Dr. Love und die schüchterne Forelle

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»Was machst du Clerasilantiwerbung in einem Zimmer mit mir? Hast du mich angefasst? Ich trete dir gleich in die Klöten!« So charmant wurde ich geweckt.

»Hast du gut geschlafen?«, fragte ich. »Die Decke ist sehr kuschelig. Frühstück?«

Wenn Blicke töten könnten, wäre es um mich schlecht bestellt gewesen. Was hatte die Frau? Wir waren füreinander bestimmt. Und daher gab ich die Hoffnung nicht auf. Ma bereitet ein ausgezeichnetes Frühstück. Und Liebe geht durch den Magen. Das habe ich gelesen, Beweise habe ich aber noch nicht.

»Warum nicht«, zeigt sich Nadine besänftigt. »Ich könnte etwas zwischen den Kauleisten gebrauchen.« Ah, die These über Liebe und Magen stimmt, freute ich mich.

»Moment«, sagte ich.

Ich rannte aus dem Zimmer. Im Esszimmer führte Gerhard mit der Linken einen Toast mit Leberwurst zum Mund, mit der Rechten verrührte er Milch im Kaffee. Mutter legte gerade das vierte Gedeck auf.

»Moin. Nadine frühstückt mit. Keine dummen Fragen, bitte.«

Gerhard grinste wie die halslose Katze aus Alice in Wonderland. »Guten Morgen, Casanova. Geht klar, unsere Lippen sind versiegelt«. Er knuffte mich verschwörerisch.

Auch Mutter konnte sich das Strahlen nicht verkneifen.

»Unser Sohn hat eine Freundin, das muss ich gleich Tante Gerti erzählen.«

Mir wurde mulmig. »Halt doch mal den Ball flach, Mutter. Das ist kein großes Ding.«

Gerhard hob beschwichtigend die Hände. »Der Junge hat recht, Ingrid. Wir haben es damals doch auch wild getrieben. Da müssen wir jetzt kein Fass aufmachen.«

Mir schwante Übles, aber da musste ich durch. Ich stiefelte in mein Zimmer, wo Nadine sich gerade einen Joint baute.

»Frühstück ist angerichtet. Kommst du?«, lächelte ich. Irgendetwas hatte die Frau, das meine Angstzustände ausschaltete. Ich fühlte mich in ihrer Gegenwart völlig frei.

»Der Johnny war als Nachtisch gedacht«, zeigte sie sich begeistert. »Kann nicht schaden, den Magen zu füllen. Hoffentlich labern mich deine Eltern nicht voll. Da kann ich gar nicht drauf. Boah, meine Birne platzt gleich. Ich sollte bei Alkohol echt kürzertreten.«

Im Esszimmer dienerte mein Vater vor Nadine. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. So einen Mist machte er sonst nie.

»Herzlich willkommen in unseren bescheidenen Hallen«, faselte er. Hatten sie mir nicht versprochen, die Klappe zu halten.

Nadine musterte ihn mit schiefem Blick und hielt meiner Mutter die Hand hin. Bevor Ma sie ergreifen konnte, zog meine Angebetete sie wieder weg.

»Nadine. Sorry, mir ist heute nicht nach Quatschen. Habt ihr Bircher-Müsli? Da kann ich mich reinlegen. Wäre super.«

»Tut mir leid«, sagte Ma. »Aber Rührei mit Schinken haben wir. Ist es in Ordnung, wenn wir uns duzen? Ich bin Ingrid.«

»Alles roger. Eigentlich stehe ich nicht auf Cholesterinbomben, aber man lebt nur einmal, frau auch. Warum nicht. Vielleicht wirkt sich das positiv auf meinen Schädel aus. Scheiß Kater.«

»Natürlich duzen wir uns.« Vater war ganz aus dem Häuschen. »Ich bin Gerhard. Mensch, und mit Quatschen hatten wir es in eurem Alter auch nicht. Aber Achtundsechzig war das völlig normal. Wir haben gekifft, gesoffen und gefickt, was das Zeug hält. Heute nimmt doch kein Jugendlicher solche Wörter in den Mund, ohne rot zu werden. Das habe ich auch immer meinen Schülern erzählt: Ich ficke gerne und bin völlig frei.«

Nadine schaufelte sich Rührei auf den Teller und starrte Gerhard mit großen Augen an. »Alles klar«, sagte sie. »Nimmst du heute noch Drogen, Alter?« Sie schmierte sich ein Brot und träufelte Honig auf die Butter.

Gerhard fühlte sich geschmeichelt. Mensch, war mein Erzeuger peinlich. Mutter schaute auf die Tischdecke, als sprächen die Rosenornamente zu ihr.

»Nicht mehr regelmäßig, aber ab und an schon. Wir ficken dafür regelmäßig, nicht wahr, Ingrid.«

Meine Mutter murmelte unverständlich. Es ist für Kinder unvorstellbar, dass ihre Eltern Geschlechtsverkehr haben. Aber dass mein Vater auch noch andauernd darüber redete, war unerträglich.

»Wir haben nicht nur die Gesellschaft revolutioniert, auch unsere Körper haben wie Kerzen den Sommer der Liebe entzündet. Mit Jimi Hendrix, den Beach Boys, den Stones. Die Beatles waren uns zu mainstreamig, was, Ingrid?«

»Mensch, Alter. Die Stones sind alte Säcke, wenn die nicht Mainstream sind, wer dann. Hör lieber moderne Mucke wie Jupiter Jones oder Tomte. Dann schwimmst du im Groove der Zeit.« Bei Nadine konnte er wenig Eindruck schinden.

»Die Stones waren damals knorkomat, richtig grovy, das kannst du mir glauben«, ereiferte sich Gerhard. »Obwohl nie Mick Jagger der Philosoph der Stones war. Er war das Sprachrohr, aber nie der Kopf. Keith Richards war der Adorno des Rock’n’Roll«, fantasierte er jetzt auch noch. Warum musste ich immer in solch schrägen Filmen landen.

»Hat er dir das bei einem gemeinsamen Trip verraten?«, gab Nadine zurück und schaufelte sich einen Löffel Rührei zwischen die schneeweißen Zähne.

»Du wirst lachen. Ich hatte einen Kumpel, dessen Bruder eine Frau kannte, die mit Keith in die Kiste gesprungen ist. Das war bei einem Auftritt in Hamburg. Und da hat er ihr die unglaublichsten Geschichten erzählt. Da hätte ich gerne Mäuschen gespielt.«

Mutter hielt sich an ihrer Tasse fest, und auch ich war mit Dads Erzählchen restlos überfordert.

»Genug geplaudert», sprang Nadine auf. »Interessant bei euch, aber zu Hause wartet meine Katze auf Verköstigung. Hasta la vista.«

»Ich bring dich zur Tür«, sagte ich und eilte ihr nach.

Als wir auf der Treppe standen, meinte sie: »Alter, mach dir nichts draus. Dein Vater ist ein viel größerer Idiot als du. Das erklärt alles. Danke für Bett und Futter. Trotzdem hoffe ich, dass man sich nie wiedersieht.»

Als ich an die elterliche Tafel zurückkehrte, sagte Gerhard:

»Ich hoffe, dass ich sie nicht vertrieben habe. Vielleicht ist sie zart besaitet und verträgt die offene Sprache der Apo-Studenten nicht.« Meine Mutter hatte ihn anscheinend ordentlich zusammengestaucht.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich und verfluchte ihn im Stillen.

Aber Nadine, die ich übrigens nie wiedersehen sollte, benutzte ich. Jede Woche erzählte ich meinen Eltern, wie toll sich die Beziehung mit Nadine entwickelte: Ich lernte ihre reizenden, vollkommen normalen Eltern kennen, wir fuhren nach Paris, tanzten die Nächte durch und verlobten uns auf einem Kreuzfahrtschiff vor der finnischen Küste. Ohne Familie und voller Romantik. Meine Eltern luden sie jede Woche ein. Doch Nadine arbeitete als Projektmanagerin für eine internationale Werbeagentur. Immer war sie unabkömmlich. Ich sagte meinem Vater, dass die Plädoyers für freie Liebe Nadine nicht besonders gefallen hätten. Sie sei eher zartbesaitet. Da verringerte sich die Häufigkeit der Erkundigungen über das Wohlergehen meiner Liebsten. Und der beste Effekt dieser kleinen Schwindelei: Die Kontaktanzeigen auf dem Lokus waren passé.

Das ist meine Liebesgeschichte mit Nadine, die in Zeitraffer vor meinem inneren Auge abläuft.

»Hallo, jemand zu Hause?«, holt mich Großmutter aus meinen Träumen.

»Nadine beaufsichtigt Werbeaufnahmen in Los Angeles«, flunkere ich. »Die ist etwa drei Wochen in den Staaten.«

»Also, ich weiß nicht, ob diese Nadine die Richtige für dich ist«, unkt Oma. »Immer auf dem Jück. Das hält doch die beste Beziehung nicht aus. Habt ihr euch schon mal über Familie ausgetauscht? Nun hast du eine feste Stellung, da wird es höchste Zeit für den nächsten Schritt.«

Ma springt mir zur Seite. »Nun setz den Jungen doch nicht unter Druck. Wir sind froh, dass Timo überhaupt eine Freundin hat. Das ergibt sich alles von selber. Erst einmal ist wichtig, dass er sein Studium geschafft hat und auf eigenen Füßen steht. Der Rest kommt.«

»Wir hatten es damals auch nicht so mit dem Heiraten«, bringt sich Gerhard in die Diskussion ein. Hoffentlich erzählt er nichts vom Summer of Love. »Die Zeiten haben sich gewandelt, Gott sei Dank.«

Ich gebe auch meinen Senf dazu: »Wir wollen uns Zeit lassen. Nadine ist nicht der Hochzeits-Typ, ich übrigens auch nicht.«

Oma schaut Opa tief in die Augen. Der nickt.

»Ja, so seid ihr jungen Leute«, lächelt Oma. »Aber wir haben uns etwas ausgedacht, um euch eine Hochzeit schmackhaft zu machen.«

Opa stößt mit dem Stock auf den Boden. »Nur ordentliche Verhältnisse führen zu Erfolg. Ich habe deine Großmutter in jungen Jahren geehelicht und es nicht bereut. Ich habe auch schwierige Zeiten durchgemacht. Da hat deine Oma mir immer den Rücken freigehalten. Es geht nichts über eine gesunde Ehe.«

Was meine Großeltern da sagen, kommt mir Spanisch vor. Was wollen die von mir? Gleich soll ich es erfahren.

»Es hat uns sehr missfallen, wie sich dein Vater in seiner Studentenzeit verhalten hat. Zum Schluss hat seine Rumtreiberei« – Oma wirft Gerhard einen finsteren Blick zu – »doch ein gutes Ende gefunden. Aber da mussten wir nachhelfen. Wir haben deinen Eltern dieses Haus geschenkt, damit sie heiraten. Im Grunde sind alle Menschen Kapitalisten, auch wenn sie anders daherreden.« Sie lächelt finster.

Was haben die bloß mit Heiraten. Onkel Udo hat in diesem Moment die Augen geschlossen, so dass ich ihm problemlos seinen Jägermeister klauen kann. Das Zeug schmeckt wirklich gut, finde ich jetzt. Nicht zu süß, nicht zu bitter, was will man mehr von einer Spirituose?

»Dein Vater hatte ja mit deiner Mutter eine feste Freundin, bei der man erwarten konnte, dass die Ehe hält. Bei dir Timo, kennen wir deine Nadine nicht persönlich. Deine Eltern erzählen zwar, dass sie ein nettes Mädchen ist. Aber ansonsten macht sie sich rar. Vielleicht will sie nichts mit deiner Familie zu tun haben. Nun gut. Die Zeiten haben sich geändert, die Frauen auch. Deine Großeltern sind durchaus moderne Menschen. Um es kurz zu machen: Wir schenken dir zweihunderttausend Euro, wenn du dich innerhalb von drei Monaten verlobst. Es muss nicht diese Nadine sein. Aber wir möchten gerne Urenkel haben.«

 

Mein Vater schluckt. »Ihr könnt meinen Sohn nicht kaufen. Der verdient sein eigenes Geld. Wenn er sich verlobt, tut er das aus freien Stücken.«

»Dich haben wir auch durch unser kleines Geschenk positiv beeinflusst«, sagt Oma kalt. »Jetzt hältst du den Mund, Gerhard.«

»Und als Zubrot«, grinst Opa »erhältst du einen Posten im Aufsichtsrat meiner Firma. Dann weiß ich, dass sich zumindest einer mit dem Familienerbe auseinandersetzt. Das gibt neben deinem Zeitungsgehalt ein schönes Sümmchen, mit dem du locker vier Personen ernähren kannst.«

Ich nehme die Jägermeisterflasche, setze an und trinke. Nach einer gefühlten Minute setze ich ab und komme mir sternhagelvoll vor.

»Jungchen«, sagt Oma. »Mit dem Alkohol solltest du dich etwas zurückhalten.«

Mensch, was wollen die von mir? Ich bekomme nichts gebacken. Keinen Studienabschluss, kein Job, keine Freundin. Wie soll ich in drei Monaten verlobt sein. Wenn ich nicht so breit wäre, hätte ich Panikattacken. Aber so ist mir alles egal.

»In dr-ei Monnaden bin isch verlobt«, lalle ich. »Oppa, mach den Scheck fettig.«

03. Der Schlieffen-Plan wird ausgegraben

Als ich aufwache, schmerzt mein Kopf, als fände in meinen Synapsen ein Heavy-Metal-Festival statt. Oh. Ich öffne behutsam die Augen, wobei die Lider schwerer als sonst erscheinen. Verändert Alkohol die Schwerkraft? Egal, ich bin für philosophische Gedanken zu kaputt. Wie komme ich in mein Bett? Ich versuche die Ereignisse des letzten Tages zu rekonstruieren, was sich als mühsame Angelegenheit erweist. Da war doch was. Ach richtig, gestern war der Tag meiner akademischen Eliminierung. Ich habe verloren, gelosed, abgekackt. Eine Schande für jede Uni. Und für den Job als Volontär, den ich jetzt sowieso nicht bekomme, völlig ungeeignet. Wenn ich wirklich bei der Presse etwas werden will, reicht es nicht, passabel zu formulieren. Da brauche ich einen Studienabschluss als Legitimation. So ist das in Deutschland.

Ich hieve mich hoch. Anzuziehen brauche ich mich nicht, da ich in Klamotten ins Bett gefallen bin. Sieht reichlich zerknittert aus, die Anzughose. Es wird aber sicherlich dauern, bis ich wieder Verwendung für dieses Angeber-Teil habe. Mir fällt ein, dass in spätestens drei Monaten meine Verlobung stattfinden soll. Da habe ich wieder das Maul zu voll genommen. Aber eigentlich ist auch das egal. Wenn ich keine Frau zum Verloben vorzeige, kriege ich halt kein Geld. Da wäre ich aber schon beim wichtigeren Thema: Kohle. Meine Eltern werden mir ab nächstem Monat keinen Cent Unterstützung zahlen. Schließlich arbeite ich laut eigener Aussage hauptberuflich bei der Zeitung. Ich habe keine Lust mehr, meine finsteren Zukunftsperspektiven vor dem inneren Auge wie einen Film über die Apokalypse abzuspielen. Ich werde mich mit Ali treffen, der weiß meistens einen Ausweg.

Ich öffne die Zimmertür und wanke ins Wohnzimmer.

»Zorro«, frage ich den Rücken, der unsere Couch blockiert. In der Flimmerkiste läuft eine Oper auf 3Sat, Nabucco oder so.

»Horst«, murmelt die Vorderseite des Rückens und dreht sich schließlich um. »Kannst mich Hotte nennen, ist mir egal. Ich habe Zorro im ›Heinz‹ getroffen, leck mich fett. Das war ein klasse Abend.« Der Typ wirkt nicht fitter als ich. »Du bist Timo, Zorros Muse. Cool.«

Wir kennen uns. Horst ist Poetry-Slamer, netter Kerl, aber nicht besonders erfolgreich. Gags sind nicht sein Ding, und seine politischen Texte sind etwas plakativ. Aber er arbeitet bei einem Verlag. In der Lindener Szene ist eine feste Größe. Für Zorro schreibt er ab und Song-Texte. Obwohl ich mit Zorro befreundet bin, gehörte ich nicht zu den Szenetypen. Dafür bin ich zu spießig. »In sein« bedeutet trinken, bis der Arzt kommt, und jede Woche eine andere Frau im Arm halten. Außerdem erzählt man über wilde Projekte in Hamburg oder Berlin, die dich interessant machen, aber niemals realisiert werden. Das ist nicht mein Ding. Aber es schmeichelt mir, dass ich als Zorros Muse bezeichnet werde.

»Und, alles roger in Kambodscha?«, sagt Stengel. Ein Spruch, auf den man eigentlich keine Antwort erwartet.

Dennoch sage ich: »Ziemlich mies. Ich habe gestern meine Magisterprüfung verbockt. Eine Freundin hätte ich auch gerne. Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle. Wahrscheinlich, weil du gerade da bist.«

Hotte richtet sich auf und schaut mich erstaunt an.

»Muchacho, ich bin nie zu einer Uniprüfung angetreten. Und sehe ich unglücklich aus? Mich haben mehr als ein Dutzend Frauen verlassen, weil sie mit meinem Lifesstyle nicht einverstanden waren. Schiebe ich deshalb Trauer? Das sind alles temporäre Erscheinungen, die sich von selber lösen werden. Da wirst du auch noch drauf kommen, Amigo.«

Vielleicht hat er recht.

»Aber momentan scheint sich alles gegen mich verschworen zu haben. Ich bin gefrustet.«

Hotte kippt sich Kaffee aus der Kanne in eine Tasse, die seit drei Tagen unberührt auf dem Wohnzimmertisch rumgammelt. Er nimmt einen Schluck und verzieht angewidert das Gesicht. Dann trinkt er ein zweites Mal.

»Ich brauche morgens mein Hallo-Wach. Ohne komme ich nicht auf Betriebstemperatur. Jammere nicht so viel. Du musst deine Probleme konstruktiv angehen. Das Leben geht weiter und wird besser, wenn du dich nicht hängen lässt. Ich spreche aus Erfahrung. Grüß Tobias von mir. Wir sehen uns irgendwann an einem anderen Ort in diesem Universum. Dann erzählst du mir von deinen Fortschritten. Bye.«

Er hängt eine schmuddelige Lederjacke mit »Iggy Pop«Aufnäher über die Schulter und schließt die Tür hinter sich.

Zorro finde ich in seinem Zimmer, nur die Beine schauen unter der Decke hervor. An den Wänden des Raumes hängen Poster von Slime und Chuck Palahniuk, dem Autor von Fight Club. Ansonsten ist sein Bett von Billy-Regalen umgeben, auf denen sich Jerry-Cotton - und John-Sinclair-Hefte stapeln. Mir ist diese Art von Literatur zu eindimensional, doch Zorro meint, Jerry und John seien die einzigen postmodernen Helden, die man noch in hundert Jahren kennen werde.

»Bist du wach?«

Ein Grummeln ertönt, wobei ich nicht feststellen kann, ob es vom Kopf oder den Füßen kommt. Der Restalkohol vernebelt noch immer meine Wahrnehmung.

»Hast du Lust auf Frühstück, ein Uhr im ›Treibhaus‹?«

Ein doppeltes Grunzen signalisiert Zustimmung, zumindest nach meiner Interpretation. Ich gehe wieder in mein Zimmer und funke Ali an. Der ist zwar wie immer beschäftigt, aber Essen muss schließlich auch sein. Also steht der Termin.

Obwohl mein Kopf pocht und meine Nervenbahnen mit dem pelzigen Staub von Alkohol belegt sind, beschließe ich, joggen zu gehen. Zum einen wegen der Fitness – Frauen mögen sportliche Männer, habe ich gelesen. Zum anderen teilen attraktive Exemplare des weiblichen Geschlechts diese Leidenschaft. Nicht, dass ich mich trauen würde, eine Frau beim Laufen anzusprechen. Das ist so wie in der Disco. Dort schaue ich gerne auf die Tanzfläche und träume, wie toll es wäre, wenn mich die Frauen antanzen würden: Hey, du bist ein toller Typ. Wie wäre es mit uns? Trinken wir einen Whiskey-Cola? Weitere Aktivitäten sind nicht ausgeschlossen. Leider ist mir so was noch nie passiert. Beim Joggen hat mich auch noch nie eine Frau angesprochen. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Und wenn ich in drei Monaten eine Verlobte vorweisen will, muss ich in die Pötte kommen.

Ich schmeiße mich in einen dunkelblauen Adidas-Anzug, den ich von Gerhard vererbt bekommen habe. Dessen mittlerweile barocke Formen würden die Ballonseide zum Platzen bringen. Mir macht es nichts aus, dass das Teil von Adidas ist. Eine Frage der Philosophie. Mein alter Herr würde nie etwas von Nike kaufen. Das ist ein amerikanischer Konzern. Und durch die Steuern unterstützen die amerikanischen Firmen die Washingtoner Politik. Einmarsch in Afghanistan, Tote im Irak, Kuba-Embargo. Alles klar? Dabei fertigen alle Bekleidungsunternehmen mit asiatischen Kindern oder Billiglöhnern. Gibt es noch politisch korrekte Kleidung? Ich vermute, dass selbst die Neonazi-Klamotten von Thor Steinar eher auf den Philippinen als in Deutschland geschneidert werden. Zumindest die Geschäftsführung soll im arabischen Raum residieren. Schon seltsam, dass sich Geschäftsleute aus Dubai um die Reinhaltung des arischen Genpools sorgen. Jedenfalls ist mir die politische Dimension meiner Kleidung relativ egal, denn es gibt keine Alternativen. Und dass mich ein Markenname hipper macht, bezweifele ich.

Ich fahre zum Maschsee. Das ist mit fast sechs Kilometern eine ideale Laufstrecke. Einmal rum, und ich habe mein Tagespensum erfüllt. Was die wenigsten wissen: Das beliebte Ausflugsziel in Nähe des Stadions wurde als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme während der Nazidiktatur errichtet. In Szenekreisen ist der Teich deshalb verpönt. Aber zu seiner Ehrenrettung muss ich anmerken, dass schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts diskutiert wurde, einen See anzulegen, um Hochwasser von Leine und Ihme aufzufangen. Das idyllische Gewässer mit Blick aufs neue Rathaus, einem Prachtbau vom Beginn des 20. Jahrhunderts, kann nichts für den Zeitpunkt seiner Anlegung. Da muss man gerecht sein, sage ich immer zu Zorro. Er sieht das anders und meint, mit dem Boykott des Maschsees ein politisches Statement abzugeben. Um unnütze Diskussionen zu vermeiden, verschweige ich daher, wenn ich dort jogge oder das alljährliche Maschseefest besuche.

Jedenfalls ist es heute ziemlich leer an der Uferpromenade. Es ist schließlich auch Dienstagmorgen. Normale Leute arbeiten jetzt, gehen zur Schule oder zur Uni. Nur ein paar jugendliche Skater und vereinzelte Spaziergänger bevölkern die Umgebung des Gewässers.

Obwohl mein innerer Schweinehund knurrt, trabe ich los. Der See ist rund, mein Laufstil nicht. Es hakt, und ich komme öfter aus dem Tritt. Eigentlich laufe ich lieber abends, aber ich hoffe, die körperliche Anstrengung befreit meinen Kopf. Ich konzentriere mich auf den Weg. Immer die nächsten drei Meter im Blick. Ein weiterer Stolperer. Ich überlege mir, umzudrehen und mich wieder ins Bett zu legen. Aber ich kann nicht auch noch beim Laufen kneifen. Sonst verleiht mir irgendein Internetportal den Titel »Hannöverscher Kneifkönig«. Wenn ich dann noch einige Dinge versaue, komme ich vielleicht ins Fernsehen oder bekomme den Titel »Internationaler Kneifmeister«. Timo: Der Mann, der alles im Leben verdaddelt und die Untiefen der schleimigen Lebensgrütze auslotet. Meine Gedanken sind nicht sehr produktiv. Vor allem nicht für einen Neuanfang.

Plötzlich verspüre ich einen Schlag und liege am Boden. Es hat sich vorerst ausgestolpert. Es schmerzt zwar an den Knien, aber dennoch bin ich für die Unterbrechung dankbar. Bis ich aufblicke.

»Entschuldigung«, sagt die blonde Inlinerin, die mich umgesemmelt hat. »Ich habe laut geschrieen, aber du bist quer über den Weg gerannt, da konnte ich dir nicht mehr ausweichen. Geht es dir gut? Soll ich einen Arzt rufen?«

Die macht sich lustig über mich. Warum sollte ich medizinische Versorgung nötig haben.

Ich traue mich nicht, ihr in die Augen zu blicken.

»Hallo? Bist du ansprechbar?«, fragte sie mit ängstlichem Unterton.

Sehe ich aus wie ein verhätscheltes Weichei? Ich blicke auf. Wow, ist die Frau schön! So ein Klum-Typ, aber hübscher. Ich mag die Heidi und ihre Supermodel-Show nicht besonders. Eigentlich überhaupt nicht. Klar, der Otto-Normal-Mann bekommt was fürs Auge geboten. Aber ich weiß genau, dass ich niemals eine Frau wie diese in den Armen halten werde. Die würde so jemanden wie mich überhaupt nicht bemerken. Das habe ich jedenfalls gedacht, als ich Klums Sendung zum ersten Mal gesehen habe. Und war frustriert. Aber dann habe ich überlegt: Will ich eine Frau, die es für wichtig hält, mit Ausdruck zu laufen, lasziv in eine Kamera zu glotzen und Jobs zu ergattern, bei denen mehrere tausend Euro dafür gezahlt werden, dass eine Frau besser als der Standard aussieht? Das ist ein fragwürdiges Niveau. Aber Klum und ihre wechselnde Mit-Jury vermitteln, dass es darauf im Leben ankommt. Ich frage mich, was dazu Menschen sagen, die wirklich was im Kopf haben – Bruce Springsteen zum Beispiel oder Johnny Cash? Ob die auch im stillen Kämmerlein geübt haben, gerade und sexy durch die Landschaft zu wandeln? Okay, Johnny ist leider tot, aber wenn er noch lebte, hätte er bestimmt eine Meinung zu Germany’s Next Top Model. »I walk the line«, würde er sagen, darauf wette ich.

 

»Hallo«, fasst mich die blonde Sphärenerscheinung an der Hand. »O nein, bitte sei nicht ohnmächtig. Hallo, hallo!« Sie schüttelt mich.

Jetzt muss ich was sagen, sonst ruft sie einen Krankenwagen.

»Hallo.« Besseres fällt mir auch nicht ein. Ich habe gedacht, sie wäre über ein Lebenszeichen begeistert, aber denkste.

»Hast du sie noch alle«, schimpft sie. »Liegst da und sagst keinen Ton. Und ich mache mir tausend Sorgen. Komm, ich helfe dir auf«, sagt sie und zerrt an meinem Arm.

Wenn ich ehrlich bin, war mir schon lange keine Frau so nah. Ich könnte diese physische Aufmerksamkeit genießen, aber dabei käme ich mir etwas schäbig vor.

»Geht schon«, murmele ich daher. »Bin noch ein wenig durcheinander. Das liegt aber wahrscheinlich am Jägermeister gestern. Nicht, dass du meinst, ich trinke regelmäßig.« Ich versuche, bloß keinen schlechten Eindruck zu erwecken. »Höchstens mal einen Wein. Oder Bier. Bier sogar lieber. Herrenhäuser finde ich klasse. Aber nicht oft. Höchstens ein bis zwei in der Woche. Manchmal mehr.«

Dies kommt mir ohne Stottern über die Lippen. Ich bin stolz auf mich.

Die Inlinerin wird ärgerlich. »Mich interessieren deine Trinkgewohnheiten nicht. Bist du nun okay oder nicht?«

Ich werde mutig. »Ich dachte, du interessierst dich für mich als Menschen, nicht für mich als Opfer.«

Fragezeichen formieren sich in ihrem Gesicht. »Hör mal zu.

Ich habe dich nicht absichtlich umgefahren. Oder wolltest du mich anmachen und bist mir deshalb vor die Füße gelaufen? Nee, das ist krank.«

»Nein, so ist das nicht«, bemühe ich mich die Angelegenheit ins rechte Licht zu stellen.

»Okay. Geht es dir nun gut?«

»Ja, mein Knie ist vielleicht ein wenig aufgeschürft, aber das dürfte rasch verheilen. Ansonsten weist mein Körper …«

»Okay, ich muss weiter. Ciao«, unterbricht sie mich und gleitet dann weiter am See entlang. Gleitet in die Weite, bis ihre Konturen ins Grenzenlose verschwimmen.

Ich schaue ihr wehmütig nach.

Das ›Treibhaus‹ ist ein nettes Bistro an der Ferdinand-Wallbrecht-Straße in der Nähe des Lister Platzes. Der angrenzende Stadtteil List ist in Limmer verrufen, da sich hier die besser betuchten Hannoveraner niederlassen. Das Straßenbild ist von herrschaftlichen Altbauten der Jahrhundertwende geprägt. Mir gefällt es hier gut. Ich halte nichts von dogmatischen Verteufelungen. Und Ali hat dort sein Büro eröffnet.

Als ich den Biergarten betrete, sitzt Ali bereits an einem Tisch, nippt an einem Latte und studiert Excel-Tabellen. Immer im Dienst.

»Ich finde Microsoft cool«¸begrüßt er mich. »Es ist einfach geil, dass ein Großteil der Menschheit die gleiche Software nutzt. Jemand schickt mir von Alaska oder Australien aus eine Kalkulation, und ich kann die hier in Deutschland lesen. Keine tausend Programme, eines. Das ist für mich eine der größten Errungenschaften der letzten hundert Jahre.«

Ich ordere einen Cappuccino.

»Aber es gibt noch Apple. Da schwören die Individualisten drauf. Mir persönlich sind Open-Source-Programme auch lieber. Da kann jeder drauf zugreifen, und die kosten nicht gleich einen Kleinwagen.«

Ali winkt ab. Er sieht schon urig aus. Wie aus der Ritter-Sport-Werbung. Quadratisch, praktisch, gut. Dies bezieht sich auch auf sein Bauchvolumen. Obwohl er genauso als wie Zorro und ich ist, beginnt er auf der Mitte des Kopfes seine gekräuselten braunen Haare zu verlieren. Das stört ihn aber nicht. Sagt er. Die Frauen stünden trotzdem auf ihn. Davon merken wir wenig. Ich kann mich nicht erinnern, dass er in den letzten fünf Jahren eine Freundin gehabt hätte. Aber solche Einwände tut er mit dem lapidaren Spruch »Für Vergnügungen habe ich sowieso keine Zeit« ab. Ali ist Macher und zu hundert Prozent von sich und dem, was er tut, überzeugt. Viele halten ihn für einen Angeber, ich bewundere ihn. Die Selbstzweifel, die mich quälen, fehlen ihm komplett. Beneidenswert.

»Geh mir weg mit Apple. Wer braucht schon iPhone, iPad, iDildo oder wie sie alle heißen. Ich trinke mit dir Kaffee und quatsche. Warum sollte ich dabei mit meinem iPhone telefonieren oder mit dem iPad im Netz surfen. Da werden Bedürfnisse geweckt, die die Welt nicht verschönern.«

Ich sehe ihn verwundert an.

»Ja, da staunst du. Das ist nur meine private Meinung. Beruflich sehe ich das anders. Wenn so ein Schnösel in mein Büro schneit und sagt: ›Guten Tag, Herr Gethmann. Ich möchte gerne einen Vertrieb für iKondome eröffnen und Sie sollen mir beim Verkauf helfen. Sie stecken einen USB-Anschluss ins männliche Geschlechtsteil und sind via Web 2.0 geschützt. Das geht auch drahtlos. Keine Latexallergien, kein Spaßverlust und Rundum-Sorglos-Protection‹, dann sage ich sofort: ›Wann sollen wir starten?‹ Ich bin beruflich völlig offen, aber privat muss ich nicht alles mitmachen.«

Zorro kommt angeschlendert.

»Na, Amigos, alles schön?«, fragt er.

»Ali hat einen Kunden, der iKondome verticken will«, berichte ich.

»Stark. Wie viel kostet so ein Teil?«

Wir müssen uns bemühen, ernst zu bleiben.

»Die Dinger kosten etwas mehr als ein iPad. Da musst du Zoll und natürlich Deckungsbeitrag draufhauen. Ich schätze, das Gerät wird bei neunhundert Euro in den Markt einsteigen. Das scheint viel, aber es hält ein Leben lang. Wenn du den Kondomverbrauch eines normalen unverheirateten Mannes auf dreißig Jahre hochrechnest, lohnt es sich allemal.«

Zorro ordert einen Chai-Tee.

»Für mich noch einen Latte, Süße«, grinst Ali die adrette Bedienung anzüglich an. Die wirft einen giftigen Blick zurück.

»Ist dein kurz gewachsener Kumpel immer so infantil«, fragt sie Zorro mit Augenklimpern.

»Wir können mal in Ruhe darüber sprechen, wenn er nicht dabei ist«, antwortet er und steckt ihr seine Karte zu. Darauf steht »Zorro Ziegler – Lebenskünstler« nebst seiner Mobilnummer.

»Darauf komme ich bestimmt zurück«, lacht sie und geht ins Lokal, um die Getränke zu organisieren.

»Wie machst du das, Ziegler?«, fragt Ali erstaunt. »Die Frauen fliegen dir zu, und keiner weiß, warum.«

Zorro zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es selber nicht. Nenn es den Zorro-Faktor, das Geheimnis meiner Persönlichkeit, das selbst ich noch nicht ergründet habe.«

»Weshalb ich euch treffen wollte, insbesondere dich, Ali: Ich benötige Hilfe.« Dabei werde ich rot. Ali hat mich noch nie um etwas gebeten, Zorro auch nicht. Ali setzt sich aufrecht hin und reibt sich die Hände.

»Nur her damit. Auch wenn die Formulierung abgenudelt ist: Für mich gibt es keine Probleme, nur Herausforderungen.« Wir buhen lautstark über die Floskel, an die heute sowieso niemand mehr glaubt. Ali winkt nur lässig ab.

Dann berichte ich von meinen gestrigen Erlebnissen, der Magisterprüfung und dem Angebot meines Opas. Sogar Nadine kommt sprichwörtlich auf den Tisch, meine Ängste und Panikattacken bei Frauen.

Zorro und Ali nicken betroffen.

»Timo«, sagt Zorro. »Das hast du immer gut verborgen. Ich dachte, du stehst vielleicht auf Männer. Das wäre kein Problem für mich.«

Ali reibt sich wieder die Hände, in seinen Augen funkelt Unternehmungslust.

»Hannover, wir haben ein Problem. Halten wir die Aufgabenstellung fest: Timo braucht schnellstmöglich einen Job und eine Freundin. Bezüglich Freundin müssen wir noch seine Ängste abbauen, die laut eigener Aussage irrational sind. Habe ich unsere Ziele korrekt operationalisiert?«

Ich nicke verlegen, Zorro andächtig und dreht sich eine Zigarette. Die Getränke kommen, wobei die Kellnerin Zorro anstrahlt, als wäre er der auferstandene Kurt Cobain.

»Sehr gut. Das Konzept ist bereits fertig. Wir nennen es Timo 2.0.«

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