offensichtlich aus gutem Grund – alles Erdenkliche dafür getan, um dem eventuellen Leser seiner unheiligen Hinterlassenschaft nicht den vollen Schrecken seiner Erlebnisse zukommen zu lassen. Wen hatte er mit seinen Handlungen, jene Seiten aus dem Buch zu entfernen, schützen wollen? Wirklich denjenigen, den irgendwann einmal das Unglück ereilen sollte, das Buch in Händen zu halten? Oder versuchte er seinen eigenen Verstand zu schützen, indem er die Tatsachen seiner Erlebnisse kurzerhand vernichtete?

Es verlangte Mike danach, die fieberhaft niedergeschriebenen Worte erneut zu lesen. Vielleicht etwas Neues zu entdecken, so einfältig dieser Wunsch auch klingen mochte. Er wollte Wards Worte noch einmal fühlen, ertasten, riechen. Wollte ihnen das ungesagte Geheimnis entlocken, das Charles Ward in seinem Irrsinn vor zwanzig Jahren mit in sein tiefes Grab genommen hatte.

Er erinnerte sich der Worte des Schankwirtes, der, war man wirklich so töricht und schenkte dem seltsamen Mann Glauben, dabei gewesen war, als man Ward in jener schicksalsschwangeren Nacht auf dem Marktplatz von Arc´s Hill aufgefunden hatte.

Seine Augen hätten in irrem Fieber gebrannt, so lauteten die Worte des Schankwirtes. Und er hatte den Männern, die damals zugegen gewesen waren, in wirren Ausführungen anvertraut, was er seiner Familie angetan hatte.

Was war es gewesen, das einen ehrbaren Menschen dazu verleiten konnte, seine geliebte Frau und kleinen Töchter in ihren Betten zu meucheln? Aus welcher Veranlassung heraus hatte Ward offensichtlich den Verstand verloren und war, beseelt von fiebrigem Wahn, zum Marktplatz des Ortes gelaufen, seine unfassbare Tat zu beichten? Fort vom alten Grady-Anwesen …

Die Antwort musste auf den herausgerissenen Seiten seines Tagebuch zu finden sein. Doch rechnete Mike trotz seines Begehrens nicht damit, jene mysteriösen Seiten jemals irgendwo in den dunklen Eingeweiden des alten Hauses vorzufinden. Viel wahrscheinlicher mutete an, dass Ward mit dem letzten Funken Verstand, der ihn noch aufrecht gehalten hatte, diese Seiten vollends vernichtete, ehe er dazu überging, seine Familie aus dem Leben auszulöschen.

Mike musste mehr über jene Geschichte erfahren. Und noch ehe er sich zur Nachtruhe begeben und im Traum abermals in die seltsame Stadt reisen würde, gedachte er noch einmal das ›Knights Head‹ aufzusuchen. Zwar war der Schankwirt ein mürrischer und wortkarger Zeitgenosse, doch er war der einzige Mensch, den er bisher in Arc´s Hill kennengelernt hatte. Zudem war er einer jener Männer gewesen, die anwesend waren, als man Ward wahnsinnig auffand. So machte sich Mike an diesem späten Abend noch einmal auf den Weg in den Ort, in der Hoffnung, die kleine Taverne offen vorzufinden.

 


Er hatte keine Mühe, den kleinen Platz mit seinem Zierbrunnen in dem Labyrinth aus engen Straßen und finsteren Gassen wiederzufinden. Jetzt, in Anbetracht der befremdlichen Geschichte, die ihm Wards Tagebuch anvertraut hatte, erschien ihm die unheimliche Stille des Ortes noch erdrückender und die Nachtluft wie der Atem einer kalten Hölle. Lediglich das leise Flüstern des Regens auf Asphalt und Kieswegen begleitete ihn. Büsche und Bäume schienen Mike verzweifelte Worte zuzuwispern, wenn der Regen sich seinen Weg durch Geäst und Blattwerk suchte.

Trotz der fortgeschrittenen Stunde war die Beleuchtung des ›Knights Head‹ eingeschaltet. Ein mattes Licht erhellte den Gehweg vor der Taverne und ließ den Regen in den Pfützen funkeln. Neben der Tür, in einem der kleinen Fenster, hing ein von Hand geschriebenes Schild, das Mike verriet, dass das Gasthaus noch geöffnet war. Als er den niedrigen, vom gelben Schein einiger altertümlicher Lampen erhellten Schankraum des Hauses betrat, stand der Wirt hinter der Theke, die Arme weit ausgebreitet auf der wurmstichigen Holzplatte abgestützt, gerade so, als hätte der Mann Mikes Ankunft in dieser Nacht erwartet. Er trug seinen albernen, grauen Hut, wie am Tage, an dem Mike die Bekanntschaft des Mannes gemacht hatte. Er grüßte den massigen Mann, und als dieser ihm knapp zunickte, setzte sich Mike ihm gegenüber auf denselben Hocker, auf dem er bei seinem letzten Besuch gesessen hatte. Wie zuvor waren sie alleine in der Taverne, was ihm sein Vorhaben erleichterte.

»Wie kommen Sie voran?«, fragte der Wirt mit teilnahmsloser Stimme und maß Mike mit prüfendem, fast abschätzendem Blick. Mike konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass der Mann den ganzen Abend auf ihn gewartet hatte.

»Ist sicher ein hartes Stück Arbeit, das alte Haus wieder herzurichten.«

Mike nickte wortlos und bestellte dann etwas zu trinken. Er fühlte eine innere Niedergeschlagenheit ob der Tatsache, dass er es nicht schaffte, seine verworrenen Gedanken in Worte zu fassen, ohne die Hitze des Alkohols in seinem Leib zu spüren. Hatte London ihn wirklich derart tief in den Strudel der Abhängigkeit gezogen? Während der Schankwirt ihm den Rücken zuwandte, um eine Flasche aus dem mit einem trüben Spiegel verzierten Regal zu holen, beschloss Mike, direkt und ohne Umschweife auf den eigentlichen Grund seines Besuches zu einer derart späten Stunde zu sprechen zu kommen. Er verspürte nicht die geringste Lust, mit dem Mann über banale Dinge zu reden, während in seinem Kopf Wards letzte niedergeschriebene Worte wie ein entferntes Donnergrollen nachhallten. Zudem glaubte er im argwöhnischen Blick des Mannes etwas gelesen zu haben – ein leichtes, nervöses Aufblitzen – das ihn geradezu dazu aufforderte, das Gespräch auf seine Erlebnisse hinzuführen.

Als ihm sein Gastgeber ein Glas mit verlockend goldenem Whiskey vorgesetzt hatte, blieb er abwartend vor Mike stehen, als wollte er durch seine Geste dessen düstere Gedankengänge unterstreichen. Mike nahm einen gierigen Schluck und spürte augenblicklich die beißende, wohlvertraute Hitze in seiner Kehle, die ihn jedoch entgegen aller Erwartung diesmal nicht zu beruhigen vermochte.

»Wussten Sie, dass Charles Ward ein Tagebuch geführt hatte?«

Der Wirt bedachte ihn mit einem Blick, der keinerlei Überraschung ausdrückte, schwieg jedoch.

»Er schreibt darin von Träumen, die ihn in den Nächten heimgesucht hätten.«

Mike erwartete eine Reaktion. Doch der Blick seines Gegenübers blieb weiterhin gelassen, auch wenn Mike glaubte, eine tiefe, versteckte Unruhe in den Augen des Mannes erkennen zu können. Offensichtlich erzählte er dem Schankwirt nichts, was dieser nicht bereits wusste. Er beschloss, nicht mehr länger mit seinen Erlebnissen hinter dem Berg zu halten.

»Ward erwähnte in seinen Aufzeichnungen einen Ort in den Bergen, an dem es einen altertümlichen Baumkreis geben soll. Haben Sie davon schon einmal etwas gehört?«

Er vermied es, die archaische Bedeutung des Kreises zu erwähnen.

Plötzlich kam Regung in das Gesicht des grobschlächtigen Mannes. Seine Augen weiteten sich und ein Anflug von Entsetzen stahl sich in seinen Blick. Seine Hände, mit denen er sich immer noch auf der alten Theke abstützte, verkrampften sich zu Fäusten, deren Knöchel weiß hervortraten.

Dies alles offenbarte sich Mike binnen einer einzigen Sekunde. Dann gewann der Mann seine vorherige Beherrschung zurück. Er betrachtete Mike lange Zeit schweigend und mit einem Ausdruck in den Augen, den dieser unmöglich zu deuten wusste.

»Der Steinerne Baumkreis«, flüsterte der Wirt schließlich zu sich selbst, wobei er auf das wurmstrichige Holz der Theke starrte, als hätte er dort ein lästiges Insekt erblickt. Ein unmerkliches Zittern hatte sich des massigen Leibes des Mannes bemächtigt.

»Man sollte diesen Ort besser vergessen.«

»Was ist damit?«, setzte Mike nach und griff das Glas, um seine aufsteigende Nervosität zu verbergen. Das Gefühl, sich in einer fremden, kaum vorstellbaren Welt zu befinden, überkam ihn stärker als je zuvor, seit er diesen merkwürdigen Ort betreten hatte.

Der Wirt schüttelte den Kopf und starrte gedankenverloren auf einen Punkt der Theke. Es mochte an der diffusen Beleuchtung der Taverne liegen, doch glaubte Mike zu erkennen, wie das feiste Gesicht des Mannes jeglicher Farbe beraubt wurde.

Der lächerliche Hut warf tiefe Schatten bis zur schiefen, von roten Äderchen verunstalteten Nase.

»Ich hätte nie gedacht, dass Ward den Baumkreis gefunden hat.« Er hob seinen Blick und betrachtete Mike mit einem gehetzten und furchtsamen Ausdruck in den Augen. »Er hat diesen schrecklichen Ort tatsächlich in seinem Tagebuch erwähnt?«

Mike nickte, beschloss jedoch, seinem Gegenüber nichts davon zu offenbaren, auf welche Art und Weise Charles Ward von diesem Ort erfahren hatte.

»Sie sollten das, was Sie gelesen haben, ganz schnell wieder vergessen, Mister«, fuhr der Mann schließlich mit flüsternder Stimme fort, als befürchtete er, jemand könnte ungewollt dieser unheiligen Unterhaltung beiwohnen. »Der Ort ist nicht gut.«

Mike deutete mit einem Nicken auf sein Glas, und der Wirt füllte es augenblicklich nach, wobei die Hand, welche die Flasche hielt, merklich zitterte. Er verschüttete einige Tropfen Whiskey auf der Theke, doch schien er dies nicht zu bemerken.

»Was wissen Sie darüber«, fragte Mike und legte einige Geldscheine auf die Holzplatte. In der heutigen Zeit, so dachte er sich, immer noch die beste Art, jemanden zum Reden zu bewegen, der sich dagegen zu wehren versucht.

Der Schankwirt betrachtete das Geld, ohne es anzufassen. Dann bohrte sich sein Blick in Mikes Augen, dass dieser das unbehagliche Gefühl bekam, der Mann versuchte geradewegs den Grund seiner verzweifelten Seele zu erforschen.

»Der Steinerne Baumkreis liegt auf einem hoch gelegenen Felsplateau in den Bergen«, begann er schließlich mit heiserer Stimme zu erzählen. Dabei schob er mit einer unbedachten Bewegung die Geldscheine zu Mike zurück. Dieser beachtete das Geld ebenso wenig wie es der Schankwirt zuvor getan hatte.

»Ich war noch nie dort oben gewesen. Niemand aus dem Ort war das.«

Er griff nach einem Glas und schenkte sich nun seinerseits einen Whiskey ein. Mike konnte die innere Zerrissenheit des Mannes förmlich mit Händen greifen.

»Man erzählt sich, dieser unheilige Ort sei älter als alles Lebendige auf diesem Planeten. Manche der Legenden im Ort erwähnen Hexen, die sich in dunklen Gewitternächten im Kreis uralter, versteinerter Bäume treffen, um über ihre abscheulichen Taten in der Menschenwelt zu palavern und zu lachen. Andere wiederum erzählen sich, dass der Teufel selbst in den steinernen Eingeweiden des Kreises seine Heimstatt besitzt.«

Er schüttelte den Kopf, als versuchte er dadurch das Gesagte zu widerlegen, und leerte sein Glas mit einem kräftigen Schluck. Ein bitteres Stöhnen brach zwischen seinen Lippen hervor. Der Geruch von Whiskey, Speck und Knoblauch wehte Mike entgegen.

»Ich weiß nicht, welchen Geschichten man Glauben schenken darf. Mit Sicherheit sind all diese Legenden nichts weiter als Ausgeburten purer Ammenmärchen, mit denen man in früheren Jahren die Kinder zu erschrecken versuchte.«

Ein nervöses Lachen entrann der Kehle des Mannes. Seine Augen jedoch blickten nach wie vor voller Furcht und Kleinmut, was den Sinn seiner eigenen Beschwichtigungsversuche widerlegte.

»Man erzählt sich, dass in den alten Zeiten, als die ersten Menschen in dieses Tal kamen und ihre Hütten errichteten, einige hinauf zum Baumkreis gestiegen seien, um die Götter anzurufen und um deren Beistand zu beten. Sie baten um Schutz und gute Ernten, denn die Erde war zu dieser Zeit hart und unwirtlich gewesen. Scheinbar hielten diese einfältigen Menschen den Baumkreis für einen heiligen Ort. Aber nur wenige von ihnen waren aus den Bergen zurückgekehrt. Und diejenigen, die den beschwerlichen Weg zurück in die Siedlung gefunden hatten, waren dem Wahnsinn verfallen und weggesperrt worden, glaubt man den alten Überlieferungen.«

Wieder schüttelte der Mann energisch den Kopf und starrte auf sein leeres Glas. Sein Atem ging schwer, und Mike sah ihm an, dass er sich nach einem weiteren Schluck Whiskey sehnte.

»Doch dies ist alles lange her. Aufgrund dieser Begebenheit taufte man die erste Siedlung auf den Namen Hill´s Grave. Niemand hatte sich fortan mehr dem verfluchten Ort in den Bergen genähert. Man lernte die Berge zu meiden und begann, finstere Geschichten um die Felsen und jenes, was sie beherbergten, zu spinnen.« Wieder schüttelte der Schankwirt den Kopf, als fiele es ihm schwer, seinen eigenen Worten zu glauben. »Wissen Sie, Mister …« Er beugte sich nach vorn und bannte Mike mit seinem Blick. »Auch wenn dies alles nur Legenden und Märchen von bescheiden denkenden und abergläubischen Bauern sind, so glaubt man an Orten wie Arc´s Hill dennoch an diese Geschichten. Und man befolgt ihre Botschaft, sich von der Brutstätte des Teufels fernzuhalten.«

Es gelang Mike nur schwerlich, sich von den Augen des Mannes abzuwenden.

»Was ist mit Ihnen«, fragte er mit brüchiger Stimme und leerte nun seinerseits sein Glas.

Der Wirt setzte ein verbittertes, fast resignierend zu nennendes Lächeln auf.

Sein Anblick ließ Mike frösteln. »Ich war nie dort oben, falls Sie das meinen«, antwortete er nach einer ganzen Weile. »Aber ich habe Ward in jener Nacht gesehen. Und das, was er getan hat. Ich glaube, dass dieser Ort in den Bergen, der Steinerne Baumkreis, ein gotteslästerlicher Ort ist, der den Mann verdorben und ihn zu seinen abscheulichen Taten verführt hat.« Sein Blick wurde finster. Sein teigiges Gesicht näherte sich dem seines Gastes. Plötzlich schien sich eine tiefe, lauernde Stille über das Haus gesenkt zu haben, die sie beide belauschte.

»Wenn Sie mich fragen, ich glaube, dass dort oben der Teufel tanzt.«

Als Mike das ›Knights Head‹ weit nach Mitternacht verließ, drehte er sich an der Türe noch einmal zu dem Schankwirt der Taverne um. Dieser wirkte im Schein der altertümlichen Lampen über der Theke seltsam bleich und von einer tiefen Furcht berührt.

»Gibt es im Ort ein kleines Mädchen namens Emma?«

Die Gestalt des Wirtes straffte sich augenblicklich. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und starrte Mike mit großen Augen an. Seine Lippen formten Worte, doch es dauerte eine Weile, bis er diese aussprechen konnte. Dabei klang seine Stimme leise und schien aus weiter Entfernung zu kommen.

»Es gibt nur sehr wenige Kinder in Arc´s Hill. Aber keines davon heißt Emma.«

Der Mann blickte sich um, als lauschte er auf ein plötzliches Geräusch. Dann flüsterte er, während er sich im matten Schein der Lampen zu ducken schien: »Charles Wards Töchter hingegen hießen Carla … und Emma.«


In dieser Nacht saß Mike noch lange in seiner Schlafkammer, die er sich im oberen Bereich des Hauses eingerichtet hatte, in einem alten, ledernen Lehnsessel und blickte auf das starre Gemälde der Nacht hinaus.

 

Dort, wo die Sonne schon vor langem hinter düsteren Wolken untergegangen war, glühte der Himmel noch immer in einer dünnen Linie aus verwaschenem Rot über den Felsen. Fast erschien es Mike, als würden die Berge selbst von einer pulsierenden Glut tief in ihrem steinernen Schoß in diesen widernatürlichen Schein getaucht. Die Kämme des Gebirges glichen den grotesken Schatten versteinerter Ungeheuer, die sich allmählich aus der Glut einer lodernden Hölle herausschälten.

Nichts bewegte sich. Kein Wind zerstörte die erstarrte Nacht. Eine bleierne Stille hatte sich über den Ort und das alte Haus gesenkt und verbarg den vergessenen Landstrich in einem schweigenden Mantel.

Mikes Verstand war erfüllt von den widersprüchlichsten Gedanken. Hätte er sein Denken einer Menschenseele fern von Arc´s Hill anvertraut, hätte dieser Umstand genügt, um ihn vor seinen Mitmenschen auf ewig als vom Irrsinn gezeichnet wegzusperren. Da waren Charles Wards letzte Worte in diesem skurrilen Tagebuch, das immer noch auf dem Boden in der Wohnstube lag. Mike hatte bisher dem schreienden Drang widerstehen können, es aufzuheben und noch einmal nach entgangenen Textpassagen durchzusehen. Und es gab die düsteren Worte des Schankwirtes, die sich wie die sengenden Peitschenhiebe des Jüngsten Gerichts in seine Gedanken eingebrannt hatten. Welchen Glauben konnte er diesem seltsamen Mann schenken, der sich zeit seines Lebens den dunklen Legenden dieses Landstriches ausgesetzt sah und mit den Ammenmärchen seiner Vorfahren großgezogen worden war? Und wie sehr waren die düsteren Erzählungen des Wirtes, die alten Legenden dieses Ortes betreffend, mit der Wahrheit in Verbindung zu bringen? Mike dachte an das kleine Mädchen, das er am späten Abend am Fenster gesehen hatte.

Emma schien ihr Name, spielten ihm seine Sinne nicht einen schrecklichen Streich.

Emma … so lautete auch der Name einer der Töchter von Charles Ward.

Mike spürte mit jeder Sekunde, in der er in der schweigenden Dunkelheit verharrte, dass sich sein Verstand einer tiefen Kluft näherte, deren Ende er nicht abschätzen konnte und die ihn unweigerlich mit ihren Verhöhnungen und Verlockungen aus der Tiefe nach endgültiger Stille anzuziehen schien. Er betrachtete mit lethargischer Gleichgültigkeit die bizarren Formen der Nacht, die sich ihm zwischen den hohen Weiden am Rande des Pfades zu seinem Haus darboten.

Irgendwo da draußen, in dieser schrecklichen Dunkelheit, verbarg sich jener unheimliche und legendenträchtige Ort, von dem Ward geschrieben und der das blanke Entsetzen in die Augen des Wirtes getrieben hatte.

Ward hatte davon berichtet, wie er die beschwörenden Worte jenes geisterhaften Wesens aus der Traumstadt innerhalb dieses Steinernen Baumkreises gesprochen hatte. Und auch davon, wie seinen Worten aus der Tiefe des Erdreiches geantwortet wurde.

Der Schankwirt des ›Knights Head‹ glaubte, dass dort oben in den dunklen Bergen der Leibhaftige seine Brutstätte besaß. Mike konnte nicht verhehlen, dass es ihn danach verlangte, sich im Schlaf erneut auf den Weg zu jener mystischen, abnormen Stadt zu begeben.

Doch befürchtete er, dass er nach all den Aufregungen des Tages nicht dazu in der Lage war, den ersehnten Schlaf zu finden. Ebenso wenig verlangte es ihn danach, den Rest der Nacht in dem ledernen Sessel zu verbringen und in die versteinerte Dunkelheit zu starren.

So ging er zu Bett, als ihm die Uhr die dritte Stunde des neuen Tages verkündete. Sagte man nicht, dass dies die Stunde der Dämonen sei?

Noch ehe sich Mike dem quälenden Gedanken hingeben konnte, auf welche Weise er sein Herz zu beruhigen und den erhofften Schlaf zu finden vermochte, als der Alkohol des Tages seinen Tribut forderte und er sich auch schon auf dem Weg durch endloses Dunkel in die in seinem tiefsten Unterbewusstsein verborgene Stadt befand.

Jene Stadt, die er – dank Charles Ward – als Re´grith Dath kannte …


In dieser Nacht blieb mir der Aufstieg zur Tempelanlage erspart. Als ich die Augen öffnete und mich die träge Dunkelheit meines Schlafes entließ, stand ich vor dem offenen Portal des Tempels, aus dessen Halle ein kalter Wind zu mir wehte. Ich spürte den eisigen Hauch schlanker, verlangender Finger auf meiner Haut, bezweifelte jedoch, dass dieses Gefühl der Beklemmung, das mich augenblicklich fest umschlungen hielt, von der Kälte herrührte, die auf dem obersten Felsplateau herrschte.

Zögernd betrat ich den ausladenden Saal, der sich mir zunächst in bleierner Nacht präsentierte, bis sich meine Augen an den Übergang vom Glanz der Stadt zum düsteren Innern des Tempels gewöhnt hatten. Nach und nach schälten sich die mächtigen Säulen und Fresken aus dem Dämmerlicht, dann die gigantischen Torbögen und Pilaster, die sie trugen. Und inmitten all jener Herrlichkeit stand die in einen Kranz aus gleißendem Licht gebettete, konturenlose Gestalt, die mich bereits in der Nacht zuvor erwartet hatte.

Ehrfurchtsvoll verharrte ich in meinem Schritt. Eine beklemmende Stille breitete sich trotz der Weite der Tempelhalle aus.

Ich spürte, wie sich jede Faser meines Körpers anspannte, und fragte mich zum wiederholten Male, ob es überhaupt möglich war, derartigen Realismus innerhalb eines Traumes zu empfinden. Mein Denken blendete alles aus, was um mich herum geschah. Der monströse Eingang des Tempels, die kunstvoll verzierten Arabesken der Säulen, die unheimliche Kälte der Halle … das alles verschwand in einem stillen Nebel. Es gab nur noch mich, meinen Atem, meinen Herzschlag und das schemenhafte Wesen, das reglos in der Mitte all dieser Nebelspiralen und Traumgebilde verharrte und mich anstarrte.

Ich dachte daran, mein Wort an die Gestalt zu richten, so wie es Ward versucht hatte, ehe er aus seinem Traum gerissen wurde. Doch war ich unfähig, Worte zu bilden, die mir in der Situation als angemessen erschienen. Ich hatte das absurde Gefühl, als hätte sich etwas Fremdes meiner Gedanken bemächtigt, um mich zu kontrollieren. Das Gefühl war abstoßend und erschreckend, aber auch berauschend, auf eine primitive und widerstandslose Weise.

Und dann – ich wusste nicht zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit ich den Tempel zum zweiten Male betreten hatte – hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, die voller und eindringlicher war als alles, was ich bisher in meinem Leben empfunden hatte. Ich erkannte die unvorstellbare, uralte Macht, die dieser Stimme innewohnte. Eine Stimme, die es gewohnt war, zu herrschen. Die führte, und der man nachgiebig folgte.

Doch spürte ich auch die verheerende Verführung, mit der die melodische Stimme meinen Verstand packte und ihn zu seinen Gunsten formte.

Willenlos ließ ich es geschehen und lauschte den Worten wie der großartigsten Melodie, die jemals in meiner Welt von Menschenhand geschrieben worden war. Losgelöst vom eigenen Willen vernahm ich die Worte, die zu hören bereits Charles Ward die Ehre hatte.

»Du bist auserwählt«, dröhnte die Stimme wie ein ganzer Chor in meinen Gedanken. Es schienen Tausende zu sein. »Nur wenigen wird jemals diese Ehre zuteil. Nur besondere Geister besitzen die Gabe, den Worten unserer Welt Gehör zu schenken.«

Die Gestalt schien näher zu kommen, an Größe zu gewinnen. Und doch verringerte sich ihr Abstand nicht. Ich spürte, wie mir die Sinne schwanden, doch etwas – oder jemand – hielt meinen Verstand mit eisernem Griff aufrecht.

»Du hast den Weg in meine Stadt gefunden. Du hast die Straßen berührt und die verborgenen Gärten in ihrer blühenden Pracht betreten. Und du hast den Weg zum Tempel meines Herrn gefunden und zu mir, Nad´naruhl, der da einst Wächter über diese Stadt gewesen, die dich in ihrer Schönheit und Eleganz berührt hat.«

Ein schwaches Echo folgte jedem Wort, das die Gestalt sagte. Es war ein monotones Auf- und Abschwellen, eine Symphonie purer Verlockung und tiefster Versprechen.