Die Seele im Unterzucker

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Essen als Ventil?

Es mag Menschen geben, für welche Essen einfach nur dazugehört oder eben ein Mittel zum Zweck darstellt, aber keine tiefgründigere Bedeutung aufweist. Natürlich schmeckt das eine deutlich besser als das andere, aber nach der Mahlzeit ist es dann auch wieder für eine Weile vorbei. Das war bei mir schon immer deutlich anders. War eine gute Mahlzeit zu Ende, war ich häufig traurig und holte mir einen Nachschlag, um das Gefühl des Genusses und der Befriedigung noch einige Zeit länger aufrecht zu erhalten. Selbst dann, wenn ich im Grunde eigentlich schon längst satt war und nur noch wegen des guten Geschmacks nachschaufelte.

Es hängt bestimmt auch mit meinem schon sehr früh eingetroffenen Diabetes zusammen, dass das Essverhalten in meinem Leben schon immer eine zentrale Rolle spielte. Was und wann darf bzw. sollte ich essen? Wie viel und wie oft muss ich dafür per Injektion korrigieren? Und mit wie vielen Einheiten? Als Typ 1-Diabetiker ist beim Essen permanentes Mitrechnen im Kopf Voraussetzung. Zumindest dann, wenn man es einigermaßen richtig machen will.

Aufgrund meiner Handicaps und meiner Sonderrolle nutzte ich das Essen nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern als regelrechtes Ventil um mich gut zu fühlen. Dies führte dazu, dass ich natürlich auch immer ordentlich zulangte, dementsprechend viel Insulin benötigte und über die Jahre immer fülliger wurde. Ich war zwar niemals krankhaft fettleibig oder adipös, wie man es in der Fachsprache bezeichnet, aber trotz allem recht mollig und ausgefüllt. Lange machte ich mir diesbezüglich keinen Kopf, aber irgendwann begann es doch in mir zu arbeiten. Spätestens ab der Pubertät, wo man die eigene Optik gerne einmal genauer unter die Lupe nimmt. In dieser Zeit begann ich mich optisch mit anderen zunehmend zu vergleichen.

In Kindertagen war es nur insoweit ein Thema, dass ich manchmal neidisch auf meinen kleinen Bruder war, was das Essverhalten anging. Er konnte so viel naschen, wie er nur wollte und war stets ein kleiner dürrer Hering, wie er häufig von meiner Mutter bezeichnet wurde. Ich fragte mich schon damals, wie er das nur konnte. Naschte er doch an manchen Tagen wirklich viel, bis zu einer Packung Milchschnitte. Als Kleinkind war ICH definitiv rundlicher als er. Möglicherweise hatte er diesbezüglich die Gene von Onkel Beck geerbt? Jener war etwas schlanker als mein Vater. Mein Vater hatte eine etwas kräftigere Statur, er war sehr muskulös, allerdings nicht wirklich dünn. Zudem war auch er ein leidenschaftlicher Genießer und auch das gelegentliche Bierchen ließ den Bauchspeck natürlich alles andere als verschwinden. Aber mein Vater machte sich deswegen nichts draus, sondern genoss sein Leben in vollen Zügen. Zumindest was das Essen betraf.

Meine Mutter war, soweit ich mich erinnern kann, immer recht normal gebaut. Nicht übermäßig dünn, aber auch nicht korpulent. Ein gesundes Mittelmaß. Obwohl meine Großeltern manchmal sagten, sie sei übermäßig schlank. Dieser Aspekt liegt natürlich im Auge des Betrachters.

Hatte ich mich in Kindertagen doch eigentlich immer recht genau an die Essensregeln meiner Eltern gehalten, so änderte sich dies ab jenem Zeitpunkt, als ich in die Realschule kam. Ich begann mit meinen Werten zu schlampen, aß zwischendurch immer häufiger etwas Süßes und auch die Größen der Mahlzeiten wurden je nach Lust und Laune zusammengestellt.

Im Nachhinein betrachtet weiß ich, dass ich zu einigen Zeitpunkten, an welchen ich mich gar nicht gemessen hatte, wie zum Beispiel während der großen Pause in der Schule, möglicherwiese vom Zuckerspiegel viel zu tief war.

Unterzucker und Insulin lösen unbeschreiblichen Heißhunger aus, das ist für die meisten gesunden Menschen kaum nachzuvollziehen. Nicht ohne Grund wird es den armen Seelen in der Massentierhaltung regelmäßig verabreicht, wie mir meine Diabetologin einst erklärte. Damit sie möglichst viel Hunger kriegen, viel essen und dementsprechend fett werden.

Ganz besonders nach Zucker, welcher dem Körper im Unterzucker fehlt, schreit der Körper dann förmlich und sendet die entsprechenden Signale. Nur durch sehr viel Selbstbeherrschung und die notwendigen Vorkehrungen kann einem unkontrollierten Fressrausch im Unterzucker erfolgreich entgegengewirkt werden.

Ich setze jenes Gefühl einer langen Hungerstrecke gleich, unter welcher man mehrere Stunden oder Tage leidet. Wer kennt es nicht? Man hat den ganzen Tag über nichts gegessen, war beruflich oder anderweitig aktiv und kann das bevorstehende Abendessen kaum noch erwarten. Möchte am liebsten vor lauter Hunger die noch nicht mal gebackene Tiefkühlpizza sofort verschlingen. Der ganze Körper zittert, der Magen knurrt. So einem Gefühl entspricht dieser Zustand etwa. Selbst wenn die vorherige Mahlzeit noch nicht mal allzu lange her ist und auch entsprechend ausgiebig war. Ohnehin ist es ja Fakt, dass selbst gesunde Menschen eine Unterzuckerung bekommen können, wenn sie über einen langen Zeitraum nichts gegessen haben. Besonders Hochleistungssportler können ein Lied davon singen.

Bei mir ist dieser Zustand allerdings besonders ausgeprägt, da ich eigentlich so gut wie immer Hunger verspüre, welchen ich leider viel zu schlecht von purem Appetit unterscheiden kann. Woher kommt das nur? Bestimmt spielt auch hier mal wieder Freund Diabetes eine Rolle. Allerdings glaube ich auch, dass es sich hierbei ferner um eine Kopfsache handelt. Essen als Ventil. Ein Rausch des Genusses, ein Rausch zum Vergessen …

Ein weiteres Problem meines Essverhaltens war stets meine enorme Ungeduld. Anstelle von bewusstem Genießen schlang ich das Essen vollkommen unbedacht hinunter. Ganz besonders in der großen Pause, wo die Zeit begrenzt und die Schlange vor dem Bäckerhäuschen meist ziemlich lang war. Nicht viel Zeit zum bewussten Genießen, Hektik verdirbt hier die benötigte Zeit und Ruhe. Ein ähnliches Schema wie in den Mittagspausen in vielen Arbeitsbetrieben. Zeitdruck und Stress sind pures Gift für die Nahrungsaufnahme. Sie sollte ein geschätzter Moment der Ruhe sein. Oder eben mit etwas Schönem verbunden werden, wie einem entspannenden Film nach Feierabend oder der Gesellschaft von vertrauten Personen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Kindern, welche oftmals Reste vom Mittagessen liegen lassen, aß ich meist immer vollständig auf und wollte Nachschub. Außer wenn es mir absolut nicht schmeckte. Fisch und Reis zählten in Kindertagen zu meinen verhassten Gerichten, was wiederum meiner Mutter und natürlich meinem allesfressenden kleinen Bruder behagte. Dies wurde dann wiederum meist durch einen dementsprechenden Nachtisch ausgeglichen. Meine Mutter ermahnte mich regelmäßig, dass es jetzt nun wirklich langsam reichen würde. Was ich im Fresswahn meist vornehmlich ignorierte.

Dass das Sättigungsgefühl erst nach rund 20 Minuten eintritt, auch das wollte ich meiner Mutter als Kind partout nicht glauben und lieber sofortigen Nachschub.

„Gut gekaut ist halb verdaut.“ So lautet ein sehr schöner Spruch, in welchem viel Weisheit steckt. Wie ich erst kürzlich lernte, werden durch den vermehrt gebildeten Speichel im Mund sogenannte Amylasen gebildet. Enzyme, welcher der Körper produziert um Kohlenhydrate aufzuspalten. Je mehr man also kaut, umso weniger hat der Magen bezüglich der Amylase-Produktion zu tun und die Nährstoffe gelangen schneller durch den Dünndarm in die Blutbahnen. Langsam und bewusst essen lautet also die Devise! Heute halte ich mich bewusst daran. Als Kind schlang ich dagegen wie eine 7-köpfige Raupe, wie mich meine Großeltern im Scherz oft betitelten.

Während meiner frühen Schulzeit hatte ich eigentlich immer ein festes Essensritual, welches zuhause vorgegeben war. Morgens eine Schüssel Cornflakes mit Milch, in der Schulpause meine Zwischenmahlzeit vom Bäcker, nach der Schule Mittagessen, am Nachmittag so gegen 15:00 Uhr nochmal eine Zwischenmahlzeit (meist ein Joghurt oder eine kleine Süßigkeit), später Abendbrot und vor dem Schlafengehen noch eine kleine Spätmahlzeit. Oftmals mopste ich jedoch in unbeobachteten Minuten etwas aus dem Kühlschrank und ließ die Verpackungen unauffällig hinter meinem Bett verschwinden. Dies blieb lange unbemerkt von meiner Mutter. Obwohl gelegentlich die Frage auftrat, ob ich noch einen Schokoriegel oder ein Päckchen Gummibärchen zum abendlichen Einschlafen geklaut hätte, was ich jedoch aus Scham meist verneinte. Natürlich wusste sie es trotzdem, blöd war sie ja auch nicht. Außerdem verrieten mich meine Blutzuckerwerte am Morgen. Sie fielen dann deutlich zu hoch aus.

Von meinem Taschengeld kaufte ich mir eine Zeit lang täglich Schleckereien vom Drogeriemarkt. Ich vergötterte die großen Trolli Burger, von welchen ich oftmals jeden Nachmittag 4 Stück aß. Lang und ausgiebig lutschte ich an den einzelnen Stückchen herum, während ich nebenbei Filme ansah. Meine Mutter arbeitete damals an zwei Nachmittagen in der Woche, so dass ich ausgiebig Zeit hatte, genüsslich zu naschen.

Es weitete sich immer mehr aus. Aus EINER Portion Cornflakes am Morgen wurden nach und nach 3–4 Schüsseln und ein Liter Milch und zum Mittagessen holte ich mir nun auch mal einen Döner mit Spezi. Mein Gewicht war mir noch immer recht egal und auch mein Kleidungsstil war lange Zeit über sehr unorthodox. Da ich als Kind eine starke Abneigung gegen Knöpfe hatte, zog ich bis in meine Jugend eigentlich immer nur Radler- und Jogginghosen an. Optisch gefallen mir Knöpfe bis heute nicht wirklich, allerdings toleriere ich sie inzwischen problemlos an Hosen. Niemals würde ich jedoch ein Polo-Shirt oder ähnliches tragen, es ist einfach nicht mein Geschmack. Jene engen Hosen machten einen etwas komischen Eindruck. Dazu noch knallenge T-Shirts, welche ich mir mit meiner damaligen Statur definitiv nicht leisten konnte.

Gewohnheit ist der schlimmste Fluch.

 

Wie auch die Selbstverständlichkeit.

Vergleichbar mit einem Kaugummi in den Haaren, welcher sich einfach nicht herauspulen lässt.

Hier hilft meist nur ein vollständiger „Cut“.

Zusammenbruch vor meinen Augen

Das Jahr 2004 neigte sich seinem Ende zu und mein Vater hatte für das bevorstehende Silvester etwas ganz Besonderes geplant. Ein Wochenende auf einer Skihütte eines guten Freundes vom Stammtisch, zu welchem ich mitfahren durfte. Ich freute mich sehr darauf, auch wenn ich 90 % der Zeit an einem Schulprojekt arbeitete, in welchem es um die Zusammenfassung eines Buches ging.

Die Hütte lag in Österreich in den Bergen. Alles war tief eingeschneit und wir hatten große Mühe, diesen Ort mit dem Auto zu erreichen. Wir fuhren bei Freund Ralf und seiner Frau Irmgard mit. Als wir die Hütte erreicht hatten, richteten wir uns in einem der Gästezimmer ein und schlugen unsere Schlafsäcke auf. Wir lernten einige neue Leute kennen, welche wir teilweise noch gar nicht kannten. Eines der Ehepaare hatte ihre Tochter mitgebracht, mit welcher ich Schlitten fuhr.

Bereits am ersten Abend ging es meinem Vater sehr schlecht. Er erbrach sich in einem fort und konnte das Bett (oder besser gesagt den Schlafsack) nicht mehr verlassen. Er verpasste sogar den Jahreswechsel und das Feuerwerk, auf welches wir dank der Lage in den Bergen eine grandiose Sicht hatten. Ich hielt es für ihn auf Bildern fest. Warum es ihm so schlecht ging, wusste keiner. Wir dachten, er hätte eine kleine Lebensmittelvergiftung.

Nach 2 Tagen auf der Hütte fuhren wir wieder nach Hause. Nachdem wir nach 2-stündigem Stau endlich die Heimat erreicht hatten, waren wir alle recht froh. Es war noch sehr glatt und verschneit. Mein Vater fühlte sich inzwischen wieder etwas besser. So dachten wir zumindest. Nachdem wir uns von Ralf und Irmgard verabschiedet hatten, stiegen wir die Treppen zum Wohnungseingang hinauf und mein Vater schloss die Türe auf. Plötzlich ein gequälter Laut. Mein Vater kippte vor meinen Augen nach vorne über und landete auf dem Bauch. Er krampfte und sabberte. Zuerst dachte ich noch, dass er ein Späßchen mit mir machen wollte, so wie er es öfters gerne versuchte und schaltete nicht sofort. Doch als er so liegen blieb sah ich, dass es ernst war und rannte schnell zur Nachbarin und klingelte Sturm. Ich sagte, mein Vater sei plötzlich umgefallen. Sie und ihr Sohn kamen sofort herbei und alarmierten einen Krankenwagen. Ich sprintete nach oben in die Wohnung, schloss die Wohnungstüre auf, schnappte mir das Telefon und rief meine Großeltern an. Meine Oma meldete sich, wünschte ein frohes neues Jahr und fragte gut gelaunt, wie es denn in Österreich gewesen war. Ich weiß noch genau, dass es mir sehr leid tat sie jetzt beunruhigen zu müssen, aber sie musste ja schließlich auch Bescheid wissen. Ich erzählte, dass Papi soeben im Treppenhaus zusammengebrochen war und sie und Opa schnellstmöglich kommen sollten.

Sie trafen kurz nach dem Krankenwagen ein. Mein Vater – inzwischen von der Nachbarin mit einem der Schlafsäcke aus unserem Gepäck zugedeckt – war inzwischen sogar wieder bei Bewusstsein. Die Sanitäter sagten ihm, dass sie ihn mit ins Krankenhaus nehmen würden. Mein Vater protestierte, schließlich hatte er seit 2 Tagen nicht geduscht. Ich musste gedanklich schmunzeln, das war so typisch für meinen stets hoch gepflegten Vater. Doch das rückte jetzt erst einmal in den Hintergrund und er wurde auf der Trage mitgenommen. Meine Großeltern und ich gingen noch einmal kurz in seine Wohnung und suchten einige Dinge für ihn zusammen. Unterwäsche, Schlafanzug, Waschsachen etc. Anschließend fuhren wir zu ihm ins Krankenhaus.

Dort fanden wir ihn in der Notaufnahme. Er saß auf einer Liege und schien geistig schon wieder ganz anwesend zu sein. Was war eigentlich passiert? Man erklärte uns, dass er einen epileptischen Anfall erlitten hatte, was auch die Krämpfe und die Zuckungen erklärte. Dass er unter einer leichten Form der Epilepsie litt, wusste ich bis zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht.

Er meinte, dass es ihm soweit wieder gut gehe und er jetzt nach Hause könne. Doch der Arzt bestand darauf, ihn über Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus zu behalten. Was auch passierte. Meine Großeltern und ich verabschiedeten uns alsbald und waren froh, dass er in guten Händen war. Sie waren ganz krank vor Sorge und fragten mich, ob er am Wochenende denn Alkohol getrunken hatte, was ich verneinte. Wann denn auch? Er war ja zum Großteil außer Gefecht und schlief.

Zuhause angekommen, erzählte ich auch meiner Mutter was geschehen war. Ich war noch immer in größter Sorge um meinen Papa und schaute einige Stunden später am Abend nochmal bei ihm im Krankenhaus vorbei. Ich wollte ihm meinen Lieblingsteddy vorbeibringen, dass er die Nacht über nicht so allein war. Als ich ihn dort vorfand, erschrak ich sehr. Er hatte eine herausgezogene Infusionsnadel in seiner Hand und war überströmt mit Blut. Außerdem wirkte er sehr benommen und verwirrt. Die Infusion sei irgendwie herausgerutscht und er bekomme sie nicht wieder hinein. Ich rief nach einer Schwester, welche sich seiner annahm. Ich verließ das Zimmer und versprach, direkt morgen wieder zu kommen. Ich war in Sorge und hoffte, dass er gut über die Nacht kommen würde. Dass er so durcheinander war, machte mir Angst. Meine Mutter beruhigte mich und sagte, dass ein epileptischer Anfall eine enorme Stresssituation für den Körper darstellt, er in guten Händen sei und es ihm morgen bestimmt schon wieder besser gehen würde. Zuversichtlich legte ich mich bald schlafen, nachdem ich noch den Rest von meinem Gouda gegessen hatte, welchen ich mir bewusst für später aufgehoben hatte.

2 Tage später wurde mein Vater wieder entlassen. Er bekam von nun an Tabletten gegen seine Krankheit, welche künftigen Anfällen vorbeugen sollten. Außerdem hatte er die strikte Auflage, keinerlei Alkohol mehr zu trinken. Nicht mal sein geliebtes Feierabendbierchen durfte offiziell nun mehr sein. In meiner Gegenwart hielt er sich auch überwiegend daran. Trank er zwischendurch trotzdem mal etwas (einmal holte er sich in meiner Anwesenheit nach einem Arztbesuch in München ein Bierchen und „bestach“ mich mit einer Fahrtrunde in einem Fahrgeschäft auf dem Rummelplatz, wenn ich es niemandem erzählen würde), so stufte er es als harmlose Ausnahme ein. Daher beachtete ich es auch nicht weiter, ganz bestimmt wusste er, was er tat. Gelegentlich ein Bierchen klang in der Tat recht harmlos und war ihm auch mehr als vergönnt. Was und wie viel er tatsächlich in meiner Abwesenheit konsumierte, wird auf ewig sein wohl gehütetes Geheimnis bleiben.

Depressionen

Es war zuweilen recht erschreckend, in wie viele Widersprüchlichkeiten ich mich über die Jahre verrannte. Meine Meinungen variierten häufig nach Tagesform und änderten sich gelegentlich schneller als das Wetter.

Ein gutes Beispiel hierfür waren meine Krankheiten, welche ich gerne zum persönlichen Belieben variabel verwendete. Einerseits wollte ich unter keinen Umständen eine Sonderbehandlung. Jedoch kamen mir einige Ausreden ab und an ganz gelegen. Hatte ich auf irgendetwas keine Lust, so schob ich meine Sehnenverkürzung vor und bekundete, dass ich das nicht schaffen würde. Obwohl ich es im Grunde mit ein bisschen Disziplin durchaus geschafft hätte. Zum Beispiel hätte ich mich viel mehr bewegen können. Zumindest nach meinen persönlichen Möglichkeiten in meinem eigenen Tempo.

Irgendwann kam der Punkt, an welchem ich anfing, bewusster auf mein Äußeres zu schauen. In meiner Klasse waren definitiv nicht alle schlanke Topmodels, einige waren, wie auch ich, von etwas kräftigerer Natur. Ich begann überwiegend Schwarz zu tragen und zog sehr enge Unterhemden an, die so straff saßen, dass sie mir im Hochsommer sogar Striemen in die Haut rissen welche teilweise eiterten. Die Schmerzen und das endlose Schwitzen ertrug ich jedoch, um unnötige Fettpolster so gut wie möglich zu verbergen.

Zu Weihnachten 2005 bekam ich von meinem Vater meine erste Digitalkamera mit der Möglichkeit zur Tonaufzeichnung, welche bald zu meinem liebsten Begleiter mutierte und das alte Diktiergerät meines Vaters ablöste, welches ich bis dato stets bei mir getragen hatte. Ich knipste alles und jeden und drehte kurze Videos. Meist heimlich von meinem armen Vater, welchen ich gezielt regelmäßig zur Weißglut brachte, um mich später über die Aufnahmen köstlich zu amüsieren. Andere zu ärgern machte mir in jenem Zeitraum sadistische Freude, ich konnte mich stundenlang über Wutanfälle totlachen. Ich filmte heimlich, wie ich meinem Vater „versehentlich“ auf den Fuß trat, er lautstark vor Schmerzen aufschrie und schaute mir jenes Szenario gefühlte hundertmal in Folge an.

Auch in der Schule war die Kamera nun ständiger Begleiter. Ich stellte bewusst naive Fragen und stellte mich blöd, so dass die Lehrer oftmals nervlich an ihre Grenzen gelangten. Das alles nahm ich meist in Form von Sprachaufnahmen auf, zog es mir zuhause auf den Rechner und hörte es mir immer wieder an. Meine Form der Belustigung in einsamen Stunden. Natürlich machte ich jene – im Grunde unerlaubten Aufnahmen – niemals öffentlich und löschte auch die meisten im Laufe der Zeit wieder. Sie waren lediglich für mich und meine persönliche Belustigung gedacht.

Dieses Verhalten war nur bis zu einem gewissen Punkt lustig. Irgendwann nervte es sämtliche Mitschüler und ich wurde gemieden. Warum schoss ich mich schon wieder in eine Sonderrolle und diesmal aus freien Stücken? Bezüglich meiner Krankheiten wurde ich verhältnismäßig selten gemobbt, allerdings führte mein immer aufsässigeres, provokantes Verhalten dazu, dass ich von nun an regelmäßigem Mobbing ausgesetzt war. Selbst jene Mitschüler, welche ich bereits aus Kindergartentagen kannte, wendeten sich immer mehr von mir ab und mieden den Kontakt. Was ich inzwischen sogar verstehen kann. Wer konnte mich schon wirklich einschätzen und noch ansatzweise ernst nehmen? Meine soziale Inkompetenz ließ mal wieder herzlich grüßen. Außerdem konnte meinen speziellen und sadistischen Humor kaum jemand nachvollziehen. Was war so lustig daran, wenn sich die Leute aufregten? Auf der anderen Seite, wenn man sich heute so die Pannenshows und Amateur-Aufnahmen im Internet ansieht … da scheint mein sadistischer Humor nun doch wieder kein Einzelfall zu sein. Wie auch immer…

Durch das Mobbing noch bestärkt, begann ich mich immer mehr selbst zu verabscheuen. Ich begann zunehmend verschlossener zu werden und schämte mich für beinahe alles, was ich tat und mochte. Fuhr mich meine Mutter beispielsweise in die Schule und hörte etwas lauter Musik, so bat ich sie regelmäßig die Musik beim Ausstieg kurz leise zu machen. Die anderen durften auf keinen Fall wissen was wir hörten, um bloß keine neue Angriffsfläche für Mobbing zu bieten. Seit meiner Zeit in der 1. Klasse, als ich auf Busfahrten zur Schule regelmäßig wegen meiner Leidenschaft zu den Teletubbies schikaniert wurde, behielt ich ohnehin sämtliche persönliche Favoriten für mich. Diese Prägung hält sogar bis heute noch teilweise an. Fährt zum Beispiel ein Fremder bei mir im Auto mit, so schalte ich meine persönliche CD ganz automatisch aus und wechsle um auf Radiosender. Nicht, dass es etwas zu verbergen gäbe, ich höre keine verbotene Index-Musik. Aber ich schäme mich trotz allem noch immer für alles, was mir persönlich gefällt. Meine Mutter sagte mir immer, ich solle zu den Dingen stehen, für welche ich mich begeistere. Dies gelingt mir jedoch nur in Maßen. Obwohl sich jene Phobie über die Jahre bereits deutlich besserte. Aber in Zeiten der frühen Jugend war es besonders extrem.

Auch wenn ich sehr viel provoziert habe, so muss ich dennoch sagen, dass mir selbst auch die eine oder andere Gemeinheit widerfuhr, welche ziemlich heftig war. Ein gutes Beispiel hierfür war beispielsweise die gelegentliche Illoyalität von meinem besten Freund Axel. Er hatte einige Freunde, welche mich nicht sonderlich mochten und auch gelegentlich ärgerten. War er mit mir unterwegs und jene kamen unmittelbar um die Ecke, zog er sich dezent zurück, um nicht mit mir gesehen zu werden. Allerdings glaube ich inzwischen, dass dies einfach aufgrund seiner konfliktscheuen Art passierte. Axel war schon immer der Typ, welcher es sehr gerne allen recht machen wollte und unnötigen Diskussionen aus dem Weg ging. Außerdem waren wir beide noch sehr jung, daher ist ihm in dieser Hinsicht kein Vorwurf zu machen. Heute würde er anders zu mir stehen, wenn mich jemand in seiner Gegenwart dumm anmachen würde, das weiß ich genau.

Meine Depressionen verstärkten sich immer mehr, was sich nach außen hin in Hyperaktivität und provokantem Verhalten äußerte. Nicht nur ärgerte ich meinen Vater und nervte gelegentlich meine Lehrer durch Albernheiten, sondern richtete meinen inneren Druck auch irgendwann gegen mich selbst. Ich begann mir im Gesicht herum zu schürfen und mir die Nase mit meinem Haustürschlüssel blutig zu kratzen. Später fügte ich mir größere, flächenartige Verletzungen auf den Wangen zu. Ich schürfte dazu an einer Hauswand entlang, welche recht rau war. Solange, bis die Haut vollkommen aufgerieben war und blutete. Dieser äußerliche brennende Schmerz half mir dabei, den inneren Druck etwas zu reduzieren und kurzzeitig zu vergessen. Anfänglich erfand ich Ausreden, dass ich hingefallen wäre und ähnliches. Aber natürlich war meine Familie nicht blöd und wusste sehr bald Bescheid. Aufgrund dessen und natürlich wegen sämtlicher anderer Aspekte meines Verhaltens wurde ich erneut in ambulante Psychotherapie geschickt, bei welcher ich in den nächsten Jahren verbleiben sollte.

 

Meine neue Therapeutin war sehr nett und verständnisvoll. Heute sage ich mir, dass ich damals möglicherweise viel mehr hätte erreichen können, wenn ich die Therapie nur ernster genommen hätte. Ich redete über viele Themen und sprach auch recht offen über Dinge, welche mich belasteten, wie familiäre Probleme, Minderwertigkeitsgefühle gegenüber anderen und meine Außenseiterrolle. Allerdings neigte ich sehr dazu, mir selbst alles schöner zu reden, als es tatsächlich war und vieles zu verharmlosen, um (unnötigen?) Themen, welche mich verletzten, möglichst aus dem Weg zu gehen. Der Weg des geringsten Widerstandes war mir auch damals schon der liebste. 50 % der Therapiestunden wurden benutzt, um heimlich aufgenommene Videos von meinem armen Vater vorzuführen und mich damit bestens zu amüsieren.

Es wäre gelogen zu sagen, jene Therapie hätte mir in keinerlei Hinsicht geholfen. Sie bestärkte mich durchaus, ganz besonders wenn es darum ging, mich besser auf mich selbst zu konzentrieren. Ich brachte zum Ausdruck, wie erdrückend die ständigen Vergleiche mit anderen Menschen für mich waren und jene unbeschreiblichen Komplexe, wenn ich nicht mit jenen mithalten konnte. Ganz egal, ob es sich um einen optischen Aspekt oder eine besondere Begabung handelte. Die kleinen Erfolge der Therapie waren jedoch nicht von Dauer. Inkonsequent wie ich mein Leben lang schon war, fiel ich immer wieder in alte Muster zurück. Für die Zukunft war schon sehr bald eine stationäre Therapie im Gespräch. Dagegen sträubte ich mich jedoch sehr lange, ich wollte nicht aus meiner gewohnten Umgebung heraus.

Mit Axel hatte ich über eine gewisse Zeit kaum Kontakt. Da wir inzwischen auf verschiedene Schulen gingen (Axel besuchte die Haupt- und ich die Realschule), sahen wir uns nicht mehr täglich auf dem Pausenhof. Ich war es zuvor ja auch überwiegend, welcher auf seine Kontaktaufnahme angewiesen war, da wir von seiner Mutter aus immer noch unter „offiziellem Treffverbot“ standen. Unser Kontakt war für ein knappes Jahr, es muss so im Jahre 2006 bis 2007 gewesen sein, recht eingeschlafen. Ich fragte mich häufiger, wie es ihm denn ginge und warum er sich nicht mehr meldete. Hatte er bessere Freunde gefunden? Wir hatten uns nicht gestritten und trotzdem war der Kontakt irgendwie eingeschlafen.

Eine Zeit lang versuchte ich krampfhaft, mit den Jungs aus meiner Klasse engere Freundschaften aufzubauen, indem ich mich im Sommer mit ihnen am See zum Schwimmen verabredete. Und obwohl sie mich dort immer wieder ärgerten, indem sie meine Luftmatratze und mein aufblasbares Krokodil heimlich mit Urin füllten, meine mitgebrachten Süßigkeiten aufaßen, ohne mir etwas abzugeben und mich in der Runde mit doofen Sprüchen stichelten, ging ich immer wieder erneut mit ihnen zum See um in Gesellschaft zu sein. Tief im Inneren wusste ich ganz genau, dass ich nicht wirklich dazugehörte und im Grunde nur „anwesend“ war. Es war keine sehr feinfühlige und verständnisvolle Gesellschaft. Was mich nicht störte, aber ich war trotzdem sensibler. Ich tat so, als würden mir jene Streiche nichts ausmachen und ich stünde drüber. Irgendwie war ich tief im Inneren sogar dankbar, dass ich mit dabei sein durfte. Trotz sämtlicher Sticheleien, welche ich teilweise aus Schulzeiten bereits gewohnt war.

Irgendwann hatte ich jedoch nicht länger die Kraft, jenen Gemeinheiten standzuhalten und bevorzugte es, zuhause zu bleiben. Ich spielte häufig mit meinem Bruder Finn, welcher inzwischen auch schon in die Grundschule ging. Im Jahr zuvor hatte ich ihm bereits schon das Lesen beigebracht. Schnell zeigte sich, dass er über eine ausgeprägte Intelligenz verfügte und sehr schnell begriff. Ohnehin hatte er sich in Kindertagen schon immer sehr viel mit Dingen beschäftigt, welche teilweise über seine altersentsprechenden Fähigkeiten gingen. Finn konnte bereits im zarten Alter von 5 Jahren fließend Autobahnkarten entziffern und kannte nahezu jede wichtige Straßenabfahrt, welche wir (auch im Urlaub bei meiner Oma in Thüringen) häufiger nutzten. Ferner interessierte er sich für den Weltraum und konstruierte regelmäßig wunderschöne Kunstwerke mit Magnetkugeln und deren Verbindungsstücken. Ein IQ-Test, welchen meine Mutter in Kindertagen durchführen ließ, bestätigte seine Intelligenz.

Auch in puncto Konsolenspiele trat er schon bald in meine Fußstapfen und spielte selbst leidenschaftlich gerne an der Nintendo 64 und am Computer. Durch viele Stunden des Zusehens hatte er hierfür den benötigten Grundstein. Während mein Spiel-Eifer diesbezüglich irgendwann ab der Pubertät abflaute, legte er erst so richtig los. Bis heute ist er ein leidenschaftlicher Gamer, wenn er in freien Stunden dazu kommt.

Über den Computer meiner Mutter erstellte ich mir im Jahr 2007 einen ICQ-Account, meldete mich in einem sozialen Netzwerk für Jugendliche an und schloss online schon bald einige neue Kontakte. Und auch wenn ich mit 95 % jener Menschen niemals im wahren Leben in Kontakt kam, fühlte sich diese neue Welt so sicher und vertraut an.

Überwiegend viel war ich zu dieser Zeit bei meinen Großeltern zu Besuch, welche eine ganze Weile über wie meine besten Freunde waren. Täglich half ich ihnen im Garten, badete viele Stunden im Pool und spielte ausgiebig mit den Wildkatzen, welche durch die regelmäßigen Fütterungen meiner Großeltern bald ganz zahm wurden. Wir unternahmen regelmäßig schöne Dinge miteinander. Besuche auf dem Weihnachtsmarkt, in Museen und Gartenfachgeschäften, um nur einige zu nennen.

Einmal kam es in dieser Zeit zu einem großen Eklat, woraufhin ich eine sehr lange Zeit den Kontakt zu meinen Großeltern und meinem Vater verweigerte. Meine Großtante, meines Opas Schwester, feierte einen runden Geburtstag, zu welchem die ganze Familie väterlicherseits eingeladen war. Alle – bis auf mich. Ich durfte nicht mitkommen mit der Begründung, ich hätte doch am nächsten Tag Schule und müsse früh ins Bett. Könnte man denn nicht in diesem Fall eine Ausnahme machen, fragte ich mich. Ich bettelte viele Tage, auch an der großen Feier teilnehmen zu dürfen. Ich erinnerte mich an die runden Geburtstage meiner Großeltern, zu welchen ich ebenfalls mitkommen durfte und tolle Feiern veranstaltet wurden. Ich liebte derartige Feierlichkeiten als Kind abgöttisch. Irgendjemand fand sich immer, der sich für meine Malereien begeistern konnte, während alle anderen Erwachsenen langweilige Unterhaltungen führten. Und außerdem war stets das Essen so gut und ausgefallen …

Wenigstens mein Vater schien zu mir zu halten. Um mich zu schonen behauptete er, nicht zur Feier zu gehen, weil er ebenfalls am Folgetag aufstehen müsste. Diese Tatsache erleichterte mir die schmerzliche Erkenntnis, ausgeschlossen worden zu sein. Immerhin ging mein Vater auch nicht hin … so dachte ich zumindest.