Die Legende von Arc's Hill

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Auch wollte er den skurrilen Aussagen des Schankwirtes keinen Glauben schenken. Zu grotesk erschienen ihm im Dunstnebel des Alkohols die Worte und Gebärden des Mannes.

Man fand derartige altertümliche Sagen und Mythen in jeder kleineren, entlegenen Stadt auf der ganzen Welt vor, so sagte sich Mike und betrachtete das Glitzern des Whiskeys im Lampenschein. Ihn überkam das Gefühl, auf die stille Oberfläche eines funkelnden Sees in der Abenddämmerung zu blicken.

Redeten die einen von Spukhäusern und unsichtbaren Gespenstern, die an die Fundamente alter, geschichtsträchtiger Häuser gebunden waren und die neuen Besitzer der Häuser in den Wahnsinn zu treiben versuchten, so erzählten die anderen von Zaubergeistern und anderen Dämonen, die man des Nachts auf verwaisten Feldern und an einsamen Wegesrändern beobachten konnte.

Keine dieser fabelhaften Geschichten, welche die schlichten Gemüter der Bewohner derartiger Orte beherrschten, konnte bislang wissenschaftlich oder rational begründet werden.

Nicht einmal einigen, in Mikes Augen verwirrten Suchern nach dem Übersinnlichen, die ihr Leben opferten, um in alten Mären und purem Aberglauben den unauffindbaren Wahrheitskern hervorzubringen, war es bisher gelungen, feststehende Beweise vorzulegen.

Eine derartige Legende besaß ihre Wurzeln seit Generationen in der Erde von Arc´s Hill. Und ein jeder, der auf diesem verfluchten Boden wandelte und sich mit den Einwohnern dieses Landstrichs einließ, wurde zwangsläufig vom boshaften Geist der Vergangenheit infiziert, so wie es bei dem Schankwirt offenkundig geschehen war.

Was Mike akzeptierte und kannte, ohne seinen Verstand in Zweifel ziehen zu müssen, waren die Legenden der Großstadt.

Hektik, Lärm und gleißender, künstlicher Schein. Diese modernen und meist maskierten Schauermärchen hatten ihn in dem unerschütterlichen Glauben erzogen, dass sich alles auf der Welt materiell und methodisch erklären ließe, und dass keineswegs Dinge außerhalb jeglicher menschlichen Vorstellungskraft existierten, die man nur mit Dämonen oder Teufeln zu erklären vermochte.

Benommen von der Wirkung des Alkohols und ermutigt von seinen eigenen leugnenden Gedankengängen, ließ sich Mike vom Rhythmus des Regens an den Fenstern ermüden. Noch ehe er sich dem unausweichlichen Gedanken hingeben konnte, sich doch noch Wards Aufzeichnungen anzunehmen, war er auch schon in jenem alten und gewaltigen Sessel eingeschlafen, in dem vielleicht sogar jener dem Wahnsinn anheimgefallene Charles Ward selbst gesessen hatte.

Kaum dass er den Atem der Ruhe und Entspannung in seinem Innern spürte, als er auch schon zurück zu den Pfaden seines illusorischen Traumes wandelte …


Ich stand am Ende jenes endlosen, bizarren Korridors aus allumfassender Dunkelheit, der mich schon einmal gefangen und zu dieser strahlenden Stadt, diesem Elysium epochaler Baukunst, geleitet hatte. Diesmal erschien mir das Dunkel nicht fremd und beängstigend. Stattdessen war ich mir sogar sicher, dass mich Etwas in dieser grabähnlichen Nacht willkommen hieß.

Mein Blick glitt voller Ehrfurcht über das Flammen der blitzenden Dächer und Türme, den blendenden Schein heller, surrealer Bauten und ausladender, makelloser Straßenzüge. Meine Augen folgten dem tanzenden Glitzern klaren Wassers, das den sich schlängelnden Flusslauf unter Brücken und Stegen speiste.

Diesmal entließ mich das Dunkel meines Traumes, ohne mich abermals widerwillig in die schreckliche Realität zurückzuziehen, und ich setzte zum ersten Mal einen Fuß auf die weiße, marmorgleiche Straße, die sich demütig zwischen den ausdrucksvollen Gärten zweier prachtvoller Paläste hindurch wand.

Der pure Akt der Berührung erschien mir in diesem Augenblick als Frevel und unwürdig einer jeden menschlichen Seele, angesichts der majestätischen, fast kosmisch zu nennenden Eleganz dieser schweigenden Stadt.

Ich erblickte Blumen, deren Schönheit ich noch nie zuvor in meinem Leben zu Gesicht bekommen hatte; in Palastgärten, die eine eigene, wundersame Welt darstellten, einem gewaltigen, nahezu perfekten Gemälde gleich, in alle nur erdenkliche Farben getaucht. Die Paläste selbst waren monumentale Schlösser, wie sie sich der phantasievollste Geschichtenerzähler nicht ersinnen konnte, und von derart auserwähltem Reiz, dass mir die reine Anwesenheit meines unwürdigen Geistes im Schatten dieser Bauten als höchste Blasphemie erschien. Die Eingänge dieser Prachtbauten waren kolossale, kupferne Pforten, von reich verzierten weißen Säulen gestützt und mit handgeschnitzten Ornamenten verfeinert. Breite, ausladende, blendendweiße Treppengänge führten zu diesen Portalen. Mein unwürdiger, in seiner Fähigkeit begrenzter Verstand vermochte nur einen Hauch der Andeutung zu erahnen, welch prächtige Säle und Hallen sich jenseits der Einlässe verbargen. Scheinbar leer und schweigend, und doch angefüllt mit Leben, das lange Zeiten schon der Stunde des Erwachens harrte und so gegenwärtig erschien, wie die kühle Luft dieser seltsamen und fantastischen Stadt.

Doch waren diese Prachtburgen nicht das Ziel meiner nächtlichen Traumreise.

Ich schritt voran durch eine atemberaubende Stille, von einem Willen gelenkt, der nicht mein eigener schien. Vorbei an Herrenhäusern und prächtigen, uralten Fassaden mit schwerem Gebälk und blendenden Marmorsäulen, an blühenden, edengleichen Gärten, und dem glitzernden Fluss entlang, der sich verlockend und distanziert zugleich flüsternd durch dieses traumerdachte Paradies schlängelte.

Als ich den terrassenförmigen Berg erreichte, blickte ich empor zum gottesgleichen Tempel, der auf dem höchsten Balkon thronte, unnahbar und eigen, und eins erschien mit dem Weiß und Blau eines nahezu perfekten Himmels.

Wie unwürdig ich doch war …

Wie unbedeutend und klein …

Mit den Schritten eines Fremden begann ich den Aufstieg auf einem schmalen Pfad, der sich in Serpentinen um die Anhöhe wand und sich aus den Niederungen der Straßenzüge hinaufzog zum Thron der Stadt.

Dort musste ein Gott leben, dachte ich in demütiger Ehrerbietung. Nur ein Gott war würdig, einen derartigen Thron zu besteigen.

Mein Atem ging schwer, und mein Herz schlug hart in meiner Brust; das einzige Geräusch, das sich seinen Weg in meinen Traum suchte. Und doch verspürte ich nicht den Schmerz der Erschöpfung.

Dann endlich stand ich davor. Der Tempel war ein gewaltiger, von Schönheit und Wohlgestalt, von Licht erfüllter Quell all jener Freuden und Versuchungen, denen man sich nur in den geheimsten Winkeln des Bewusstseins hinzugeben vermochte.

Mächtige, mit seltsamen Hieroglyphen veredelte Säulen und Pfeiler erstreckten sich in schiere Unendlichkeit. Breite, weiße Stufen luden mich ein, sie zu ersteigen und zu einer hellen, eisenbeschlagenen und mit Gold und Kupfer veredelten Pforte zu gelangen, die einen Spalt offen stand und den Blick in ein Halbdunkel aus Unendlichkeit freigab. Demütig trat ich näher, verließ den blendenden Schein eines Tages, der mir so unwirklich erschien wie der Traum, der mich hierher geführt hatte. Ich schritt durch den Spalt der offenen Pforte, die mir so gewaltig wie das Zelt des Himmels anmutete … und fand mich in einer weiten, grenzenlos erscheinenden Halle wieder. Eine eigene, fantastische Welt, deren Beschreibung es dem menschlichen Verstand an Worten mangelte. Ich spürte, wie ich an die Grenzen meines Bewusstseins und Daseins stieß.

Inmitten dieser Halle, die der Himmel selbst hätte sein können, erblickte ich eine Gestalt.

Es war das erste Wesen, das erste Anzeichen von Leben, dem ich in dieser stillen und schlafenden Stadt begegnete. Es stand da, umgeben von gewaltigen Säulen und Fresken und Reliefs, die sich in die Unendlichkeit zu erstrecken schienen und sich in Dunkelheit verloren.

Wir sahen uns an – Sekunden, Ewigkeiten – es existierte keine Zeitspanne in diesem Traum.

Ich spürte die kolossale Macht, die von dieser Gestalt ausging, ich konnte den Willen, den Geist der Kreatur, mit jeder Faser meines Körpers fühlen.

Ich wusste nicht zu sagen, was es war. Ob ein Mensch oder gar ein göttliches Wesen, das dem Sitz und der Umgebung angemessen erschien. Denn alles, was ich erblicken und an das ich mich außerhalb meines Traumgebildes erinnern konnte, war lediglich der Schattenriss des Wesens. Es erschien mir wie ein Geist; durchscheinend und ohne jegliche feste Kontur, und doch so präsent, dass ich mich in Anbetracht der gewaltigen Stärke, die dieses Wesen auf sich vereinte, nicht in der Lage sah, meinen Blick von der Gestalt abzuwenden.

Dort, wo ich das Antlitz des Geschöpfes vermutete, bildete ich mir ein, Augen zu erkennen. Blicke, die mich trafen und meine innersten und geheimsten Gedankengänge erforschten.

Ich spürte seine Gegenwart tief in meiner Seele, eine Berührung, kalt und heiß gleichermaßen. Und doch fiel ich einem Trugschluss anheim, denn da war nichts, das ich als greifbar hätte bezeichnen können. Mal glaubte ich die Umrisse eines Menschen zu erkennen, dann sahen meine Augen die Konturen einer hageren, hoch aufgerichteten Kreatur mit langen Fangarmen und einem widerlichen Schädel, dann wiederum die Gestalt eines Tieres, das sich auf die Hinterbeine aufgerichtet hatte.

Während all dem – all der Sekunden oder Stunden oder gar Jahre – sah ich mich außerstande, mich zu bewegen, meinen Standort zu wechseln oder gar das Geschöpf aus dem Auge zu entlassen.

Dann sprach das Wesen zu mir.

Deutlich hörte ich eine Stimme in meinem Kopf. Ein leises, herrliches Flüstern, ein Raunen, von einer Ebene, weit jenseits allen Denkens und höher, als es selbst der Himmel hätte sein können …

 

… doch ehe mich der Sinn jener gesungenen und geflüsterten Worte erreichte, wurde ich auch schon von einer schwarzen, harten Faust gepackt und in die Eiseskälte finsterster Nacht gezogen.

Fort vom hellen Glanz der riesigen Tempelhalle.

Fort vom verführerischen Schweigen jener traumerfundenen Stadt mit ihren Palästen und Gärten und Straßen und Brücken und dem glitzernden, silbernen Fluss …

… und fort von dem übersinnlichen Geschöpf, dessen Worte sich in der Leere der Dunkelheit verloren, ehe sie mich erreichten …

… zurück in die von Regen geschwängerte, kalte Nacht und dem, was ich Leben nannte.


Die Traumvisionen waren nur schwerlich zu halten und nichts, das man hätte greifen können. Keine Bilder, keine Stimmen. Nicht einmal die schlierigen Fetzen der Dunkelheit, die ihn zu der prachtvollen Stadt führten, besaßen Substanz.

Fast erschien es Mike, als bestünde eine stabile und doch unsichtbare Grenze zwischen jener Welt, die sein Geist des Nachts erschuf, und der Trostlosigkeit seiner altbekannten Realität, die ihm so viel weniger verlockend anmutete, als seine nebulöse, verschwommene Einbildung eines Traumes.

Alles, was sich in seinem Verstand manifestiert hatte, war lediglich dieses ferne, kaum wahrnehmbare und fremdartige Flüstern, das ihn aus der Ehrfurcht gebietenden Stadt entlassen hatte, bevor es seinen Geist erreichen konnte. Nicht mehr als der Hauch eines sanften Windes über frühmorgendlichen Wiesen, wenn die Halme raschelten und das Blattwerk der Wälder seinen monotonen Gesang anstimmte.

Es waren Worte gewesen. Eine Stimme, die jenes schattengleiche Wesen an Mike hatte richten wollen, bevor ihn die Dunkelheit jäh in die erbärmlichen Fänge leiderfüllter Realität zurückgezogen hatte.

Was war es gewesen, das ihm dieses Geschöpf hatte mitteilen wollen? Welche Worte … welche Botschaft? War Mike auserwählt worden, sie als das vielleicht erste menschliche Wesen vernehmen zu dürfen?

Während der graue Abend sich allmählich in tiefste Dunkelheit wandelte, verschwendete er keinen Gedanken daran, sich um die anfallenden Arbeiten zu kümmern, die seiner harrten in den verwaisten Räumen des alten Hauses. Stattdessen hatte er ein Feuer im Kamin entzündet und sich zurück in den antiquierten Sessel gesetzt. Fast glaubte er, den Geist des seltsamen Charles Ward in seiner Nähe zu spüren, als er seine Hände auf die zerschlissenen hölzernen Armlehnen legte.

Während die Wärme des flackernden Feuers ihn in einen wohligen Mantel hüllte, hielt Mike die Augen geschlossen und versuchte vergeblich, jener fremdartigen, geflüsterten Stimme in seinem Kopf zu lauschen. Sein Bewusstsein reichte nicht so weit, etwas ergreifen zu können, das er nur im Traum erlebt hatte. In der trüben Wirklichkeit dieses verregneten Abends besaß sein Verstand weit weniger Fähigkeiten, zu fühlen und zu begreifen, als er es im Glanz jener betäubenden Stadt tat. Und doch konnte sich Mike eines Gedankens nicht erwehren, der ihn, wenn auch unbewusst, beschäftigte, seit er jenes Paradies des Traumes verlassen hatte.

Es war mehr ein Gefühl, als ein greifbarer und realer Gedanke, doch glaubte Mike, sich zu erinnern, das Flüstern jenes mystischen Wesens auch noch nach seinem Erwachen vernommen zu haben. Nicht etwa als letzter Fetzen eines Traumes, der seinem Begreifen entglitt, sondern als eine reale Empfindung, die ihn seither an seinem Verstand zweifeln ließ.

Die Tatsache, dass sich in dieser schattengleichen Vorstellung das sirenengleiche Flüstern der Gestalt in ein tiefes, donnerndes Grollen verwandelt hatte, tat sein Übriges, Mike in einer Unruhe zurückzulassen, die ihn frösteln ließ. Er hatte das trügerische Gefühl, dass jenes profane Flüstern, das jetzt mehr dem Knurren eines Ungetüms glich, direkt aus der Erde gekommen war …

Nachdem sich Mike in der altmodischen Küche mit dem gusseisernen Ofen etwas zu Essen bereitet hatte, nahm er, entgegen seinem eigentlichen Willen, das alte Tagebuch zur Hand, von dem er nun wusste, dass es ein Mann namens Charles Ward vor rund zwanzig Jahren niedergeschrieben hatte.

Er begann mit einer verstörenden Mischung aus kindlicher Neugierde und furchtsamen Grauen den nächsten Eintrag des letzten Bewohners des Grady-Anwesens zu studieren. Auf dem Tisch neben dem Sessel stand ein weiteres Glas Whiskey. Vor den Fenstern hatte mittlerweile die Nacht ihren Einzug gehalten. Vielleicht traf er in dem Buch auf etwas, das die Barriere zwischen der Traumwelt und seiner scheußlichen, grauen Realität zumindest in seinen Grundfesten zu erschüttern vermochte …


09. Februar 1966

In der letzten Nacht war ich zum Tempel hinaufgegangen. Der Aufstieg war lang und beschwerlich, da sich der kiesbestreute Weg serpentinenartig um den gigantischen Hügel schlängelte. Doch spürt man im Traum weder Schmerz noch Erschöpfung.

Der Anblick der heiligen Anlage auf dem Berg war beeindruckend und fürchterlich zugleich. Nie zuvor, weder im Traum noch im wachen Zustand, hatte ich ein Bauwerk von derart erhabener Gesinnung bestaunen dürfen. Und doch haftete den strahlenden Mauern etwas Bedrohliches an. Ich kann nicht beschreiben, was mich zu dieser Vermutung veranlasste, handelte es sich doch ausschließlich um einen Traum, wie ich mir immer noch einzureden versuche. Doch fühlte ich selbst in diesem schlafenden Zustand eine kalte Faust der Beklemmung, die mich eisern gepackt hielt, während ich den Koloss aus Stein, Kupfer und Gold betrachtete.

Das Innere des Tempels, jene erste Halle, die ich betrat, als ich durch das gigantische Portal ging, glich einer Symphonie aus Weite, Größe und schier unendlicher Glorie, die ich hier mit meinen simplen Worten kaum zu erfassen vermag. Ich hatte das atemberaubende Gefühl, das Tor zu einer anderen, fremdartigen Dimension durchbrochen zu haben. Vielleicht trat ich aber auch einfach nur von einem Traum in den nächsten. Die Halle – falls man sie überhaupt als solche bezeichnen durfte – schien keine physischen Grenzen zu besitzen. Weder in der Länge, noch in der Höhe. Es war eine kunstvolle Ansammlung von Säulen und Torbögen, allesamt verziert mit unbekannten Hieroglyphen und fremdartiger Fresken. Sie muteten als die überwältigenden Arbeiten fremder Kunstschöpfer an, die man sich nur schwer vorzustellen vermag.

Und inmitten dieser hohen, kalten ersten Halle des Tempels bin ich auf dieses Wesen gestoßen. Seltsamerweise erschrak ich nicht, fand ich die Stadt doch bislang verlassen und schweigend vor. Ich kann hier nicht niederschreiben, um welche Art von Wesen es sich handelte. Nicht einmal weiß ich, ob es irdischen Ursprungs war, denn ich kann es nur als schwarzen Schatten inmitten des hellen Scheins der Tempelanlage beschreiben.

Es stand einfach da, eine nebulöse Silhouette, deren Konturen immer wieder zu verschwimmen schienen. Ich hatte das unheimliche Gefühl, als würde ich durch den Schatten hindurch in eine alte, lange vergessene Zeit blicken können.

Das mag an dieser Stelle nun merkwürdig und ohne Sinn anmuten und davon zeugen, dass ich im Begriff bin, den Verstand zu verlieren. Doch war dies genau die Empfindung, die ich in meinem Traum verspürt hatte. Ebenso wurde ich von dem naiv zu nennenden Bewusstsein überwältigt, dass ich einer der wenigen Menschen war, denen die Ehre zuteilgeworden war, einen Blick – wenn auch nur im Traume – auf dieses von Licht durchflutete, herrliche Geschöpf werfen zu dürfen.

Als ich mein Wort an jenes gesichtslose Wesen richten wollte, endete mein Traum abrupt und ich wachte in kalten Schweiß gebadet in meinem eigenen Zimmer auf. So ungern ich es auch zugeben mag, so hoffe ich doch, in der nächsten Nacht erneut zu der fremden Stadt reisen zu können und dem sonderbaren Wesen zu begegnen.


Mike lehnte sich im Sessel zurück und ließ das Buch in den Schoß sinken. Er versuchte die Worte von Charles Ward auf sich wirken zu lassen. Doch ihre Bedeutung fand nur schwerlich Zugang zu seinem ausgemergelten Verstand.

Konnte es denn tatsächlich möglich sein, dass ein Mann zwanzig Jahre bevor Mike von jener seltsamen Stadt geträumt hatte, von demselben Traum heimgesucht worden war?

Mit welchen wissenschaftlichen Maßstäben konnte ein derartiger Zufall begründet werden?

Mike starrte zur Decke und lauschte dem flüsternden Knacken des Kaminfeuers. So sehr er sich auch zu konzentrieren versuchte und bereit war, seinen Verstand für eine Welt zu öffnen, die mit rationalen Worten kaum zu erklären war, es wollte ihm einfach nicht gelingen, eine Verbindung zwischen Wards Aufzeichnungen und seinen eigenen Erlebnissen zu knüpfen.

Dieses Haus, selbst der ganze düstere Landstrich, schienen eine eigene verworrene und in den Grundfesten der Realität erschütterte Welt zu beherbergen, deren Erfassung für einen schlichten menschlichen Verstand nicht geeignet schien.

Mike war versucht, diese unwirkliche Gegend als das anzuerkennen, wie man sie in den seit Generationen gewobenen Geschichten und uralten Legenden darstellte. Doch war da immer noch ein letzter Funke seines sachlich arbeitenden Verstandes, der sich weigerte, das gelesene Wort des alten Buches, ebenso die absonderlichen Worte des Schankwirtes, in den Reigen „fantastisch zu erklärender Dinge“ einzuordnen.

Vielmehr befriedigte sich Mike damit, seine derzeitige Verfassung mit der fast unmenschlich zu nennenden Überbeanspruchung seines Denkens seit dem Tode von Olivia und Susan zu beschreiben.

Männer, die stärker waren als er, hätten in seiner Situation längst den Verstand verloren und sich den süßen Verführungen des Todes ergeben, so mutmaßte er. Warum also sollte es ein schändliches Verhalten sein, sich von den düsteren Mythen dieser Gegend in die Knie zwingen zu lassen, sofern die Seele ohnehin einen unheilbaren Bruch erlitten hatte?

Er nahm das Buch wieder zur Hand und ließ seinen Blick sehnsüchtig zum im Feuerschein glitzernden Whiskey wandern, als ihn eine Bewegung im Augenwinkel aufschrecken ließ.

In Anbetracht der Tatsache, dass er sich als das einzige menschliche Wesen in dem großen Anwesen wähnte und die schaurige Geschichte, auf die er in den wenigen Tagen gestoßen war, einen nachhaltigen Eindruck in seinen Gedanken hinterlassen hatte, erschreckte ihn diese schlichte Bewegung mehr, als er sich eingestehen wollte.

Mike drehte sich zu einem der Fenster um, hinter dem er den Hauch einer Erschütterung zu sehen geglaubt hatte. Er schalt sich einen Narren, dass er es dem Alkohol erneut erlaubt hatte, seine Sinne in jene tiefen Tümpel der Täuschung zu tauchen, wie es ihm in seiner kleinen Wohnung in London nur zu oft widerfahren war. Doch im nächsten Augenblick verflog die einschläfernde Wirkung des Whiskeys und seine Gedanken tauchten aus einem See eiskalten Wassers auf, geschärft und wachsam.

Die Bewegung war keineswegs auf pure Einbildung zurückzuführen gewesen. Im dunklen Rechteck des Fensters und jenseits seines eigenen, fahlen Spiegelbildes erkannte Mike das Abbild eines kleinen Mädchens.

Er stand auf, schloss das Buch und legte es auf den kleinen Tisch neben dem Sessel. Er rechnete damit, dass das Kind, nachdem es entdeckt worden war, verschwinden und zurück in den Ort laufen würde, wo es zweifelsohne herstammte. Vielleicht war er nur Opfer einer makabren Mutprobe unter den Kindern des Ortes geworden. Aber das Mädchen stand unbeweglich in der Nacht vor dem Haus und starrte zu ihm ins Zimmer.

Mike versuchte in stiller Verzweiflung erneut dem Alkohol die Schuld an seinen Trugschlüssen zu geben. Doch ebenso schnell wurde ihm bewusst, dass er sich im Moment mit einer merkwürdigen und unheimlichen Realität konfrontiert sah. Er ging langsam auf das Mädchen zu, wobei er sich bemühte, seine Nervosität nicht zu zeigen.

Als er sich ihm näherte und sein eigenes Spiegelbild in der Scheibe nach und nach verblasste, erkannte Mike mit leichtem Schaudern jenes Mädchen, das ihm in den Gassen von Arc´s Hill schon einmal begegnet war. Sie trug denselben dunklen Regenmantel, der vom Wasser glänzte. Die langen Haare waren nass, und ihr bleiches Gesicht wirkte ebenso wächsern und ausdruckslos wie bei ihrer ersten Begegnung.

 

Er zögerte. Dann öffnete er das Fenster und erschrak ob der Kälte, die ins Haus strömte. Das Mädchen wich keinen Schritt zurück. Ihre dunklen, fast schwarzen Augen beobachteten Mike.

»Was tust du bei diesem Wetter hier draußen?«, fragte Mike und versuchte seiner Stimme einen versöhnlichen, jedoch strengen Klang zu verleihen. Stattdessen erschienen ihm seine eigenen Worte eher einem heiseren Flüstern gleich, das seinen Schrecken nicht verbergen konnte.

Das Mädchen legte den Kopf zur Seite und entließ ihn nicht aus seinem Blick. Fast erschien es Mike, als versuchte das Kind das Wesen seines Gegenübers zu ergründen.

»Wir haben uns schon einmal gesehen«, fuhr Mike fort. »Erinnerst du dich? Es war im Dorf, heute Nachmittag.«

Mike versuchte ein Lächeln, das jedoch nicht erwidert wurde. Er wusste nicht, was er mit dem Kind anfangen sollte. Irgendjemand im Ort würde sich bereits Sorgen machen, immerhin war es fast Nacht und ein eisiger Wind wehte um das alte Haus.

»Du solltest nach Hause gehen«, setzte Mike an. »Das ist kein Ort für ein kleines Mädchen wie dich. Außerdem solltest du schon lange in deinem Bett liegen und schlafen.«

Profane Worte, doch Mike fühlte sich plötzlich wie ein Gefangener. Er hatte in London nie lernen müssen, mit einer derartigen Situation umzugehen. Der Blick des Mädchens wanderte an ihm vorbei ins Innere des Hauses, als suchte es nach etwas Bestimmten. Das Gesicht jedoch blieb ausdruckslos. Als sich die dunklen Augen wieder auf ihn richteten, verzogen sich die schmalen Lippen zu einer traurigen Grimasse.

»Sie sollten auch nicht hier sein«, sagte das Mädchen mit monotoner Stimme. »In dem Haus werden böse Träume geboren.«

Mike betrachtete das Kind, das ihn unverwandt anstarrte. Er suchte in dem kleinen, hübschen Gesicht nach einer kindlichen List oder dem Vergnügen eines unausgereiften Verstandes, ihn durch Worte zu erschrecken. Doch immer noch wirkte das Antlitz wie eine bleiche Maske, ohne jegliche Regung, sah man einmal von der tiefen Trauer ab, die sich in das unschuldige Gesicht gegraben hatte.

»Was redest du da?«, fragte Mike und suchte die nähere Umgebung nach anderen Kindern ab, die sich einen Spaß daraus machten, dem Fremden in ihrem Dorf einen Streich zu spielen.

Doch das Mädchen schien alleine. Es stand inmitten eines verwilderten Blumenbeetes, das vor dem Fenster lag, trug seinen dunklen Regenmantel und ebenso dunkle Schuhe, die im aufgeweichten Erdboden versanken und schmutzig waren.

Ihr Haar hing in nassen Strähnen ins Gesicht.

»Sie dürfen nicht träumen«, fuhr das Kind fort, ohne Mike aus ihrem Blick zu entlassen. »Er versucht Sie zu täuschen. So, wie Er es bei meinem Vater getan hat.«

Mike spürte trotz seines Unbehagens, wie das Kind seine Geduld überstrapazierte. Er wusste nicht, was er tun sollte, kannte er doch außer dem Schankwirt niemanden im Ort.

»Was ist mit deinem Vater?«, griff er die Worte des Mädchens auf. »Er wird sich Sorgen machen und bereits auf der Suche nach dir sein. Geh nach Hause.«

Zum ersten Mal kam etwas Regung in das Kind. Langsam schüttelte es den Kopf.

»Mein Vater hat mich zu Ihnen geschickt. Ich soll Sie warnen.«

»Wovor?«

Das wächserne Gesicht blickte starr und ernst.

»Vor den Träumen. Vor den Verführungen. Vor … Ihm.«

Mike setzte ein gequältes Lächeln auf und legte seine Hände auf die Fensterflügel, als beabsichtigte er, jene zu schließen. Ein kalter Schauer fuhr durch seinen Körper, der jedoch nicht von der Nacht herrührte.

»Geh nach Hause, Kleines …«, begann er, doch das Mädchen schnitt ihm das Wort ab.

»Er versucht, Sie zu verführen und lässt Sie sehen, was Er will, dass Sie es sehen. Aber die Wahrheit ist eine andere. Sie sehen nur Seine Maske.«

»Von wem redest du? Wer bist du?«

»Er ist ein Dämon. Der Wächter. Er bewacht die Pforte zur Gruft.«

Mike fuhr sich mit Händen, die von der Nachtluft kalt geworden waren, über die Augen. Eine bleierne Müdigkeit hatte sich hinter seinen Lidern eingenistet, doch sein Herz schlug hart in der Brust.

»Hör zu«, setzte er an, doch da trat das Mädchen langsam vom Fenster zurück.

»Lassen Sie nicht zu, dass Er sie täuscht. Er will die Pforte öffnen und IHN erwecken, dass er aus der Erde steigen kann.«

»Was redest du da?«

Das Mädchen zog sich in die Dunkelheit zurück.

Ihr Mantel war kaum noch zu erkennen.

Nur ihr kleines Gesicht glich einem verblassenden, aschfahlen Mond.

»Warte.«

»Träumen Sie nicht. Denn Sie sehen nicht Seine wahre Gestalt.«

Das Mädchen verschwand. Ihr Gesicht nur noch ein bleiches Oval in der Finsternis.

»Wer bist du?«

Mike starrte in die Nacht hinaus, lehnte sich weit aus dem Fenster. Die Kälte ergriff ihn mit erbarmungslosen Fingern, seine Augen begannen zu tränen.

Das Mädchen war verschwunden.

Doch dann glaubte er im kalten Flüstern des Nachtwindes ganz leise ihre Stimme zu vernehmen.

»… Emma …«


Er stand noch lange am Fenster und starrte in die schwarze Wand der Nacht hinaus.

Die grauen Schatten der Bäume und Sträucher waren kaum zu erkennen. Die Kälte der nahen Berge fuhr ihm unter die Kleidung und ließ ihn frösteln. Sein Körper zitterte, aber Mike blieb am Fenster stehen und versuchte der feinen Stimme des Kindes zu lauschen.

Doch alles blieb still.

Schließlich schloss er das Fenster und betrachtete nachdenklich sein groteskes Spiegelbild. Hinter sich konnte er das behagliche Knistern des Feuers im Kamin hören. Sein Gesicht wirkte blass und angespannt, seine Augen müde und mit einer unbekannten Furcht erfüllt.

Was war nur aus seinem Leben geworden? Was hatte der Teufel ihm noch genommen, außer seiner Frau und kleinen Tochter? Nahm er ihm nun den Verstand?

Mit bebendem Körper – ob vor der Kälte der Nacht oder Furcht vermochte er nicht zu sagen – ging Mike zum Sessel zurück und leerte das Glas Whiskey in einem Schluck. Das Feuer, das sich augenblicklich durch seine Eingeweide fraß, beruhigte ihn, so wie es das immer getan hatte, in jenen langen, schmerzerfüllten Nächten in London.

Er starrte ins Feuer, und dachte dabei an die Abdrücke kleiner Kinderschuhe im Matsch vor dem Fenster. Ein untrüglicher Beweis, dass er sich die Erscheinung nicht eingebildet hatte.

Emma … war das ihr Name? Nach einer Weile ergriff er das brüchige Leder des Buches, schlug es auf und las weiter in den Aufzeichnungen des Charles Ward.


10. Februar 1966

Der Aufstieg zum Tempel war auch in dieser Nacht nicht erschöpfend. Wie ich mir erhofft hatte, fand ich den Weg mit erschreckender Leichtigkeit zurück in diese fremdartige, verlassene Stadt. Fast schon ergriffen die Zweifel die Oberhand, dass dieser Ort nur ein Traumgespinst zu sein vermag. Doch möchte ich meine Mutmaßungen nicht hier und jetzt zu Papier bringen; zu fantastisch erscheinen mir diese Gedanken. Als ich das Portal der Tempelanlage durchschritt, erwartete mich mein merkwürdiger Gastgeber bereits. Wie in der Nacht zuvor, war er nichts weiter als eine schattengleiche Gestalt, die inmitten der gigantischen Tempelhalle stand.

Ich wagte kaum, mich ihm zu nähern, zu groß war mein Respekt, aber gleichzeitig auch meine Furcht vor diesem von Licht beschienenen, konturenlosen Wesen, welches das einzige in dieser Stadt war, das mich an einen Traum denken ließ. Zu surreal mutete diese Kreatur an – sei es ein Mensch oder eine andere, schwer vorstellbare Wesensart.

Ich wollte das Wort an das Geschöpf richten, so wie in der Nacht zuvor. Trotz aller Furchtsamkeit hatte ich innerlich beschlossen, dessen absonderlichen Geheimnis auf den Grund zu gehen. Doch noch bevor ich meinen Mund öffnen und gedankenlose und an diesem Ort unangebrachte Worte aussprechen konnte, vernahm ich plötzlich eine hohe, Echo begleitete Stimme in meinem Kopf.

Ich wusste sofort, dass diese Stimme, die mich an den fernen Singsang eines Männerchores erinnerte, ihren Ursprung in diesem hellen Lichtwesen besaß, das nach wie vor bewegungslos in der Mitte der Halle harrte.

Die Gestalt redete in einer fremden Sprache zu mir, die ich, ohne dass ich einen Gedanken daran verschwendete, verstehen konnte. Sie erzählte mir von der Stadt und davon, wie sie einst voller Leben war. In einer Zeitepoche, die lange vergessen und im nebligen Morast der Vergangenheit versunken war, hatten die Stadt und ihre Gebieter über eine Welt geherrscht, die lange vor der unseren untergegangen war.