Za darmo

Die Maske des Pharaos

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Z serii: Tommy Garcia #2
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„Sagt hinterher nicht, dass ich Schuld war!“

„Keine Sorge“, sagte Tommy. „Wenn wir etwas machen, dann machen wir es alle gemeinsam. Stimmt’s?“

Er schaute in die Runde. Die Mädchen zögerten keine Sekunde. Janine deutete auf die Zeichnung.

„Los, Tommy! Drück die Symbole in die Wand!“

Tommy grinste mich an und hielt mir die Handfläche hin. Ich schlug ein.

„Na, dann drückt mal die Daumen.“

Wir standen vom Boden auf. Ich nahm den Notizblock in die Hand und gab Tommy Anweisungen.

„Zuerst die Schlange!“

Er ging hinüber zum ersten Symbol, legte die Hand auf die Schlange und drehte sich noch einmal um.

„Keine Zweifel?“

„Nein!“, schallte es einhellig zurück.

„Na gut“, meinte er und drückte zu. Doch zu unserer großen Überraschung bewegte sich die Hieroglyphe nicht einen Millimeter. Tommy ließ los und wandte sich um.

„Entweder es ist doch der falsche Buchstabe oder es ist doch der Falsche.“

„Was redest du da?“, fragte ich entgeistert.

„Na, der Falsche, der die Symbole drücken muss!“, sagte er achselzuckend. „Vielleicht solltest du mal ... “

In dem Moment, wo er das zu mir sagte, schien ihm ein Gedanke zu kommen. „Nein, ich glaube, ich weiß, wer die Hieroglyphen drücken sollte. Was meinst du, Janine, willst du es nicht mal probieren?“

„Ich? Aber warum ... ?“

„Na, weil es um dich geht. Deine Mutter braucht unsere Hilfe und du stehst ihr am nächsten. Ich habe so das Gefühl, dass du es einfach mal ausprobieren solltest.“

Janine schaute skeptisch. Aber der Gedanke an ihre Mutter ließ jedes Gefühl von Angst bei ihr verschwinden. Entschlossen trat sie vor und legte die Hand auf das Symbol der Schlange.

„Ist ja egal. Wenn’s die falsche ist, geht’s eben nicht.“ Mit diesen Worten presste sie die Hieroglyphe zurück in die Wand. Vollkommen überrascht fuhr sie zusammen und drehte sich um. Ihre Augen waren weit aufgerissen.

„Tja“, sagte Tommy trocken, „da sieht man mal, was Janine so drauf hat! Los, mach weiter! Welchen als nächsten, Joe?“

„Na, den Geier!“

Gespannt sahen wir zu, wie Janine auch den Vogel zurückdrückte ohne den geringsten Widerstand zu erfahren. Ich spürte, wie mein Herz klopfte. Noch vier Hieroglyphen.

Bei der letzten, der zweiten Feder, hielt Janine inne.

„Was passiert, wenn ich die letzte drücke?“, fragte sie bang.

„Keiner weiß das“, antwortete Tommy ruhig. „Aber wenn du sie nicht drückst, werden wir hier vergammeln.“

Ich glaube, wir hielten alle die Luft an, als sie die letzte Hieroglyphe vorsichtig in die Wand zurückdrückte und dann alle Symbole wieder so aussahen, als wären sie nie aus ihr hervorgetreten. Unwillkürlich drängten wir uns aneinander und warteten darauf, dass irgendetwas geschah.

Und es sollte etwas geschehen! Genau in der Mitte des Raumes, ausgerechnet da, wo wir standen, leuchtete auf einmal der Boden! Vor Schreck sprangen wir auseinander. Die Erscheinung war kreisrund und das Leuchten in einer unbeschreiblichen Farbe. Dann bildete sich ein kleiner runder Fleck inmitten des Kreises und formte sich zu einem Gegenstand.

„Genau wie damals!“, schoss es mir durch den Kopf. Für ein paar Sekunden dachte ich, jetzt muss das Buch der Gaben erscheinen, das Tommy damals verliehen wurde. Doch dann erkannte ich, dass der Gegenstand, der dort erschien, niemals ein Buch sein konnte. Die Umrisse schälten sich immer deutlicher vom Untergrund. Das Leuchten wurde unerträglich hell und wir kniffen die Augen zusammen. Dann war es vorüber. Der Boden der Kammer sah aus wie vorher. Doch nun lag etwas in seiner Mitte. Eine Scheibe. Eine goldene Scheibe.

Das Labyrinth

Die Scheibe musste aus purem Gold und unvorstellbar alt und wertvoll sein. Und sie war ... sie war ... ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte ... irgendwie ... magisch. Wir konnten uns eine Weile nicht bewegen. Schließlich brach Janine den Bann.

„Sie ist aus Gold!“, flüsterte sie.

„Janine, ich glaube, sie ist für dich!“, sagte Tommy ruhig wie immer. „Du hast das Rätsel deines Namens endgültig gelöst. Ich will ja nicht wetten, aber ich habe so das Gefühl, dass sie sich nur von dir aufheben lässt.“

Voller Ehrfurcht hockten wir uns neben die Scheibe. Ich konnte nicht anders, ich musste sie berühren. Vorsichtig strich ich mit den Fingern über die Oberfläche, die nicht glatt, sondern mit vielen Vertiefungen versehen war.

„Da steht etwas drauf!“, flüsterte Sanne aufgeregt.

Im gleichen Moment erkannte auch ich, dass die Vertiefungen nichts anderes als eine Schrift darstellten. Ich hatte sie nicht gleich erkannt, da die Worte nicht einfach von rechts nach links verliefen. Die Scheibe war über und über mit einer fein eingravierten Schrift versehen. Die gleiche alte Schrift wie wir sie auch im Buch der Gaben gesehen hatten.

„Man kann es lesen!“, sagte Janine und legte ihren Kopf schräg. „Ich glaube, die Schrift geht von innen nach außen.“

„Wie eine Spirale“, bestätigte Tommy. „Was ist?“, meinte er zu Janine. „Willst du sie nicht aufheben?“

Vorsichtig hob Janine die Scheibe an und griff überrascht mit beiden Händen zu.

„Oh, ist die schwer!“

„Klar, wenn das pures Gold ist, dann wiegt die bestimmt zwei Kilo“, meinte Tommy. Wir standen auf. Niemand konnte den Blick von diesem magischen Gegenstand wenden. Janine begann, die Scheibe langsam zu drehen und dabei leise vorzulesen, was in das Gold eingraviert war:

Das Labyrinth birgt den Schlüssel

gebt die Mondscheibe in die Hand der Göttin

die Maske von Sakkara birgt die Gabe des Heilens

vier Herzen braucht es sie zu lösen

das goldene Antlitz muss ruhen in der Kammer

bevor die Phase eines Mondes endet

sonst wird das magische Gold

seine Bannkraft verlieren

und die bösen Keime säen

setzt den Ring der Artemis an ihre Stelle

wer beseelt ist mit der Gabe des Sehens

dem wird das Wunder des Philon

eine Tafel für das Orakel gewähren

Atemlose Stille herrschte nach Janines Worten. Sie las uns den Text noch einmal vor und wir alle versuchten, ihn in unser Gedächtnis einzuprägen. Ich starrte auf die Scheibe und konnte mir beim besten Willen keinen Reim auf die Worte machen.

„Vier Herzen ... “, murmelte Sanne.

„Das sind wir“, nickte Tommy. „Soviel steht fest. Aber raus zu finden, was der Rest bedeutet, wird nicht einfach.“

Mir kam eine Eingebung.

„Könnte das hier die Mondscheibe sein?“

Tommys Augen glänzten. „Joe, na klar! Das ist sie! Jetzt fehlt uns nur noch die Göttin. Janine, das ist wohl deine Aufgabe!“

„Toll. Und wo soll ich die hernehmen?“

Sanne zappelte aufgeregt herum und zupfte Janine am Ärmel.

„Dreh sie doch mal um!“

Darauf waren wir tatsächlich noch gar nicht gekommen. Behutsam drehte Janine die Scheibe um. Es war wirklich etwas auf der Rückseite eingraviert. Nur fünf Wörter.

Hütet euch vor den Wächtern

Hütet euch vor den Wächtern ... “, wiederholte ich. „Na fein. Was für Wächter? Und was bewachen die?“

„Tommy...?“ Sanne stand die Angst ins Gesicht geschrieben. „Ist das gefährlich? Du hast doch gesagt, in dieser Welt war noch nie irgendetwas wirklich gefährlich. Es schien nur so. Aber vielleicht dürfen wir das gar nicht wegnehmen, was die Wächter bewachen. Und dann ... “

Tommy versuchte, Sanne zu beruhigen und zeigte auf die Mondscheibe in ihren Händen.

„Wer uns wirklich etwas tun wollte, der würde uns keine Hinweise geben. Und der Hinweis auf die Maske, die die Gabe des Heilens birgt, ist ja wohl eindeutig. Die Maske wird Janines Mutter helfen. Es wird sicher schwierig, aber es macht keinen Sinn, uns etwas zu verleihen und uns dann etwas anzutun. Aber es könnte schon mal brenzlig werden. Wir werden verdammt gut nachdenken müssen, wenn wir alle Rätsel lösen wollen.“

Sanne schien erstmal beruhigt. „Und was bewachen diese Wächter nun? Die Maske?“

Wir alle grübelten darüber nach. Mir ging eine Frage einfach nicht mehr aus dem Kopf. Was für Wächter ...? Noch einmal las Janine den Text auf der Mondscheibe vor.

„Wahrscheinlich bewachen sie die Maske oder den Ring oder diese Tafel. Eben alles, was wertvoll ist“, meinte sie dann. „Und was machen wir jetzt?“, fügte sie noch hinzu.

Ich zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht kommt diese komische Göttin ja einfach aus der Wand und wir brauchen die Scheibe nur in ihre Hand zu legen“, scherzte ich. Ich dachte, meine Freunde würden über meinen Witz lachen, aber im Gegenteil. Auf einmal klappten Tommy und den Mädchen die Kiefer runter und alle Farbe wich aus ihren Gesichtern. Sie starrten mich an wie einen Geist. Als ich endlich begriff, dass sie nicht mich, sondern etwas anscheinend Fürchterliches hinter meinem Rücken anstarrten, wurde mir mit einem Schlag eiskalt. Nie im Leben wollte ich mich jetzt umdrehen.

 

„Was ist ...?“, flüsterte ich heiser vor Angst.

„Sieh doch!“, flüsterte Janine ebenso heiser. „Die Wand!“

Mit einem dicken Kloß im Hals drehte ich mich langsam um und stolperte dabei zwei Schritte zurück. Ich sah, wie sich die Wand mitsamt den auf ihr befindlichen Hieroglyphen bewegte. Es war eine lautlose Bewegung und daher umso unheimlicher. Ein Loch bildete sich und weitete sich unglaublich schnell. Direkt vor unseren Augen entstand eine gähnende Öffnung, und das flackernde Licht der Fackeln leuchtete mehrere Meter weit in die Wand hinein.

Wir starrten auf das große schwarze Loch. Mein Magen krampfte sich zusammen, erinnerte mich die Öffnung in der Wand doch an jene, aus der wir gerade erst in die Kammer des Wissens gefallen waren. Vor allem aber erinnerte sie mich an die Todesängste, die ich ausgestanden hatte, als wir kopfüber in die Röhre stürzten.

Diese Öffnung jedoch war weitaus größer und rund war sie auch nicht. Sie wirkte eher wie der Eingang zu dem Stollen eines Bergwerks. Unwillkürlich suchte ich nach den hölzernen Stützen, die solch einen Stollen für gewöhnlich sicherten, aber es gab keine. Die Höhle schien einfach aus der Wand geschlagen. Unsere beiden Hunde waren ebenso aufgeregt wie ihre Herrchen, und Tommys Liebling schaute mit schief gelegtem Köpfchen in den Stollen.

„Du bleibst schön hier“, sagte Tommy. „Ein Labyrinth ist auch für Hunde nicht ungefährlich.“

„Du meinst ...?“, fragte Sanne mit großen Augen.

„Das wird es wohl sein, das Labyrinth“, nickte Tommy. Er sah Janine an, die die Mondscheibe immer noch krampfhaft festhielt und die sie wohl nicht wieder hergeben würde.

„Das Labyrinth ist die nächste Aufgabe. Ich will euch ja keine Angst machen, aber ich habe so das Gefühl, wenn wir erstmal drin sind, werden wir nicht mehr in die Kammer des Wissens zurückkehren können.“

Er sagte das einfach so dahin. Ich will euch ja keine Angst machen ... Tommy hatte manchmal eine Art drauf! Ich jedenfalls hatte Angst. Ein Labyrinth war so schon Furcht einflößend genug, aber den Weg zurück hätte man sich ja vielleicht noch irgendwie merken können. Aber wenn der auch nicht mehr da war ...

„Das würde uns auch nichts nutzen“, sagte Janine mit entschlossenem Gesicht. „Wenn wir hier drin bleiben, würde uns nichts und niemand weiterhelfen. Wisst ihr noch? Das letzte Mal hat uns das Haus den Weg hierher und damit zum Buch der Gaben geführt. Diesmal ist es umgekehrt. Wir müssen hier anfangen. Ich krieg sowieso keine Wunschkugel!“

„Ich hatte schon von Anfang an das Gefühl, dass es nicht so einfach geht“, sagte Tommy. „Du hast Recht, Wunschkugeln oder eine Gabe wird es diesmal nicht geben. Es ist die Maske, die wir holen müssen. Also, was meint ihr, gehen wir rein?“

Die Frage brauchte niemand zu beantworten, denn was hatten wir denn für eine Wahl? Hier bleiben und warten konnten wir nicht. Es war nicht gerade wahrscheinlich, dass uns jemand gefunden und den Weg raus gezeigt hätte. Wie lange hatte diese Welt auf uns gewartet? Vielleicht fünftausend Jahre? Nein, warten ging beim besten Willen nicht. Wir mussten handeln. Schließlich gab uns die Mondscheibe genügend Hinweise.

„Wir gehen rein“, rief ich und ging hinüber zu meinem Rucksack, um ihn aufzuheben.

„Aber vorher denken wir über Labyrinthe nach“, sagte Tommy. Ich hielt inne. Wie meinte er das? Ich wäre jetzt einfach rein gegangen.

„Das sollten wir wirklich tun“, meinte Sanne. „Denn wenn wir uns einmal verlaufen, kommen wir nie wieder raus.“

„Zumindest wird es sehr schwer“, nickte Tommy. „Außerdem haben wir nicht einmal Orientierungspunkte wie zum Beispiel die Sonne. Dann wüssten wir zumindest die Himmelsrichtung, in die wir uns bewegen.“

„Und was willst du machen?“, fragte Sanne. „Dir jede Abzweigung merken?“

„Nein. Ich merk mir zwar sonst fast alles, aber wenn mir einer im Wald die Augen verbinden und mich zweimal rumdrehen würde, wüsste ich schon nicht mehr, wo ich bin. Ich weiß ja nicht, wie das mit euch ist, aber ich verlass mich lieber auf richtige Wegweiser.“

„Und die wären?“, fragte ich neugierig.

„Zum Beispiel das Seil“, sagte er bedächtig. „Ihr wisst doch, ich habe ein langes Kletterseil gekauft, falls wir uns mal abseilen müssen. Das können wir doch jetzt prima gebrauchen. Wir machen es hier irgendwo fest und rollen es dann ab, wenn wir reingehen. So finden wir wenigstens immer zurück, falls wir mal falsch abbiegen.“

„Gute Idee!“, rief Sanne.

„Und wenn’s nicht lang genug ist?“, kam es von Janine.

„Dann sehen wir weiter“, meinte Tommy trocken. „Wir können ja auch noch eine zweite Sicherung einbauen. Joe, behalte mal den Block in der Hand. Du kannst doch so toll malen.“

„Ich soll ...?“

„Das Labyrinth malen. Genau! Natürlich nicht das ganze, aber du zeichnest einfach auf, welche Abzweigungen wir nehmen. Mal einfach den Weg nach, den wir gegangen sind und korrigier ihn, wenn wir zurück müssen. Meinst du, du kannst das?“

Ich überlegte. „Wenn wir nicht so schnell gehen, kriege ich das schon hin.“

„Okay. Seid ihr einverstanden?“

Tommys Vorschläge beruhigten uns einigermaßen. Mit den Sicherungen konnten wir es eigentlich wagen, in das Labyrinth vorzudringen. Wir waren einverstanden. Nach einigem Hin und Her einigten wir uns darauf, die Jacken in der Kammer des Wissens zurückzulassen. Sie wären uns nur hinderlich gewesen, und es war immer noch unglaublich warm. Wir wuchteten unsere Rucksäcke auf den Rücken. Ich schwor mir, bei der nächsten Gelegenheit die Vorräte zu dezimieren, damit mir die Riemen nicht mehr so stark in die Schultern schnitten. Aber jetzt gab es weiß Gott andere Probleme als einen unbequemen Rucksack.

Als wir bereit waren, stellten wir uns alle vor die Öffnung zum Stollen und starrten hinein.

„Jever, bei Fuß!“, rief Tommy, als sein Hund schon davon hopsen wollte. Lazy strotzte nicht unbedingt vor Unternehmungslust. Er blieb einfach mit hängenden Ohren neben mir stehen.

„Was ist mit der Lampe?“, fragte mich Tommy. „Wartet mal, ich guck erstmal rein, wie dunkel es ist.“

Er machte ein paar Schritte und verschwand im Eingang. Jetzt, wo wir dicht davor standen, erkannten wir, dass der dahinter liegende Gang bereits nach wenigen Metern nach rechts abbog. Es war nicht stockfinster, wie ich es eigentlich erwartet hatte, sondern im Innern des Ganges setzte sich das Flackern des durch die Fackeln in der Kammer hervorgerufenen fahlen Lichtes fort. Ich war froh darüber. Aber wer wusste schon, wie weit der Lichtschein hineinreichen würde? Da kam Tommy schon wieder zurück.

„Die Taschenlampe brauchen wir nicht. Im Gang sind Fackeln an den Wänden. Also, Leute, seid ihr immer noch bereit? Und Joe, fängst du an zu malen?“

Ich nickte und packte die Taschenlampe in eine Seitentasche meines Rucksacks. Dann machte ich den ersten Strich auf meinem Blatt und ließ ihn nach rechts abgehen als Zeichen für den abknickenden Gang.

„Alles klar!“

„Dann wollen wir mal!“

Gerade als wir uns die ersten Meter hineingetastet hatten, schrie Janine auf.

„Das Seil!“

„Mensch!“, machte Tommy, „das hatte ich jetzt ganz vergessen! Danke, Janine!“

Er streifte schnell den Rucksack vom Rücken und suchte das Seil heraus. Dann warf er einen prüfenden Blick auf die Banderole, mit der das Knäuel umwickelt war.

„Das sind zweihundert Meter. Ganz schön viel. Hoffentlich reicht das. Wo machen wir es fest?“

Mir kam ein Gedanke.

„Tommy, wenn wir den Ausgang gefunden haben, könnten wir das Seil doch vielleicht noch gebrauchen. Aber wenn du es festmachst, können wir es nicht einholen.“

Tommy nickte. „Daran hatte ich auch schon gedacht. Mir ist aber keine Lösung eingefallen. Außerdem, wo soll ich es festmachen? Hier ist doch nirgendwo ein Haken oder sonst etwas.“

„Nimm doch eine von den Jacken!“, sagte Sanne.

„Hey, die Idee ist nicht schlecht.“ Tommy ging rüber zu dem Wäschehaufen, suchte sich seine eigene Jacke raus, packte sie zu einem kleinen Paket zusammen und schnürte das eine Ende der Leine darum fest.

„So“, meinte er, „das müsste gehen. Wir legen sie vor den Eingang und wenn wir durch sind, ziehen wir sie einfach hinter uns raus. Falls das Labyrinth keine scharfen Ecken oder Winkel hat“, fügte er noch hinzu. „Sonst funktioniert das sowieso nicht.“

Probieren wollten wir es jedenfalls. Tommy legte seine Jacke dicht vor den Eingang des Labyrinths und nahm das zusammengerollte andere Ende des Seils in die Hand.

„Na, dann man los. Ich darf nur nicht so doll ziehen. Alle bereit? Joe, fertig zum Malen?“

Wir nickten und ließen unsere Blicke noch ein letztes Mal durch die Kammer des Wissens schweifen. Wir nahmen die fantastischen Bilder noch einmal fest in unser Gedächtnis auf, dann drehten wir uns um und betraten das Labyrinth. Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Was würde uns erwarten?

*

Boden, Wände und auch die Decke des Ganges bestanden aus nacktem Fels. Seine Farbe war schwarz und feine, silbrige Adern durchzogen die poröse Oberfläche. Während wir uns Schritt um Schritt vorantasteten, schien es mir, als würde es aus dem Gestein nicht nur silbern schimmern, sondern als wären auch die Wände mit einem feuchten Glanz überzogen. Aber ich konnte mich auch täuschen.

Ich ging wieder einmal voran. Das hatte ich zwar nicht vorgehabt, aber Tommy musste hinten gehen, weil er die Leine abwickelte und wir uns nicht verheddern wollten. Janine und Sanne passten auf Jever und Lazy auf, die im Gegensatz zu uns so ein Labyrinth ganz toll fanden und am liebsten davon gestürmt wären. Na ja, einer wäre gestürmt.

Ich führte während des Laufens sorgsam den Stift auf meinem Block entlang. Ich dachte, ich zeichne auch den Verlauf des Wegs und nicht nur die Abzweigungen auf. Dann könnten wir ungefähr messen, wie weit wir gegangen sein mussten.

„Findest du nicht, dass es leicht nach links geht?“, fragte Sanne hinter mir.

Ich spähte nach vorn. Mir war auch schon aufgefallen, dass der Gang jetzt stetig nach links verlief. Das Ende, wenn es denn eines gab, war jedenfalls von der gebogenen Wand verdeckt.

„Ja“, gab ich wortkarg zurück. Mehr brachte ich nicht raus. Meine Beine waren schwer wie Blei. Es kostete mich unglaublich viel Überwindung, diesen in den Felsen gehauenen unheimlichen Gang zu erkunden, der wahrscheinlich der Beginn eines Labyrinths war und in dem wir uns für immer verirren konnten. Ganz zu schweigen von den Gefahren, die hier vielleicht lauerten. Hütet euch vor den Wächtern ...

Weiter und weiter ging es. Ich bekam langsam das Gefühl, wir gingen im Kreis. Die in regelmäßigen Abständen angebrachten Fackeln brannten stetig. Es gab keinen Luftzug. Wir waren etwa fünf Minuten vorangekommen, da rief Tommy von hinten.

„Hey, Joe! Wir haben schon die Hälfte des Seils verbraucht! Das heißt, wir sind hundert Meter gelaufen, ohne dass ein Gang abzweigt!“

„Sei doch froh!“, rief ich zurück. „Dann können wir uns nicht verirren!“

Wir blieben stehen und Tommy schloss zu uns auf.

„Ja, schon. Aber denk doch mal daran, dass das hier ein Labyrinth sein soll. Vielleicht ist es ein magisches Labyrinth, das vielleicht keine Abzweigung hat?“

Im fahlen Licht der Fackeln erkannte ich, dass Sanne und Janine blass wurden.

„Aber nein“, korrigierte sich Tommy schnell selber, „das ist Quatsch. Wo wäre da die Prüfung zu bestehen? Das macht keinen Sinn. Ich hab mal was über Labyrinthe gelesen“, grübelte er. „Aber ich kann mich nur daran erinnern, dass man zwischen Irrgarten und Labyrinth unterscheidet. Verflixt, ich weiß nicht mehr, wo da der Unterschied war.“

Janine zuckte die Schultern und verlagerte die Mondscheibe in die andere Hand. Sie war schließlich ziemlich schwer.

„Ist das jetzt so wichtig? Irrgarten oder Labyrinth? Verirren kann man sich doch sowieso, oder? Lass uns weitergehen. Wenn ich stehen bleibe, kriege ich nur noch mehr Angst.“

Meter um Meter ging es weiter. Der Gang schien eine hypnotische Wirkung auf mich zu haben, denn das ständige Vorausschauen und die winzigen glitzernden Punkte, die vom Licht der Fackeln in die Augen blinkten, machten es schwer, sich zu konzentrieren. Endlich änderte sich etwas.

„Ein Abzweig!“, rief ich und hob die Hand. Die anderen schlossen zu mir auf und ich sah mit gemischten Gefühlen, wie wenig Seil noch in Tommys Hand übrig geblieben war.

 

„Sieht nicht aus wie ein Abzweig“, meinte Janine. „Da geht’s nur rechts ab.“

Tatsächlich machte der Gang nun wieder einen scharfen Knick nach rechts, um sich in einem weiten Bogen zu verlieren. Sanne sah mir über die Schulter und studierte meine Kritzelei auf dem Block.

„Bisher sind wir fast nur im Kreis gelaufen“, stellte sie fest.

„Zeig mal her“, sagte Tommy und nahm sich den Block.

„Stimmt“, murmelte er. „Wenn du richtig gemalt hast, dann wären wir fast wieder am Ausgangspunkt angelangt. Wenn wir hier ein Loch bohren würden, müssten wir genau in der Kammer des Wissens herauskommen.“

„Aber jetzt geht es doch wieder nach rechts, genau anders lang“, wandte ich ein.

„Tja“, meinte er und wog das Seil abschätzend in der Hand. „Ist ja auch ein Labyrinth. Also, was ist? Vor oder zurück?“

Obwohl wir in diesem Gang ein immer stärker werdendes beklemmendes Gefühl bekamen, gab es für uns kein Zurück. Ich dachte kurz daran, dass es in dieser Welt auch beim ersten Mal nie ein Zurück gegeben hatte, selbst wenn wir es gewollt hätten. Der Rückweg damals war immer abgeschnitten gewesen. Es würde jetzt nicht anders sein. Doch ich hielt lieber meinen Mund.

„Also weiter.“

Wieder übernahm ich die Führung. Mit einem Mal patschte es unter meinem Fuß und ich blickte nach unten.

„Eine Pfütze! Passt auf!“

„Wo kommt denn das Wasser her?“, fragte Sanne hinter mir verblüfft.

„In den meisten Höhlen sickert Grundwasser durch“, beruhigte sie Tommy. „Sieh doch, die Wände sind feucht.“

Ich berührte den Fels und eine verwischte Spur blieb zurück. Der ganze Gang dünstete Wasser aus! Das hatte er doch vorher nicht getan. Jetzt glitzerten auch die silbernen Einschlüsse nicht mehr wie zuvor. Mir fiel etwas ein.

„Vielleicht kommt es von uns. Unser Atem kondensiert doch zu Dampf. So wie im Bus im Winter die Scheiben beschlagen.“

„Das ist eine klasse Erklärung, Herr Seefeld“, sagte Tommy anerkennend. „Aber wenn wir dauernd stehen bleiben, sind wir bis morgen Abend immer noch nicht weiter.“

Da hatte er Recht. Also marschierten wir wieder los, um die Biegung herum, und diesmal mit schnelleren Schritten. Wieder ging der Weg endlos im Bogen. Doch schon nach kurzer Zeit kam der nächste kurze Halt.

„Leute!“, rief Tommy. „Das Seil ist zu Ende!“

„Und jetzt?“, fragte Janine bang.

„Jetzt verlassen wir uns auf Joes Zeichenkünste. Außerdem ist das immer noch derselbe Gang. Er hat nur einen Knick gemacht, ein anderer Weg ist es jedenfalls nicht. Also zurück könnten wir immer noch. Ich weiß nur nicht ... “

„... ob du das Seil einholen sollst?“, hakte ich nach.

„Ja, genau. Wollen wir es hier zurücklassen oder soll ich es herziehen? Was meint ihr?“

Janine traf die Entscheidung.

„Wir finden auch so zurück, hast du gesagt. Und ein Seil kann man immer gebrauchen. Also hol es ein.“

„Okay“, sagte Tommy und fing an zu ziehen. Doch schon der erste Versuch scheiterte. Tommy ruckte und zerrte am Seil, aber es ließ sich nicht einholen. Als mir klar wurde, was das bedeuten musste, wurde mir ganz anders.

„Der Eingang muss sich geschlossen haben“, flüsterte ich.

Tommy schaute in unsere angsterfüllten Gesichter.

„Seid mal ehrlich, habt ihr was anderes erwartet? Hier gibt es nur eine Richtung. Jeder Rückweg wird verschlossen, wenn man eine Aufgabe gelöst hat.“

„Oder sie noch vor sich hat“, nickte Janine. „So wie vorhin, als die Röhre verschwand, aus der wir in die Kammer des Wissens gefallen sind.“

„Genau. Also können wir das Seil vergessen. Es klemmt jetzt bestimmt unlösbar in der Felswand fest. Uns bleibt nur eine Richtung. Da lang!“

Er zeigte voraus. Plötzlich fiel mir ein großer Wassertropfen auf die Nase. Ich zuckte zusammen und schaute nach oben. Überall hingen dicke Tropfen von der Decke und schillerten in bunten Farben. Die besorgten Gesichter der anderen verrieten mir, dass sie das Gleiche dachten wie ich.

„Wir sollten ein wenig schneller gehen“, drängte Tommy. „Wir müssen das Rätsel lösen, bevor wir nasse Füße kriegen.“

Das taten wir dann auch. Immer öfter mussten wir um Pfützen herumgehen, die sich auf dem Boden des Ganges bildeten. Unauffällig betrachtete ich die Wände des Ganges und sah jetzt bereits kleine Rinnsale hinunterlaufen. Ich bekam Angst. Wie lange hatten wir noch zu gehen?

Nach fast endlos scheinender Zeitspanne kam der nächste scharfe Knick, diesmal nach links. Wir diskutierten nicht lange, sondern setzten unseren Weg fort. Wieder ging es in weitem Bogen vermeintlich zurück. Als nach Ewigkeiten der dritte Knick kam, stand bereits so viel Wasser im Gang, dass kaum noch eine trockene Stelle zu sehen war. Wir blieben noch einmal stehen. Tommy griff sich wieder meinen Block und studierte die Linien, die ich gezeichnet hatte, wenn auch reichlich krickelig, weil ich ja dabei laufen musste.

„Hm“, machte er. „Das sieht aus wie eines von den Labyrinthen, über die ich mal gelesen habe. Aber verflixt noch mal, welches?“

„Du hast vorhin gesagt, es gibt Irrgärten und es gibt Labyrinthe“, sagte Janine und schüttelte ihre Hand aus, die vom Tragen der schweren Mondscheibe ganz verkrampft war. „Was für eins ist das denn nun?“

„Genau!“, schrie Tommy auf einmal. „Ein Labyrinth!“

„Ja, das wissen wir doch schon längst“, sagte ich genervt. „Aber was für eins?“

Tommy holte tief Luft und schaute mit blitzenden Augen von einem zum anderen. Da wusste ich, dass ihm die Lösung gekommen war.

„Wir sind in einem Labyrinth. Das steht ja schließlich auf der Mondscheibe. Wir haben das die ganze Zeit mit einem Irrgarten verwechselt. Jetzt ist es mir wieder eingefallen! Was wir immer als Labyrinth bezeichnen, ist eigentlich ein Irrgarten!“

„Versteh ich nicht“, sagte Sanne kopfschüttelnd.

„Pass auf, ein Irrgarten hat tausend verschiedene Gänge, Sackgassen, eben Irrwege. Jeder sagt Labyrinth dazu. Aber das wirkliche Labyrinth, das ist das hier.“ Er tippte bei seinen Worten auf den Block. „In dem kann man sich gar nicht verlaufen. Es geht nur endlos hin und her, um mögliche Eindringlinge zu entmutigen. Man nennt es das klassische Labyrinth.“

Wir schwiegen und dachten darüber nach. Im Unterbewusstsein registrierte ich das Stakkato der Wassertropfen, die sich immer schneller von der Decke lösten.

„Du meinst, man gibt irgendwann auf und geht wieder zurück?“, fragte Sanne.

„Ganz genau. Schaut mal her, wir sind in mehreren Bögen rechts und links herumgegangen. Jetzt müssten wir so ungefähr die Hälfte hinter uns haben. Wenn ich Recht habe, geht es ab jetzt schneller, denn die Bögen setzen sich innen fort und die Windungen werden dadurch enger, bis wir schließlich am Ende sind.“

„Und was ist am Ende?“, fragte Janine.

Tommy zuckte die Schultern. „Das kann ich dir nun wirklich nicht sagen. Früher waren es Grab- oder Schatzkammern, die man durch das Labyrinth vor Räubern schützen wollte. Aber was uns erwartet ... keine Ahnung.“

Sanne fasste Tommy am Arm und deutete auf den Boden.

„Es ist alles nass, Tommy! Es kommt immer mehr Wasser aus den Wänden! Meinst du, dass es am Ende einen Ausgang gibt?“

„Ganz bestimmt.“ Tommy war die Zuversicht in Person. „Jede Wette.“

Nie und nimmer hätte ich darauf gewettet. Wenn es einen Ausgang gäbe, müsste das Wasser ja daraus abfließen. Aber es stieg beständig weiter. Jetzt standen wir schon mit den Schuhsohlen darin. Der Weg vor und zurück wirkte bereits wie ein kleiner unterirdischer Bach. Unsere Beklemmung wuchs. Wir mussten handeln.

„Los!“, sagte ich energisch. „Lasst uns hier nicht rum stehen!“

So schnell wir durch das stetig steigende Wasser waten konnten, liefen wir voran. Tommy hatte tatsächlich Recht gehabt. Diesmal kam der nächste Knick des Ganges wesentlich schneller in Sicht. Auch der übernächste ließ nicht lange auf sich warten. Aber es wurde zunehmend schwerer, voranzukommen. Erst konnten wir noch wie die Störche einen Fuß vor den anderen setzen, doch schien das Wasser immer schneller zu steigen. Schon reichte es bis zu den Knien. Damit wurde das Waten unmöglich und wir mussten die Beine mit immer größerer Anstrengung durch das Wasser ziehen. Das Schlimmste war, dass wir durch den Widerstand immer langsamer wurden. Jever und Lazy hatten wir längst auf den Arm genommen, sonst hätten sie die ganze Zeit schwimmen müssen. Ich hatte aufgehört, mitzuzeichnen und den Block wieder im Rucksack verstaut, denn ich brauchte beide Arme für Lazy. Panik stieg in mir auf. Wann waren wir endlich am Ziel? Und warum lief das Wasser nicht ab?