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Die Maske des Pharaos

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Z serii: Tommy Garcia #2
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Die Maske des Pharaos
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Micha Rau

Die Maske des Pharaos

Tommy Garcia

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Janine

Die Tafel

Die Mondscheibe

Das Labyrinth

Das Wunder des Philon

Das Orakel

Die Mumie von Sakkara

Panik

Zeitsand

Leberwurst

Die Maske

Der Obelisk

Das erste Licht des Tages

Impressum neobooks

Janine

Als die ersten Sonnenstrahlen mein Gesicht wärmten, wusste ich, dass ich es geschafft hatte. Freitag! Wegen einer Konferenz fiel heute die Schule aus, und so hatte ich ein schönes langes Wochenende.

Ich freute mich an diesem Freitagmorgen auf die drei freien Tage. Ich konnte ja nicht wissen, wie gefährlich sie werden sollten. Obwohl ... vielleicht hätte ich es ahnen können, denn ich hatte einen schlechten Traum gehabt. Ich hatte geträumt, ich stünde am Ufer eines unheimlichen Sees, der dampfte und brodelte. Irgendetwas zwang mich unwiderstehlich, in ihn hineinzugehen. Ich konnte die Hitze fühlen und bekam den Dampf in die Lunge. Die Gefahr schnürte mir die Luft ab. Ich bekam Panik und ... wachte auf! Als ich dann die Sonne auf meinem Gesicht spürte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Es war nur ein Traum! Ich hatte wieder einmal von unserem Abenteuer geträumt, das wir im Sommer erlebt hatten. Kein Wunder, dass ich davon noch immer träumte. Das war um Haaresbreite gerade noch einmal gut gegangen.

Ich schlug die Augen auf und blinzelte in die Sonne, die durch die halb geschlossenen Lamellen der Jalousie vor meinem Fenster schien. Das Licht kitzelte mich in der Nase und ich nieste herzhaft. Feiner Staub tanzte auf den Sonnenbahnen, und mir fiel ein, dass ich heute mit Zimmer saubermachen dran war. Mist. Da musste ich irgendwie drum herum kommen, denn ich konnte es gar nicht abwarten, mich mit Tommy zu treffen. Wie ich ihn kannte, war er bestimmt schon seit sechs Uhr auf und las irgendwelche Sachen, für die ich mich nicht im Traum interessiert hätte. Andererseits war ich heilfroh, dass er das tat, denn ansonsten wären wir damals vielleicht gar nicht mehr nach Hause gekommen. Schon, wenn ich daran dachte, kribbelte es in meinem Bauch.

Ich warf einen Blick auf den Wecker. Halb zehn! Meine Eltern waren längst zur Arbeit. Ich schlug die Decke zurück und setzte mich auf. Gleich darauf hörte ich aus einer Ecke meines Zimmers ein lautes „Pischhhh!“ Ich sah hinüber und musste lachen. Lazy!

„Prost!“, meinte ich zu ihm und schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf, denn dass mein Hund geniest hatte, bedeutete noch lange nicht, dass er auch aufgewacht war. Sein Kopf lag auf dem rechten Ohr und das andere hing seitlich aus dem Hundekorb heraus. Die Augen geschlossen, schnaufte er noch einmal und fing leise wieder an zu schnarchen. Andere Hunde – zum Beispiel Jever, der Hund von Tommy – hätten nur darauf gewartet, dass ihr Herrchen aufwacht und wären dann zu ihm ins Bett gesprungen. Lazy sah das ein bisschen anders. Er war der faulste Hund auf der Welt. Aber das machte mir überhaupt nichts, denn ich liebte ihn über alles.

Als ich die Beine aus dem Bett schwang, fiel das dicke Buch Gefährdete Reptilien Europas, in dem ich gestern Abend noch gelesen hatte, auf den Boden. Unser Biolehrer Schulz hatte uns dazu verdonnert, das Buch bis Montag durchzuarbeiten. Aber ich hatte nicht die geringste Lust, meine freie Zeit mit Hausaufgaben zu verbringen, also hatte ich beschlossen, den Wälzer abends im Bett zu lesen und war darüber eingeschlafen.

„Sieht aus wie Gefährdete Bücher Europas“, grinste ich, hob das Buch auf und legte es auf den Nachttisch. Dann stand ich auf, ging zum Fenster und zog die Jalousie hoch. Es war ein klarer, sonniger Herbstmorgen. Selbst von hier oben konnte ich die beschlagenen Fensterscheiben der parkenden Autos erkennen. Ich würde mir eine Jacke anziehen müssen, wenn ich mit Lazy Gassi gehen wollte.

Mein Hund öffnete sein linkes Auge einen Spalt breit und sagte mir, dass er bald runter musste. Schließlich braucht auch der faulste Hund auf der Welt einen Baum, um das Bein zu heben. Ich beeilte mich im Badezimmer und ging schnell noch in die Küche, um mir ein Schinkenbrötchen zu schmieren. Mit dem Brötchen im Mund zog ich mich hastig an, während Lazy auch das zweite Auge öffnete. Endlich waren wir beide soweit.

Auf dem Weg nach draußen riskierte ich einen Blick in das Zimmer meiner Schwester. Aber sie war nicht da. Ihr Bett war sorgfältig gemacht, und das Zimmer sah aus wie ein Musterzimmer in einem Möbelladen. Ich verstehe Mädchen einfach nicht. Wenn ich mal aufräume, finde ich nichts mehr wieder. Na, Sanne schien jedenfalls schon zu ihrer Freundin Janine gegangen zu sein, um sie abzuholen. Wir hatten uns für heute bei Tommy verabredet, um zu planen, was wir am Wochenende so anstellen konnten. Ich machte die Tür wieder zu. Die beiden würden schon noch auftauchen. Lazy und ich tapsten in Zeitlupe die drei Treppen hinunter und machten uns auf den allmorgendlichen Weg um den Block.

Während ich versonnen hinter meinem Hund hertappte, musste ich daran denken, wie sehr wir seit dem letzten Sommer zusammengehörten. Uns vier verband ein unglaubliches Geheimnis. Geglaubt hätte uns sowieso niemand, selbst wenn wir es jemandem erzählt hätten. Wir hatten geschworen, nichts über das geheimnisvolle Haus am Ende unserer Straße und der Welt, die es verbarg, zu erzählen. Wahrscheinlich hätte man uns nur belächelt und den Kopf geschüttelt. Aber vielleicht hätte man uns auch verboten, dieses Grundstück jemals wieder zu betreten. Und das wollten wir auf jeden Fall vermeiden.

Wie oft hatten wir in den vergangenen drei Monaten über unsere Erlebnisse geredet und wie oft wollten wir zurück auf das verwilderte Grundstück. Nur mal so schauen, ob sich etwas verändert oder ob vielleicht jemand das Haus gekauft hatte. Aber es war wie eine geheimnisvolle Sperre. Tommy und ich gingen fast täglich mit Jever und Lazy zum Hundeplatz, und der Weg dorthin führte genau an diesem Haus vorbei. Es war das letzte in unserer Straße, danach begann der Wald. Wir blieben oft an der Buchsbaumhecke stehen und spähten durch eine Lücke auf das Grundstück, doch dabei war es immer geblieben. Ich hatte schon ein bisschen Bammel vor den Mächten, die ihr Geheimnis an dieser Stelle der Welt hüteten. Ich muss allerdings zugeben, dass ich manchmal schon daran dachte, was ich mit der tollen Holografie noch alles angestellt hätte, wenn ich sie damals hätte behalten dürfen. Egal, das war vorbei, und wir mussten unser Geheimnis für uns behalten.

Endlich hatten Lazy und ich unsere Morgenrunde hinter uns und ich beschloss, gleich zu Tommy hochzugehen. Dass er genau über uns wohnte, war ungemein praktisch, denn ich hatte Tommy nur kennen gelernt, weil die Familie Garcia-Dressel zu Beginn der Sommerferien in unser Haus eingezogen war und ich gleich beim Umzug geholfen hatte. Merkwürdig, aber schon bei unserer ersten Begegnung wusste ich, dass er mein Leben lang mein Freund bleiben würde.

Als ich jetzt vor Tommys Wohnungstür stand und auf Lazy wartete, der sich mühsam die Treppen hoch schleppte, dachte ich genau an dieses erste Zusammentreffen mit Tommy und wie es mein Leben verändert hatte. Und nicht nur meins, auch das von Sanne und Janine. Endlich war Lazy oben und ich klingelte. Jesse, Tommys Stiefvater, öffnete die Tür und begrüßte mich.

„Hallo Joe! Komm doch rein. Tommy ist in seinem Zimmer und brütet über irgendwelchen Ägyptern.“

Jesse hieß eigentlich Manfred, aber mit seinen langen Haaren und den dunklen Augen erinnerte er mich sofort an den Jesse aus der Fernsehserie Full House, und seit ich ihn das erste Mal so nannte, riefen ihn alle nur noch Jesse. Er war Maler und konnte Bilder malen, die einem den Atem verschlugen. Seine Landschaftsbilder wirkten von weitem wie Fotos. Und ich rutschte immer gerade so mit einer Vier minus durch den Kunstunterricht!

Jesse ließ mich rein, und ich schaute kurz in die riesige Küche, um Tommys Mutter zu begrüßen. Dann ging ich zu seinem Zimmer und öffnete die Tür. Im nächsten Moment ertönte ein quiekender Laut, ich vernahm ein paar tapsende Schritte und ehe ich mich versah, sprang mir ein wirbelndes und zappelndes Etwas in die Arme, das mit seiner kleinen rosa Zunge versuchte, mein Gesicht abzulecken!

„Jever!“, rief ich und versuchte so gut ich konnte, seine Zunge aus meinem Ohr fernzuhalten. „Kannst du mich denn nicht einmal wie ein normaler Hund begrüßen?“

 

Aber das war dem kleinen Kerl einfach nicht möglich. Jedes Mal, wenn er mich sah, sprang er mir einfach in die Arme. Ich drückte den süßen Frechdachs an mich und schaute nach Lazy, der tatsächlich auch schon aus der Küche hinter mir hereingekommen war.

„Da, nimm du ihn!“, sagte ich zu meinem eigenen Hund, der noch nie höher als zwei Zentimeter gesprungen war. Lazy wusste, was auf ihn zukam, ließ sich wie ein nasser Lappen auf den Dielenboden fallen und schloss die Augen. Jever hatte seinen Freund entdeckt und zappelte in meinen Armen. Vorsichtig ließ ich ihn zu Boden, und schon stupste und leckte er den armen Lazy, bis der tatsächlich für ein paar Sekunden seine Trägheit aufgab, sich auf den Rücken drehte und die beiden eine schöne freundschaftliche Rauferei austrugen.

Ich betrachtete unsere Hunde kopfschüttelnd und begrüßte dann meinen eigenen Freund, der am Schreibtisch vor seinem Computer saß. Als ich eintrat, hatte er nur kurz die Hand zum Gruß gehoben, sich aber nicht umgedreht. Neugierig, was ihn denn wohl so faszinieren mochte, trat ich hinter ihn und haute ihm auf die Schulter.

„Na, mein Freund, was spielst du denn gerade?“, neckte ich ihn.

Tommy hätte niemals ein Computerspiel angerührt. Es sei denn, man konnte dabei etwas lernen! Wenn Tommy vor dem Bildschirm saß, dann meist, „um was aufzunehmen“, wie er sich ausdrückte. Manche hielten ihn für einen Besserwisser, aber das war er weiß Gott nicht. Klar, er war anders als andere, er gab nur niemals mit seinem Wissen an, und er war der beste Freund, den man sich vorstellen konnte. Ich wollte niemals mehr einen anderen haben.

„Ich spiele nicht“, sagte er todernst. „Ich arbeite!“ Dabei hielt er mir seine Hand hin und ich schlug lachend ein.

„Aha“, machte ich. „Und woran, wenn ich fragen darf?“

„Hast du jemals was von Amun gehört?“, fragte er und deutete auf den Monitor.

„Nein“, musste ich zugeben. „Wer soll das sein?“

„Amun war einer der Urgötter Ägyptens. Man nannte ihn sogar Gott der Götter. Also der Chef vons Ganze!“, grinste er.

„Hm“, machte ich, und dann kam mir tatsächlich ein Geistesblitz. „Also so wie der Zeus aus Griechenland?“

Tommy hob anerkennend die Brauen. „Hut ab, Herr Professor Seefeld. Hier steht sogar, dass er in altgriechischer Zeit mit Zeus gleichgesetzt war. Wozu brauche ich eigentlich noch einen Computer, wenn ich einen allwissenden Freund habe?“

„Ja klar!“, prahlte ich. „Schalt das Ding aus und frag mich alles, was du willst!“

Tommy lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Okay. Dann sag mir doch mal, was ein Anch ist!“

„Tja, also“, grummelte ich und tat so, als grübelte ich angestrengt nach. „Ein Anch ist ... also, ein Anch ist ein Anch!“

„Weise Antwort!“, lachte Tommy. „Der Philosoph Sokrates Seefeld hat gesprochen! Nein, ein Anch ist ein Lebenszeichen. Und Amun war wahrscheinlich der erste, mit dem man es in Verbindung brachte. Es sieht aus wie ein großer Ring mit einem Kreuz daran und soll Kranken, ja selbst Toten Leben eingehaucht haben. Hier, schau mal, Amun hat es auf diesem Bild in der Hand. Und auf den alten Zeichnungen, die man ausgegraben hat, sind viele der alten Götter mit einem Anch zu sehen. Vielleicht blieb ein Gott nur durch einen Anch unsterblich.“

„Dann haben sie wohl alle ihren Anch verloren, denn wo sind denn die ollen Götter jetzt alle?“, fragte ich respektlos.

Tommy verdrehte die Augen.

„Ein wenig mehr Glaube an die Mythologie, mein Freund“, sagte er tadelnd. „Außerdem solltest du auch ein bisschen mehr darüber wissen, denn schließlich waren wir in der Kammer einer Pyramide, und die stammen ja wohl eindeutig aus Ägypten, nicht wahr?“

Ich nickte. „Und die Hieroglyphen auch.“

„Genau. Die auch. Ohne die lesen zu können, hätten wir das Buch der Gaben nie bekommen.“

Da hatte er Recht. Es war bei unserem Abenteuer im Sommer unglaublicher Zufall gewesen, dass Tommy ausgerechnet jene Hieroglyphen kannte, aus denen die Buchstaben seines Namens bestanden. Oder war es vielleicht doch kein Zufall gewesen? Wie auch immer. Ich schüttelte den Kopf. Ich fand Geschichte langweilig. Jedenfalls das Zeug, das wir in der Schule lernen mussten.

„Und wozu liest du das alles?“

„Weil ich mehr über die Leute herausbekommen will, die unser geheimnisvolles Haus erbaut haben. Und ich bin mir fast sicher, dass es alte Ägypter waren.“

„Echt?“, entfuhr es mir. „Aber wie konnten sie eine Holografie bauen? Oder eine Scheinwelt, in der alles größer und dann wieder kleiner wird? Und was ist mit den Wunschkugeln? Und das Buch der Gaben? Das soll alles Amun erfunden haben?“

„Nein, nein“, wiegelte Tommy ab und zuckte etwas hilflos die Schultern, was ich mit einer gewissen Befriedigung registrierte. Es war irgendwie doch ganz beruhigend, dass er nicht alles wusste.

„Nein“, meinte er noch mal. „Nicht Amun. Aber die Geheimnisse des Hauses haben mit dem alten Ägypten zu tun. Das glaube ich ganz bestimmt. Vielleicht hat ihnen noch jemand geholfen.“

„Ein Alien?“, fragte ich lachend.

„Mann, Joe!“, sagte Tommy tadelnd, musste aber auch lachen. „Du guckst zu viel fern! Aber wer weiß das schon, ob nicht ein intelligentes Volk aus dem Weltraum dabei geholfen hat?“

Ich tippte mit dem Zeigefinger an meine Stirn. „Das glaubst du doch selbst nicht!“

„Hm, nein. Eigentlich nicht. Aber das ganze Wissen über das Universum und den Bau der Pyramiden werden sie ja wohl nicht von Schulz haben, oder?“

Ich seufzte. Ich wollte endlich etwas anderes machen als endlos mit Tommy über irgendwelche längst vergangenen Sachen reden. Zum Beispiel ins Kino gehen oder auf die Kart-Bahn oder vielleicht auf das verlassene Grundstück? Komisch, wieso kam ich jetzt ausgerechnet darauf? Das Bild des Hauses erschien ganz plötzlich vor meinem inneren Auge. Ich schüttelte es ab und beobachtete Tommy dabei, wie er den Computer herunterfuhr. Dann stand er auf und drehte sich um.

„Nee, bei Schulz hätten sie jede Formel verschlafen!“, lachte er. „Aber die Götter wohnen doch immer im Himmel, oder? Kann doch sein, dass ein paar von ihnen tatsächlich von oben runter gefallen sind.“

Ich hörte gedämpft, wie die Wohnungsklingel läutete, und Jever spitzte die Ohren. Wahrscheinlich waren die Mädchen gerade gekommen. Ich sah Tommy zweifelnd an.

„Ich glaub, du spinnst!“

Tommy verschränkte die Arme vor der Brust und machte auf strengen Lehrer.

„Herr Josef Seefeld! Setzen. Sechs!“ Dann lachte er und knuffte mich in den Bauch. „Klar spinn ich! Denn ich hab vorhin auch gelesen, dass die meisten Götter so wie Amun eigentlich Menschen waren, die besondere Fähigkeiten hatten. Zum Beispiel als Medizinmänner oder kluge Herrscher. Im Laufe der Jahrhunderte verehrte man sie immer mehr, und schließlich wurden sie zu Göttern.“

„Man hat sie halt vergöttert!“, ergänzte ich.

„Genau! So wie Lazy dich!“

Im gleichen Moment, als wir beide loslachten, ging Tommys Zimmertür auf und Sanne und Janine kamen herein. Sofort sprang Jever direkt in Sannes Arme. Lazy erhob sich schwerfällig und watschelte zu Janine. Doch es dauerte keine zwei Sekunden, bis wir begriffen, dass etwas nicht stimmte. Janine machte ein völlig verzweifeltes Gesicht. Ihre Augen waren rot und sie schaute so traurig, dass ich einen Schreck bekam. Was konnte bloß passiert sein? Janine bückte sich nicht einmal, um Lazy zu streicheln, der sich an ihr Schienbein lehnte.

Sanne machte mit Jever auf dem Arm die Tür hinter sich zu und setzte unseren kleinen Freund vorsichtig zurück auf den Boden. Dann nahm sie Janine an der Hand und blickte von mir zu Tommy und zurück.

„Wir müssen euch was sagen.“

Ich hatte einen Kloß im Hals und Tommy ging es sicher genauso. Doch im Gegensatz zu mir blickte er Janine fest an und seine Stimme war ruhig wie immer.

„Kommt, setzt euch erstmal. Ich hol uns was zu trinken.“

Während er in die Küche ging, ließen wir uns einfach im Schneidersitz auf dem Teppich nieder. Tommy hatte in seinem Zimmer nur den einen Stuhl vor dem kleinen Schreibtisch mit dem Computer und einen riesigen Schlafsessel, den er abends zum Schlafen auszog. Wir fanden es sowieso besser, im Kreis mit unseren Hunden zu sitzen. So ließ es sich viel besser quatschen.

Bis Tommy zurückkam, sagte niemand von uns ein Wort. Mir war gar nicht wohl, Janine so zu sehen. Ich kannte sie nur als lustiges Mädchen. Na ja, sie war ab und zu ein bisschen übervorsichtig, aber traurig hatte ich sie noch nie erlebt. Was mochte nur geschehen sein?

Tommy kehrte mit einem Tablett voller Gläser und zwei Flaschen Mineralwasser zurück. Cola oder so etwas gab es bei ihm nicht. Daran hatten wir uns schon längst gewöhnt. Als er die Sachen zwischen uns abstellte, musste Janine doch ein wenig lächeln, denn er hatte auch eine Schüssel und Chips organisiert. Natürlich seine Lieblingschips, die dünnen nur mit Salz.

„Na ja“, sagte er verlegen, „ich dachte, wenn man was im Bauch hat, geht es einem gleich besser.“

Er setzte sich zu uns, riss die Tüte Chips auf und schüttete die Hälfte in die große Schüssel.

Es herrschte eine merkwürdige Stimmung. Eben noch hatte ich mit Tommy gescherzt und keinerlei Sorgen, und jetzt saßen wir mit bangem Herzen da und fühlten uns niedergeschlagen, noch bevor Janine ein einziges Wort gesagt hatte. Wir hatten die unglaublichsten Dinge zusammen erlebt, Gefahren und manch brenzlige Situation überstanden. Aber immer hatten wir uns unbeschwert gefühlt und viel gelacht. Der einzige Moment, an dem Janine Trost gebraucht hatte war der, als wir damals um Mitternacht nach Hause kamen und sie nicht wusste, wie sie das ihren Eltern beibringen sollte. Aber jetzt ...

„Meine Mutter ist krank.“

Die Worte kamen leise aus ihrem Mund und sie blickte nicht auf, als sie das sagte. Für einen Moment blieb mir das Herz stehen. Gerade wollte ich eine Handvoll Chips nehmen, um meine Unsicherheit zu verbergen, doch meine Hand blieb, wo sie war. Besorgt sahen wir Janine an. Selbst die Hunde lagen ruhig und mit schief gelegtem Kopf neben uns und spürten die traurige Stimmung.

„Ich hab gelauscht. Ich meine ... “, sagte sie und hob den Blick, „ ... ich wollte nicht lauschen, aber ich musste nachts auf die Toilette und da hab ich gehört, wie meine Mutter geweint hat.“

Janine traten Tränen in die Augen und sie schluckte.

„Mein Vater hat meine Mutter getröstet. Sie soll operiert werden, und dann muss sie lange Zeit in irgendeine Reha ... Reha ... “

„Rehabilitation“, ergänzte Tommy.

„Ja. Und das kann ein Jahr dauern. Und sie wissen nicht ... sie wissen nicht ... “, schluchzte sie und konnte die Tränen jetzt nicht mehr zurück halten. „Sie wissen nicht, ob es hilft.“

Mechanisch streichelte ich Lazy und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Ich kannte Janines Mutter nicht. Wir hatten Janine immer nur von zu Hause abgeholt oder hingebracht. Aber ich brauchte nur an meine eigene Mutter denken und konnte mir vorstellen, wie es jetzt in Janine aussehen musste. Ich fühlte mich in dem Augenblick unendlich hilflos. Aber es war Tommy, der mit seiner ruhigen Art unsere Unsicherheit überwand.

„Weißt du, was ihr fehlt oder in welchem Krankenhaus sie operiert wird? Dann könnten wir ihr vielleicht helfen. Jesse ... mein Vater kennt viele berühmte Leute. Da sind bestimmt auch Ärzte dabei.“

„Danke, Tommy“, sagte Janine und schenkte ihm einen dankbaren Blick. „Aber ich glaube, das würde nichts helfen. Sie soll in Hamburg operiert werden.“

„In Hamburg?“, rutschte es mir raus. „Warum das denn?“

„Heute Morgen haben mir meine Eltern alles erzählt. Da gibt es eine Spezialklinik und mein Vater will das beste Krankenhaus. Ich weiß nicht, was ihr fehlt, und ich wollte nicht fragen.“

Sanne legte ihre Hand auf Janines Arm.

„Wollen wir zusammen zu deiner Mutter gehen und sie trösten?“

Janine holte ein Taschentuch aus ihrer Jeans und putzte sich die Nase.

„Das ist so lieb von euch. Ich weiß, dass ihr alles für mich tun würdet, aber was können wir denn machen? Wie soll ich ihr denn helfen? Ich bin doch kein Arzt!“

Wieder liefen ihr dicke Tränen über die Wangen. „Das ist ja noch nicht alles“, flüsterte sie dann.

„Nicht alles?“, fragte ich leise. „Du kannst uns alles sagen. Wir werden immer bei dir sein, das weißt du doch.“

Janine nickte stumm. Dann setzte sie an, um etwas zu sagen, aber ihr versagte die Stimme. Schließlich reichte Tommy ihr ein Glas Mineralwasser.

 

„Trink erstmal. Dann wird dir gleich besser. Und ich sag dir jetzt mal was. Deine Mutter wird ganz bestimmt wieder gesund. Das weiß ich so sicher wie nichts sonst auf der Welt.“

Janine blickte in Tommys ruhig schauende Augen und ein Lächeln stahl sich in ihr Gesicht. Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und trank es halb aus. Als sie dann sprach wusste ich, dass Tommy es geschafft hatte. Ihre Stimme klang fest und sie weinte nicht mehr.

„Nein, das ist noch nicht alles. Ich bin heute hier, um mich von euch zu verabschieden. Mein Vater hat sich versetzen lassen, um bei meiner Mutter in Hamburg sein zu können. Eine Wohnung hat er auch schon gemietet. Wir wissen ja nicht, wie lange die Reha ... die Reha ... na ihr wisst schon, dauern wird. Also muss ich mitkommen. Vielleicht müssen wir sogar unser Haus verkaufen. Am Montag ... am Montag müssen wir schon los.“

„Du kannst doch nicht einfach weggehen! Was sollen wir denn ohne dich machen?“ Jetzt hatte auch Sanne Tränen in den Augen, und ich selbst fühlte mich auf einmal schwer wie ein Stein. Janine war unsere beste Freundin. Was gingen mir auf einmal nicht alles für Gedanken durch den Kopf. Seit wir vier zusammen waren, war alles ganz anders als früher. Wenn Janine wegziehen würde, dann... dann...

„Ich will doch auch nicht weg von euch“, sagte Janine bedrückt. „Aber es geht nicht anders. Vielleicht können wir nach diesem einen Jahr wieder hierher zurückziehen.“

Wir schwiegen. Ich glaube, jeder von uns wusste, dass das nicht passieren würde. Wenn Janines Vater erst einmal in einer anderen Stadt arbeitete, dann blieb er auch da. Und mit ihm seine ganze Familie.

„Das Wichtigste ist, dass deine Mutter gesund wird“, sagte Tommy und kraulte Jever gedankenverloren hinter dem Ohr. „Und unsere Freundschaft kann nichts auseinander bringen. Auch nicht die größte Entfernung der Welt. Ich weiß, wie du dich fühlst, Janine. Aber deine Mutter ist jetzt der wichtigste Mensch auf der Welt. Und du bist der Wichtigste für sie.“

Während er das sagte, tastete er unbewusst nach dem Amulett unter seinem Hemd. Es war eine uralte Goldmünze mit dem Bildnis des Anastasios, die Tommy Tag und Nacht um seinen Hals trug. Nur ich wusste, dass es das einzige war, was er von seinem Vater besaß, seinem richtigen Vater, der bei einem schrecklichen Unfall ums Leben kam, als Tommy erst drei Jahre alt war.

Minuten vergingen. Ich spielte mit meinem Glas und überlegte fieberhaft, bei welchen Ärzten ich schon gewesen war und ob da einer dabei war, der vielleicht Janines Mutter helfen könnte. Ich dachte daran, meinen Vater zu fragen, aber der arbeitete in einer Importfirma für Gewürze und kannte bestimmt keine Ärzte. Wir waren auf dem totalen Tiefpunkt unserer Stimmung angelangt, als ich auf einmal erschrocken zusammenfuhr.

„Ich hab’s!“, schrie Sanne und sprang auf. Jever machte vor Schreck einen Satz zur Seite. Sannes Augen funkelten und sie streckte uns ihre geballte Faust entgegen.

„Na?“, fragte sie herausfordernd. „Wisst ihr, was ich meine?“

Tommy nickte langsam und auch seine Augen bekamen einen seltsamen Glanz. Dann schaute er mich an und lächelte.

„Nun, Herr Seefeld, was meinen Sie dazu?“

Ich kam mir ziemlich dumm vor, denn ich hatte nicht die geringste Vorstellung, was Sanne meinen konnte. Dann stand auch Tommy auf und ballte die Faust direkt vor meiner Nase.

„Mensch, Joe! Denk doch mal nach! Was könnte deine kluge Schwester wohl meinen? Na?“

Mit einem Mal rasten meine Gedanken. Vor meinem geistigen Auge erschien das verwilderte Grundstück, das Haus huschte vorbei und all die fantastischen Abenteuer, die wir vor drei Monaten erlebt hatten, blitzten wie im Zeitraffer durch meinen Kopf. Jetzt wusste ich, was Sanne meinte.

„Die Wunschkugeln!“

Auch ich war aufgesprungen, und nur Janine saß noch auf dem Teppich und starrte uns verständnislos an. Jever fing an zu bellen. Sein Instinkt verriet ihm, dass unsere Stimmung von einer Sekunde zur anderen umgeschlagen war. Selbst Lazy bemühte sich, den Kopf zu heben und schaute uns fragend an.

„Na klar, die Wunschkugeln!“, wiederholte Sanne aufgeregt. „Wir gehen zurück in das Haus und holen eine Wunschkugel. Nur eine einzige. Und damit wünschen wir deine Mutter wieder gesund. Das ist doch bestimmt kein falscher Wunsch! Oder, Tommy?“

„Nein“, sagte Tommy nachdenklich. „Das ist bestimmt kein falscher Wunsch. Aber ich weiß nicht, ob das so einfach geht.“

„Wir müssen es doch wenigstens versuchen! Und wenn uns das Haus nicht hinein lässt, dann eben nicht! Aber versuchen müssen wir es doch! Bitte, Tommy!“

„Vier Herzen ... “, murmelte ich.

„Genau!“ Sanne ließ nicht locker. Ich ahnte, was in Tommy vorging. Er war der Denker von uns Vieren. Ihm war nicht wohl dabei, einfach bei jedem Problem die Hilfe der geheimnisvollen Mächte zu nutzen. Außerdem dachte er bestimmt auch an die Gefahren, die damit verbunden waren. Und die kamen auch mir in den Sinn. Sanne fasste ihn sanft am Arm.

„Tommy, wenn Janine wegzieht, dann gibt es keine vier Herzen mehr. Wir drei allein können bestimmt nicht zurück in das Haus. Weißt du nicht mehr? Vier Herzen braucht es, das Buch zu lösen!“

Tommy lächelte. „Wie könnte ich das vergessen? Ich hab nur ... ich meine, irgendwie glaube ich nicht, dass es so einfach geht, wie du dir das vorstellst. Wir wissen nicht, was uns erwartet. Vielleicht werden da gar keine Wunschkugeln liegen. Und was dann?“

Sannes Augen schimmerten feucht, aber sie ließ sich nicht beirren.

„Du bist doch sonst derjenige, der immer für alles eine Lösung hat. Wenn wir es nicht versuchen, werden wir auch nicht erfahren, ob welche da sind. Das ist so wie ... das ist so ... das ist so wie wenn du Chips essen willst, aber nicht einkaufen gehst!“

Das brachte uns alle zum Lachen, und ich wunderte mich mal wieder über meine Schwester. Noch vor einem halben Jahr fand ich sie einfach nur lästig. Das konnte ich mir heute überhaupt nicht mehr vorstellen.

„Erinnert ihr euch denn noch, was uns das Buch der Gaben mit auf den Weg gegeben hat?“, fragte Janine leise, die immer noch auf dem Teppich saß. In der ganzen Aufregung hatten wir die Hauptperson fast vergessen!

„Was meinst du?“, fragte ich gespannt.

„Ich meine, ich finde es ganz toll von euch, was ihr für meine Mutter tun wollt. Aber dürfen wir denn überhaupt noch einmal zurück?“

Wir dachten darüber nach. Sie hatte Recht. Dieses Haus war uns einmal wohl gesonnen gewesen, aber würde es dies auch das zweite Mal sein? Janine erhob sich nun ebenfalls und suchte den Raum mit ihren Augen ab.

„Hast du was zum Schreiben, Tommy?“

Tommy ging rüber zu seinem Schreibtisch, kramte in einer Schublade herum und fand schließlich einen Bleistiftstummel. Er riss einen Zettel von einem Notizblock und reichte Janine die beiden Sachen.

„Könnt ihr euch daran erinnern, was im Buch der Gaben stand, als wir es das letzte Mal in der Kammer des Wissens gesehen haben? Ihr wisst doch, als wir es nicht mehr aufheben konnten.“

„Setzen wir uns besser“, meinte ich und merkte, dass ich jetzt doch Hunger auf eine Ladung Chips bekommen hatte. Also setzten wir uns wieder im Kreis auf den Boden, und nicht nur ich griff in die Schüssel und bediente mich herzhaft. Die Traurigkeit war einer Spannung gewichen, die sich von jetzt an immer mehr steigern würde.

„Ich glaube, da stand etwas von einer letzten Prüfung“, meinte Sanne und ich gab ihr Recht.

„Stimmt! Das war ja auch, als wir in letzter Sekunde zurück waren. Es hieß, die letzte Prüfung ist bestanden ... “

„Genau!“, rief Janine und begann eifrig, den Text niederzuschreiben.

„Du brauchst nicht mehr weiter schreiben“, sagte Tommy auf einmal. „Ich weiß, was dort stand. War ja auch nicht viel Text. Und ... “, lächelte er verschmitzt, „ich glaube, wir können wirklich zurückgehen.“

„Was stand da? Los, sag schon!“, drängten wir ihn alle. Tommy schaute von einem zum anderen und weidete sich an unseren ungeduldigen Gesichtern.

Wenn der Tag kommt, wirst du wissen, dass das Buch der Gaben auf euch wartet ... “

„Seht ihr?“ Sanne triumphierte. „Wir gehen und holen eine Wunschkugel!“

„Langsam, langsam“, dämpfte Tommy ihre Euphorie. „Glaubt ihr denn, dass heute der Tag ist, den das Buch gemeint hat?“

Er schaute in die Runde. Ich brauchte darüber nicht lange nachzudenken. Wenn jemand krank war, den man liebt und man ihm nicht anders helfen konnte, auf welchen Tag sollte man denn sonst warten? Ich nickte heftig, und auch in den Gesichtern meiner Freunde entdeckte ich nichts als Entschlossenheit. Tommy zuckte die Schultern.

„War ja nur eine Frage.“ Aber als wir stürmisch drauflos plapperten, hob er warnend die Hände.

„Dieses Mal werden wir uns besser vorbereiten.“

„Wie meinst du das?“, fragte ich, wusste die Antwort aber längst.

„Das letzte Mal sind wir einfach in das Haus hineingestolpert ohne zu wissen, was auf uns zukommt. Und vielleicht darf ich euch daran erinnern, wie spät es war, als wir wieder herauskamen! Ich habe so das Gefühl, dass es nicht immer so einfach wird, jedes Problem einfach wegzuwünschen. Stell dir mal vor, du kommst eine Nacht nicht nach Hause! Deine Mutter würde sich zu Tode ängstigen! Und das wäre ja wohl das letzte, was sie jetzt gebrauchen kann, oder?“