Die Legende von Arc's Hill

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Er sah verzerrte, nebulöse Bilder von grenzenloser Finsternis und hellem, gespenstischem Schein am Rande seiner Wahrnehmungskraft, ohne sie richtig greifen und verstehen zu können.

Die Empfindungen wirkten düster und abschreckend, aber auf groteske Weise auch verlockend, als versuchte ihn irgendetwas nicht Erkennbares zu verführen.

So setzte er sich am frühen Nachmittag dieses trüben und verregneten Tages in einen altertümlichen Sessel, den er in der ersten Nacht seiner Arbeiten in den Kellerverliesen gefunden und nach oben getragen hatte, und widmete sich dem alten, in schwarzes Leder gebundene Buch, sowie den Fotos, die er in der verstaubten Truhe im letzten Raum des Kellers gefunden hatte.

Vielleicht würde es ihm gelingen, sich mittels ihrer von den merkwürdigen Bildern in seinem Kopf abzulenken und seine überreizten Sinne zu beruhigen.

Er betrachtete die gelbstichigen, an den Rändern zerrissenen Aufnahmen mit der Faszination eines Altertumsforscher, der ein unschätzbares, antikes Gut in Händen hält.

Manche der Aufnahmen waren durch Kälte und Feuchtigkeit kaum noch zu erkennen. Andere wiederum erstaunlich gut erhalten, als seien sie mit besonderer Sorgfalt behandelt worden. Die Ränder waren vergilbt und die Farbe gebleicht, was darauf schließen ließ, dass sie schon mehrere Jahrzehnte alt sein mussten.

Auf den meisten der Fotografien waren zwei kleine Mädchen von etwa zehn Jahren zu erkennen. Sie blickten entweder scheu lächelnd in die Kamera oder aber sie lachten dem Fotografen ausgelassen entgegen, wobei ihre funkelnden, kindlichen Augen Mike schmerzlich an Susan erinnerten.

Auf wenigen der Fotos konnte er eine Frau und einen Mann sehen, wobei er die Frau von den blonden Haaren und dem offenen Lächeln her eindeutig als die Mutter der beiden Mädchen erkannte.

Der Mann, so dachte Mike, musste der Vater sein und derjenige, der die meisten Fotos gemacht hatte, denn ihn fand er lediglich auf zwei unscharfen und verwackelten Aufnahmen wieder.

Sie alle trugen altmodische, mit Rüschen besetzte Kleidung, ähnlich den Wäschebergen, die Mike in den Nächten zuvor in den Kellerräumen aufgefunden hatte.

Er suchte auf den fleckigen Rückseiten der Fotos nach Anhaltspunkten wie Namen oder Daten, doch er fand nur leere Flächen mit schmutzigen, vergessenen Fingerabdrücken.

Als er nach dem Buch griff und die Fotos auf einen kleinen, runden Tisch zu seiner rechten Seite ablegte, überkam ihn das bizarre Gefühl, dass seine unzusammenhängenden Visionen vom Tage mit dem Geschriebenen, das er vorzufinden erhoffte, in Verbindung stehen könnten.

Mit Fingern, von denen er sich nicht eingestehen wollte, dass sie unmerklich zitterten, öffnete Mike den ledernen Einband und strich mit dem Daumen über das trockene, pergamentartige Papier, das alle Zeitalter der Welt zu beinhalten schien. Der Geruch von Schimmel und Alter erfüllte den Raum.

Mike erkannte mit einer morbiden Faszination, dass es sich bei dem Buch um ein altes Tagebuch handelte.

Während der Regen vor den düsteren Fenstern einen leisen, einschläfernden Rhythmus gegen die Scheiben flüsterte, begann er die erste Seite des alten Buches zu lesen.


05. Februar 1966

Ich beginne dieses Buch zu schreiben, in der Hoffnung, all das Geschehene verstehen zu können. Ich hätte nie gedacht, dass ich soweit getrieben werde, war ich doch bislang ein rational denkender Mensch, der an die unumstößlichen Ergebnisse wissenschaftlicher Fakten geglaubt hatte. Doch all dies, was hier geschieht – was mit mir geschieht – kann mit keiner uns bekannten Wissenschaft erklärt werden.

Ich erhoffe mir durch den puren Akt des Niederschreibens meine Furcht im Zaum halten zu können. Wovor ich mich fürchte, weiß ich im Grunde nicht, denn am Tage sind die Erinnerungen an die Nächte kaum greifbar. Doch konnte ich so viel von den Träumen in meinem Unterbewusstsein festhalten, dass ich mir im Klaren darüber bin, dass es durchaus einen Grund gibt, sich zu fürchten. Einen wahrlich schrecklichen Grund.

Es hat vor einer Woche begonnen. Da träumte ich in einer regnerischen Nacht zum ersten Mal von dieser merkwürdigen Stadt.

Ich möchte hier nicht näher auf die Beschreibung derselben eingehen, da ich mir nicht mehr sicher bin, ob ihr Glanz und ihr überwältigender Schein nicht bloß Blendwerk sind, um von ihrer wahren Erscheinung abzulenken.

Hielt ich den Traum in der ersten Nacht noch für eine völlig normale, wenn auch sehr intensive Illusion, so wurde mir im Laufe der letzten Tage schnell klar, dass es sich hierbei unmöglich um einen schlichten Traum handeln konnte. Selbst ein Albtraum sucht sein Opfer in den meisten Fällen nur einmal heim.

Ich wandle jedoch in jeder Nacht durch die breiten und hellen Alleen dieser seltsamen Stadt und kann nicht verhindern, dass ich eine gewisse Bewunderung für die Architektur und das Wesen dieser Metropole empfinde. Indem ich dies hier niederschreibe, hoffe ich, den Bann zu brechen, den die Nächte mir auferlegt haben. Mit meiner Familie möchte ich nicht darüber sprechen. Sie würden mich für verrückt erklären. Und vielleicht hätten sie sogar Recht.

08. Februar 1966

Seit meinem letzten Eintrag war ich in jeder Nacht in dieser seltsamen und doch Ehrfurcht gebietenden Traumstadt. Und mit jedem meiner Besuche wurde das überwältigende Gefühl von Demut größer, angesichts des majestätischen Atems, den diese leblose Stadt erzeugt. Die imposanten Bauten und breiten, geraden, nahezu perfekten Straßen und Plätze ergeben ein erschreckend schönes Kunstwerk, das meine ungeteilte Verehrung, aber auch einen mir bis dahin unbekannten Neid zum Vorschein bringt. Sucht man derartige Formen makelloser Schönheit doch vergebens in unserer schlichten, hochmütigen Welt.

Meine anfängliche Furcht vor dieser namenlosen Stadt scheint mit jedem meiner nächtlichen Besuche und jedem einzelnen Schritt zu schwinden, den mein Fuß auf die weißen, gepflasterten Straßen setzen darf.

Dennoch will ich mir einen letzten Rest von Vernunft und Vorsicht bewahren, denn immer noch weiß ich nicht das Geringste über das Wesen dieser Stadt, ebenso wenig über ihre Schöpfer, sowie Sinn oder Ort ihrer Herkunft. Die Straßen empfangen mich zwar mit hellem, einladendem Glanz, doch sind sie mir immer noch so fremd wie in der ersten Nacht.

Ich scheine das einzige Wesen zu sein, welches das grabesähnliche Schweigen der Häuser und Gärten, Straßen und Plätze, und der Brunnen mit ihren aus Marmor geschliffenen Statuen brechen darf. In all den Stunden – oder waren es Tage, Wochen? – war mir kein einziges anderes Lebewesen begegnet. Selbst die Fenster der herrschaftlichen Häuser scheinen verlassen und blind, obgleich ich mich des erdrückenden Gefühls nicht erwehren kann, bei jedem meiner Schritte beobachtet zu werden. So verlassen und starr sich mir die namenlose Stadt auch präsentiert, so sehr spüre ich verborgenes, schlafendes Leben in ihr, das den Zeiten harrt, in denen es endlich wieder seine Augen öffnen und wandeln darf.

Der Gedanke erschreckt mich. Und doch erregt er meine schier zügellos zu nennende Neugierde, denn welche Wesen mochten sich in einer derart grandiosen Stadt aus reinstem Licht verbergen? Welches Geschöpf vermochte würdig zu sein, über diese Traumstraßen wandeln zu dürfen? Bin ich es überhaupt? Würdig? Oder bin ich ein Eindringling, in eine Welt, die mein Verstand nicht erfassen kann? Wer oder was hat mich hierher gelockt, um mir die seit Ewigkeiten verborgenen Geheimnisse der namenlosen Stadt zu offenbaren?


An dieser Stelle des mit zitternder Handschrift verfassten Textes beendete Mike das Lesen. Obwohl er das Haus bisher nur selten geheizt hatte, stand kalter Schweiß auf seiner Stirn. Eine merkwürdige Entkräftung hielt ihn mit eisigem Griff gefangen.

Er konnte nicht sagen, ob dies am trüben, trostlosen Tageslicht lag, das düster durch die schmalen Fenster fiel und den Raum nur spärlich zu erhellen vermochte, oder ihn der Traum der Nacht doch mehr erschöpft hatte, als er sich eingestehen wollte.

Vielleicht musste er diese fremdartige Mattigkeit, die ihm fast den klaren Verstand zu rauben drohte, auch jenen Zeilen in dem Tagebuch zuschreiben, so sehr er sich auch dagegen zu wehren versuchte. Trotz jedweden Leugnens erkannte er mit einem eiskalten Schaudern, dass jener unbekannte Verfasser dieser mittlerweile zwanzig Jahre alten Zeilen sich untrüglich auf denselben Traum bezog, welcher Mike in der vergangenen Nacht heimgesucht hatte und an den er sich nur noch bruchstückhaft erinnern konnte.

Noch hegte er die scheinheilige Hoffnung, dass er lediglich der grausigen Täuschung eines intensiven Trugbildes erlegen war. Eine Manifestation, die ihn in ihren Bann geschlagen und offenkundig derart geschwächt hatte, dass sein Verstand tatsächlich versuchte, eine Verbindung zwischen dem alten Text in dem Buch und jenem merkwürdigen Traum zu weben. Doch der Inhalt des abgegriffenen Tagebuches schien dieses Hoffen bereits im Ansatz ersticken zu wollen.

Mike war in seinem bisherigen Leben – jenes, von dem er angenommen hatte, es in dieser Einöde mit Erfolg abgelegt zu haben – ein rational denkender Mensch gewesen.

Er glaubte an die Thesen der Wissenschaft und Ergebnisse, die man mit Zahlen belegen und erklären konnte. Spekulationen oder gar übersinnliche Phänomene waren für ihn stets reine Zeitverschwendung gewesen und gehörten in die Welten von Phantasten und Träumern. Doch irgendetwas in seinem Unterbewusstsein mahnte Mike, sich in dieser Angelegenheit nicht ausschließlich auf seinen Verstand zu verlassen. Eine kleine unangenehme Stimme, deren jämmerliches Aufbegehren er unmöglich ignorieren durfte.

 

Konnte es denn wirklich sein, dass dieser Mann – der bisher letzte Bewohner dieses abgelegenen Anwesens, sofern Mike den Worten Delwrights Glauben schenken durfte – tatsächlich denselben Traum gehabt hatte, wie er ihm selbst in der letzten Nacht beschert worden war?

Schenkte Mike, entgegen seiner Natur, jener qualvollen Stimme in den Tiefen seines Verstands Gehör, so hatten die Schritte des Mannes dieselben Straßen berührt, die er selbst in seinem Traum aus der Ferne als strahlende Bänder zwischen leuchtenden Häuserzeilen und herrschaftlichen Anwesen erblickt hatte. Die Arbeiten an dem großen Haus schienen Mike zu überanstrengen. Dazu die monotone Abgeschiedenheit des Anwesens von der Stadt. Er hatte in den letzten Tagen und Nächten viel getätigt, sowohl in den verstaubten und verwaisten Wohnräumen, als auch des Nachts in den Verliesen des Kellers. Hinzu fügte sich die psychische Belastung durch den Verlust seiner Familie, die scheinbar immer noch tiefer in ihm steckte und wütete, als er angenommen hatte. Zu dieser Bürde aus Einsamkeit und Schmerz gesellten sich nun noch jene befremdlichen Worte, die er in dem alten Tagebuch gefunden hatte.

Das alles, so befand Mike, war zuviel für seinen geschundenen Seelenfrieden. Was er brauchte war etwas, das seine düsteren, überreizten Gedanken in ihre finsteren Höhlen zurückdrängte und ihm ein anderes Antlitz seiner neuen Heimat preisgab.

So legte er das Buch und die Fotografien auf den kleinen Beistelltisch neben dem antiken Sessel und beschloss zum ersten Mal, seit er Arc´s Hill erreicht hatte, dem Ort einen Besuch abzustatten.

Als er aufbrach, regnete es noch immer. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch, um sich vor dem schneidenden Wind zu schützen, und spannte den Regenschirm auf.

Sofort begann ein dumpfes, rhythmisches Klopfen, das seine Schritte über den schmalen, vom Regen aufgeweichten Fußpfad unter den tropfenden Weiden hindurch bis hinunter in das verschlafene Städtchen lenkte.

Er wusste nicht, wohin er gehen sollte, hatte er es bislang doch versäumt, den Ort genauer zu erkunden. Jedoch hatte er nicht vor, bei dem tristen, kalten Herbstregen länger als zwingend notwendig durch die engen und dunklen Gassen zu spazieren.

Er begegnete nur sehr wenigen Menschen, die trotz des Regens unterwegs waren. Er grüßte alle, doch erhielt er weder eine Antwort noch einen Blick, der ihn als Fremden zeichnete.

Vielmehr traf er auf mürrische, verschlossene Gesichter, die ihre Augen unter breitkrempigen, altmodischen Hüten oder tief gehaltenen Schirmen verbargen und eilends ihrer Wege gingen.

Ein kleines Mädchen von etwa zehn Jahren hingegen, das in einen vom Regen glänzenden Mantel gehüllt war, blieb vor ihm stehen und sah ihn mit ausdruckslosen Augen an.

Mike musterte das Kind, dessen Gesicht bleich und wächsern wirkte, und konnte sich eines eisigen Schauers nicht erwehren, der ihn augenblicklich gefangen hielt.

Das Mädchen neigte den Kopf zu Seite, als betrachtete es etwas, das es nicht verstand. Der Ausdruck ihrer dunklen Augen zeugte von Gleichgültigkeit.

Mike suchte nach den richtigen Worten, um das Kind zu begrüßen, ohne es zu erschrecken. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, ging das Mädchen an ihm vorbei und verschwand mit langsamen Schritten im grauen Dunst des Regens.

Mike sah ihm nach, wie es sich schattengleich von ihm entfernte, fast so, als sei es lediglich ein Gespenst seiner überreizten Phantasie gewesen.

Mit Gedanken, die ihm nun noch verworrener anmuteten, schritt Mike weiter seines Weges durch enge Durchfahrten und finstere Gassen, in deren Pfützen sich der Regen silbern spiegelte. Die verfallenen Häuser zu beiden Seiten der steinernen Pfade erschienen ihm wie sterbende Riesen, die sich in ihrer Resignation gegeneinander lehnten und dem Ende harrten.

Der Gestank von abgestandenem Wasser und Fäulnis hing schwer zwischen alten Backsteinmauern und den hohen Giebeln der verrotteten Häuser.

Außer dem ständigen Prasseln des Regens lag eine fast greifbare Stille über dem Ort.

Er erreichte einen kleinen Platz, in dessen Mitte ein Zierbrunnen aus kupfernen Pfannen und bleiernen Rohren stand.

Um den Brunnen herum waren verschlungene Wege angelegt worden, die von braunem Laub bedeckt und durch niedrig geschnittene Hecken von der Straße getrennt waren. Mike konnte die schwarzen Schatten einiger Bänke erkennen, auf denen sich ebenfalls abgestorbene Blätter und dunkle Zweige häuften.

Gegenüber des Brunnens erblickte er die matte Beleuchtung einer kleinen Taverne. Da der Regen seinen Mantel mittlerweile gut durchnässt hatte und ihm zunehmend kalt wurde, beschloss Mike, auf ein Glas in die Spelunke einzukehren.

Vielleicht schaffte er es dort, in der Gesellschaft anderer Männer, seine trüben und zunehmend furchtsamen Gedanken zu vertreiben. Und wenn nicht dies, so doch zumindest soweit zu bannen, dass ihn diese unerklärliche Müdigkeit wieder aus ihrem eisigen Griff entließ.

Doch als er an die Männer in der Taverne dachte, erschien das Mädchen wieder in seinen Gedanken. Der leere, unheimliche Ausdruck ihrer Augen ließ ihn erneut frösteln.

Mit dem Gefühl, endlich wieder seit Tagen in Gesellschaft anderer Menschen zu gelangen, betrat er das kleine Gasthaus, das sich ihm auf einem alten, an eisernen Ketten im Wind schwankenden Schild über dem Eingang als ›Knights Head‹ offenbarte.

Hegte er noch beim Anblick des windschiefen, alten Backsteinbaus Hoffnung auf menschliche Gesellschaft und vielleicht ein Gespräch, das seine wirren Gedanken zu verdrängen vermochte, so schlug diese Hoffnung beim Betreten des Gasthauses in pure Enttäuschung um. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und das helle Klingeln einer feinen Glocke über dem Türrahmen verstummt war, blickte er sich niedergeschlagen im dämmerigen Licht der Taverne um.

Die Tische, die er nur als schwarze Schatten im diffusen Schein des schwindenden Tages erkannte, waren verwaist. Eine alte Musicbox am anderen Ende des Raumes war stumm und ausgeschaltet. Der Geruch von Zigaretten, abgestandenem Bier und gebratenem Speck hing in der Luft.

Gerade als sich Mike nach seinem flüchtigen Blick durch den Schankraum wieder zum Gehen wenden wollte, hielt ihn die tiefe, müde Stimme eines Mannes zurück, der hinter der Theke aus dunklem Holz stand und lustlos in einer zerknitterten Zeitung las. Mike hatte den Mann bislang nicht bemerkt.

»Kommen Sie ruhig herein, Mister. Auch wenn es Ihnen nicht so erscheint, aber wir haben geöffnet.«

Mike zögerte, erinnerte ihn die Erscheinung des Mannes hinter der Theke doch augenblicklich an jenes seltsame Mädchen aus der Gasse, obwohl er sich den Grund für diesen Vergleich nicht erklären konnte.

Doch dann trat er näher, wohl auch, um nicht wieder in den Regen hinaus zu müssen. Er ließ sich schwer atmend auf einen abgenutzten Hocker an der Theke nieder und bestellte auf den fragenden Blick des Schankwartes hin ein Bier. Sein Mantel hinterließ einen Ring aus Wassertropfen rund um den Barhocker.

Das ›Knights Head‹ war ein düsterer, niedriger Raum mit dunkel gebeizten Dachbalken und unbehandelten Stützpfeilern, die ebenso finster erschienen wie der übrige Raum. Hinter den kleinen Fensterscheiben konnte Mike das verschwommene Muster des Regens erkennen, doch er bezweifelte, dass der Schankraum des Gasthauses selbst bei hellem Sonnenschein viel freundlicher gewirkt hätte. Dennoch waren ihm dieser Ort und die Gesellschaft des grobschlächtigen, schweigsamen Wirtes im Augenblick lieber, als die trübe Stille seines Hauses jenseits der Trauerweiden.

Der Mann hinter der Theke machte einen müden, abwesenden Eindruck. Er war ein kräftiger Bursche mit ernstem Blick und dichtem, schwarzen Haar, das sein herbes Antlitz, einer dunklen Wolke gleich, einrahmte und unter einem albernen, grauen Hut gebändigt wurde, wie man sie in den Städten trug. Eine ebenso verschrobene Feder steckte in einem dünnen Gummiband. Das Gesicht des Mannes wirkte älter als es wohl in Wirklichkeit war.

Als er Mikes indiskreten Blick bemerkte, legte er die Zeitung beiseite, wischte seine Hände an einer fleckigen Schürze ab, die er um die Taille gebunden trug, und baute sich vor seinem Gast auf. Seine beleibten Armen stützten sich dabei wie Holzpfosten auf der wurmstichigen Theke ab.

»Es kommt selten vor, dass sich Fremde nach Arc´s Hill verirren«, begann er ohne zu zaudern, wobei seine dunklen Augen Mike mit einer Mischung aus Neugierde und Argwohn betrachteten.

»Ich bin kein Fremder«, entgegnete Mike mit müder Stimme und erschrak über die tiefe Verwirrung, die seinen Worten inne lag.

Er griff nach seinem Glas und nahm einen langen kühlen Schluck, der seinen Körper augenblicklich zu erfrischen schien.

»Ich habe das alte Herrenhaus auf dem Hügel gekauft.«

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Mike, einen tiefen Schrecken in den Augen seines Gegenübers zu erkennen. Tatsächlich schien das Gesicht des Mannes eine Spur blasser geworden zu sein, was aber infolge des trüben, schwindenden Tageslichtes auch eine Täuschung seiner Sinne gewesen sein konnte.

»Sie meinen das alte Grady-Anwesen?«

Der Mann griff nach einem Tuch und rieb gedankenverloren über die Theke. Dabei schien sein Blick ins Leere zu gehen. Der Hut warf einen finsteren Schatten über seine Augen.

»Ich kenne es.«

Er hielt in seiner Tätigkeit inne.

»Hat lange leer gestanden, das Haus.«

»Ich weiß. Ich kenne die Geschichte des Hauses und habe im Moment eine Menge Arbeit, es wieder so herzurichten, dass man guten Gewissens darin wohnen kann.«

Mike rollte das Glas zwischen seinen Händen und genoss die angenehme Kühle, die sich auf seinen Fingern ausbreitete. Dann stellte er das Bier auf der Theke ab und blickte dem Schankwirt geradewegs in die Augen.

»Grady … ist das der Name des letzten Besitzers?«

Seine Gedanken kehrten zu dem alten Tagebuch zurück, in welchem er am Mittag gelesen hatte. Waren es Gradys Worte, die in den vergilbten, pergamentartigen Seiten geschrieben standen?

Doch der hünenhafte Mann hinter der Theke enttäuschte ihn.

»Nein. Grady hieß der Mann, der das Haus vor fast einhundertfünfzig Jahren auf dem Hügel vor der Stadt erbauen ließ. Reginald Grady. Hier im Ort nennt man es nur das Grady-Anwesen.«

Der Mann sah Mike in die Augen, doch lag die Ahnung einer tiefen Furchtsamkeit im Blick des Schankwirtes. Als er weitersprach, schüttelte er den Kopf, als versuchte er sich selbst von erschreckenden Gedanken zu befreien. Die Feder an seinem Hut wippte leicht und drohte aus dem Gummiband zu fallen.

Plötzlich wirkte der Mann, der auf Mike den Eindruck eines gutmütigen und schwerfälligen Einsiedlers machte, nervös und aufgebracht.

»Ich will Sie nicht beunruhigen, Mister. Aber Sie haben das Haus eines Wahnsinnigen erstanden.« Er blickte sich hektisch in dem stillen Raum um. »Man erzählt, Grady habe sich mit den Mächten der Finsternis eingelassen und ihnen seine Seele verpfändet. Von seltsamen Dingen und Ritualen ist die Rede.«

Mike hatte gerade einen weiteren Schluck getrunken.

Jetzt aber stellte er sein Glas verwundert auf die Theke zurück.

Er konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.

»Wollen Sie mir erzählen, dieser Grady sei ein Hexenmeister gewesen?«

Der Mann schüttelte den Kopf, wobei sein Blick den seines Gegenübers zu bannen versuchte.

»Schlimmer, Mister. Viel schlimmer. Man sagt, er habe seine gesamte Familie einem Dämon geopfert, den er in seinem Irrsinn anbetete. Seine Frau und fünf Kinder. Und zu guter Letzt verschwand Grady selbst. Spurlos, ohne dass ihn jemand dabei beobachtet hätte, wie er das Dorf verließ. Lediglich seine Familie fand man noch in dem alten Haus vor.«

Der Mann legte eine theatralische Pause ein.

»Abgeschlachtet in ihren Betten.«

Ein kalter Schauer schien Mikes Körper in Eis verwandeln zu wollen. Es gelang ihm nur schwerlich, seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen.

»Aber das Ganze ist fast einhunderfünfzig Jahre her. Das sind sicher nur Ammenmärchen, wie man sie sich wohl in jedem abgeschiedenen Landstrich auf der ganzen Welt erzählt.«

Der Wirt schüttelte bedächtig den Kopf. Sein Blick war noch ernster und finsterer geworden.

 

»Man erzählt sich die seltsame Geschichte des alten Grady seit Generationen. Die Alten erzählen sie ihren Kindern, wenn sie denken, dass diese alt genug für die schreckliche Sage ihrer Heimat seien. Und diese erzählen sie wiederum ihren Kindern. Nein, Mister …« Er trat einen Schritt zurück und musterte Mike kritisch. Fast empfand es dieser, als begutachtete der Schankwirt einen Aussätzigen. »Das, was dort oben in dem Haus geschah, ist kein Ammenmärchen. Es gab viele Familien, die nach dem Verschwinden von Reginald Grady in das Anwesen zogen. Viele verschwanden nach kurzer Zeit ebenso spurlos, wie der alte Mann damals. Und diejenigen, welche das Glück besaßen, nicht der Teufelei zum Opfer zu fallen, die zweifelsohne in den Zimmern dort oben umhergeht …« Der Mann schlug mit der freien Hand ein Kreuz vor seiner Brust. »… waren dem Wahnsinn verfallen und haben das Haus und Arc´s Hill bei Nacht und Nebel verlassen.«

»Aber in den letzten zwanzig Jahren hat das Haus leer gestanden.«

Mikes Stimme hatte sich in ein heiseres Flüstern verwandelt, was ihm, in Anbetracht der ungeheuerlichen Geschichte, die er gerade gehört hatte, als durchaus angemessen erschien.

»Der Letzte, der dort oben wohnte, war ein Mann namens Charles Ward, der mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern das Haus bezogen hatte.«

Der Wirt deutete mit einem Kopfnicken auf das Glas und füllte es dann nach, ohne eine Antwort seines Gastes abzuwarten.

»Und ist er ebenfalls … wahnsinnig geworden?«

Mike überkam das absurde Gefühl, sich in den Fängen eines skurrilen Traumes zu befinden. Die Frage hatte sarkastisch klingen sollen, doch die Stimme, die diese Worte sprach, schien nicht mehr seine eigene zu sein.

Der Schankwirt nickte. »Als man Charles Ward eines Nachts schreiend und mit fiebrigem Wahn in den Augen auf dem Marktplatz des Dorfes aufgegriffen hatte, war man zu der Überzeugung gelangt, dass es für alle das Beste sei, das unheimliche Haus zu meiden und dem Zerfall preiszugeben.«

»Aber was war mit der Familie von Ward? Seiner Frau und seinen beiden Töchtern?«

Der Mann schloss die Augen. Sein Antlitz, ungeschlacht und roh, verzerrte sich zu einer harten Maske, deren Lippen bebten, als er weitersprach.

»Ich war damals dabei, als einige Männer zum Haus hinaufgingen. Denn Ward hatte im Fieberwahn und mit einem hässlichen Lachen, das nie und nimmer aus einer menschlichen Kehle hatte stammen können, erzählt, dass er seine Familie in ihren Betten niedergemetzelt hätte. Wir waren zum Hügel hinaufgegangen, nachdem man Ward in Polizeigewahrsam genommen hatte. Und wir fanden tatsächlich die zerstückelten Körper von Wards Frau und seiner beiden Mädchen. Glauben Sie mir, es war ein schrecklicher Anblick. Besonders die Kinder.«

Der Mann stieß ein tiefes Stöhnen aus. Dann herrschte Schweigen zwischen den beiden. Kaum, dass die Worte des Wirtes verstummt waren, legte sich eine beängstigende und lähmende Stille über den Raum, als hätte sich etwas Finsteres von draußen ins Haus geschlichen. Mike wurde mehr denn je von dem Gefühl beherrscht, sich in einem düsteren Traum zu befinden, ähnlich jenem, der ihn in der Nacht heimgesucht hatte.

Wie konnte in einer Zeit wie dieser, die von Hektik und Karrieredenken geprägt war, eine derartige Geschichte tief in den Gedanken dieser Menschen verwurzelt sein?

Mike fiel es schwer, dem Gehörten Glauben zu schenken. Und doch spürte er, sehr zu seinem Entsetzen, eine plötzliche Furcht in sich aufsteigen, die sich kalt durch seinen Leib fraß und seine Gedanken lähmte.

Die Worte des Wirtes, von deren Wahrheit Mike dennoch nicht überzeugt war, tanzten wie grauenvolle Bilder vor seinen Augen und ließen ihn schaudern. Er fragte sich, wie tief altertümlicher Aberglaube in einem abgelegenen Städtchen wie Arc´s Hill in dessen Bewohnern schlummern mochte. Wie sehr durfte man solchen Worten Glauben schenken?

Ein Blick in die finsteren, nachdenklichen Augen seines Gegenübers, in Verbindung mit dem alten Tagebuch, das Mike im Keller gefunden hatte, versuchte ihn von der immer noch lebendigen Seele dieser seit Generationen überlieferten Sage zu überzeugen. Er spürte, wie sich ein uralter Glaube seinen Weg zur Oberfläche seines Verstandes zu bahnen versuchte.

Doch Mike war aus London in diesen von Gott verlassenen Landstrich gekommen. Einer Stadt, die einmal seine Heimat war und sein ganzes Glück bedeutet hatte. Eine Stadt der Hektik, der grellen Lichter und mit Wissenschaft zu belegender Realität. Daher fiel es ihm trotz der kalten Furcht, die er verspürte, schwer, den Worten des Schankwirtes die gleiche Akzeptanz entgegenzubringen, wie es der Mann mit dem finsteren Blick hinter der Theke augenscheinlich tat.

»Wenn man das Haus der Zeit hatte überlassen wollen …«, sagte Mike schließlich in die Last des Schweigens hinein und drehte sein Glas erneut zwischen den Handflächen. » … warum hat man es dann wieder zum Kauf angeboten?«

Als sich die Blicke der beiden Männer trafen, glaubte Mike in den Augen des Schankwirtes einen Anflug von Hohn aufblitzen zu sehen. Sein Gesicht jedoch blieb ernst.

»Manche Häuser wollen nicht leer stehen«, antwortete der Mann mit unvernehmbarer Stimme.

Dann ließ er Mike alleine und ging zu seiner Zeitung am anderen Ende der Theke zurück. Die Feder wippte leicht, als versuchte sie, Mike zum Abschied zu winken.


Als er an diesem Abend zurück in das alte Haus kam, das er nun als das Grady-Anwesen kennengelernt hatte, drohte ihn die finstere Stille der hohen und kalten Räume wie ein Mantel zu ersticken. Er saß in dem alten Sessel, in dem er am Mittag das Tagebuch gelesen hatte, und hielt ein Glas mit Whiskey in der Hand, den er sich im ›Knights Head‹ gekauft hatte. Er war sich sicher, dass er den wärmenden Alkohol benötigen würde, nachdem ihn die Worte des Schankwirtes derart aufgewühlt hatten.

Auch wenn er immer noch nicht dazu bereit schien, sich zu seiner inneren Unruhe und den rasenden Gedanken zu bekennen, die ihn heimsuchten, seit er die Taverne verlassen hatte.

Der Whiskey tat seine Wirkung, auch wenn die behagliche Wärme in seinem Körper ihn schmerzlich an London und endlose exzessive Nächte der Trauer und Tränen erinnerte. Mike betrachtete die Flasche auf dem Beistelltisch neben dem Sessel und schätzte sich glücklich, in dieser einsamen und unheimlichen Gegend auf ein derartiges Relikt aus der modernen Welt gestoßen zu sein. Es würden keine Abende und Nächte folgen, wie sie in London fast alltäglich gewesen waren. Dessen war er sich sicher. Doch jetzt, da er alleine in dem großen Herrenhaus saß und sich so schutzlos wie noch nie zuvor fühlte, benötigte er den scheinbaren Freund aus der Flasche, an den er sich in den letzten Monaten so sehr geklammert hatte.

Während sich sein Körper von innen erwärmte und selbst die merkwürdigen Worte des ungeschlachten Mannes aus der Taverne ihren Schrecken einbüßten, ertappte sich Mike immer wieder dabei, wie sein Blick zu dem ledernen Buch wanderte, das im Schein einer alten Öllampe neben der Flasche auf dem Tisch lag.

Das Tagebuch des Charles Ward, wie er nun wusste.

Nach den Worten des Wirtes zu urteilen, war sich Mike sicher, dass es sich bei dem Buch um eben jene Zeilen handelte, die Ward vor zwanzig Jahren niedergeschrieben hatte und die, sollte Mike je den Mut aufbringen, weiterzulesen, den beginnenden Wahnsinn des Mannes dokumentieren würden.

Doch Mike weigerte sich beharrlich, dem inneren Drang nachzugeben, das Buch zu nehmen und tiefer in Wards Abgründe einzutauchen. Stattdessen labte er sich mit geschlossenen Augen an dem scharfen Geschmack des Alkohols auf seiner Zunge und genoss das barbarische Brennen in der Kehle, dem die verführerische Wohltat sinnlicher Vereinigung von Alkohol und Trauer in seinem Körper folgte.

Auf diese – zugegebenermaßen – kindliche Art und Weise versuchte er sich, dem seit Generationen gewachsenen Aberglauben des Ortes zu entziehen.