Mordsklamm

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8

Die Fahndung nach der vermissten Ehefrau von Herrn Guggenmoos, den Hauptkommissar Kern und Jessica vor über einer Woche in dem kleinen Missener Hotel ermordet vorgefunden hatten, lief erst seit drei Tagen. Das lag vor allem daran, dass es Jessica nicht gelungen war, die Hamburger Kripobeamten von der Dringlichkeit zu überzeugen, ihr schnell ein Foto der Frau zu besorgen. Die Hauptkommissarin hatte die Hamburger Beamten schließlich regelrecht mit Anrufen bombardiert, doch ihre norddeutschen Kollegen ließen sich Zeit, die ihnen hier im Allgäu jetzt fehlte.

Jessica glaubte nach wie vor nicht daran, dass Frau Guggenmoos ihren Mann getötet hatte. Ihre Ermittlungen ergaben, dass die Verdächtige das Hotel, sollte sie geflohen sein, nur zu Fuß verlassen haben konnte. Ein Taxi hatte sie nicht genommen. Auch mit dem Bus war sie nicht gefahren, da die Buslinie 23, die durch Missen führte, aufgrund einer Straßenreparatur für mehrere Tage unterbrochen gewesen war.

Hätte Frau Guggenmoos dann nicht ihr eigenes Auto genommen, um schnellstmöglich wegzukommen? Der dunkelrote Mercedes allerdings stand noch immer vor dem Gasthof. Ihr gesamtes Gepäck befand sich im Hotelzimmer. Und die Jacke, die sie laut Auskunft des Hoteliers ständig getragen hatte, hing am Haken neben der Zimmertür. Das Einzige, was die Beamten der Spurensicherung nicht gefunden hatten, waren ihre Geldbörse und ihr Ausweis.

Hatte sie vielleicht einen Komplizen? Oder war die Frau entführt worden? Doch warum? Das Ehepaar Guggenmoos hatte keine Kinder und aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters vermutlich auch keine Eltern mehr. Eine eventuelle Lösegeldforderung machte dementsprechend keinen Sinn.

Um nähere Informationen über den finanziellen Hintergrund des Ehepaares und Auskunft über mögliche Verwandte zu bekommen, hatte sich Jessica am heutigen Vormittag erneut an die Hamburger Dienststelle gewandt, die sich um die Beschaffung des Fahndungsfotos gekümmert hatte. Sie glaubte nicht daran, dass die Hamburger Kollegen diese Aufgabe schneller erledigten als die erste.

Als bereits eine Stunde später ihr Diensttelefon klingelte und das Display eine Hamburger Nummer anzeigte, traute sie ihren Augen kaum.

»Hauptkommissarin Grothe«, meldete sich Jessica, schlug die Akte zu, die aufgeschlagen auf ihren Beinen lag, und legte sie auf die Ordner auf ihrem kleinen Schreibtisch. Außer der Tastatur und dem Bildschirm passte kaum noch etwas auf die Arbeitsfläche des winzigen Tisches.

»Jessica? Bist du das?«

Die Stimme, die ihr aus der Leitung entgegenschallte, erkannte sie nicht auf Anhieb, doch sie kam ihr bekannt vor.

Der junge Mann am anderen Ende lachte. »Jessica Grothe, Herrgott noch mal, was verschlägt dich Hamburger Deern bloß zu den Schluchtenscheißern?«

»Wer spricht denn da, bitte?«, fragte sie etwas ungehalten. »Rufen Sie an, um mir die gewünschten Informationen zu Familie Guggenmoos zu geben?«

Ihr Gesprächspartner lachte erneut. »Wenigstens hast du noch diesen süßen Hamburger Schlag in deiner Stimme und bist noch nicht total bayrisch. Ich bin’s, Malte Lübke, seines Zeichens der erfolgreichste und gut aussehendste Hauptkommissar Hamburgs!«

»Na, darüber lässt sich streiten«, bemerkte Jessica amüsiert. »Malte Lübke. Du hast deine Prüfung also doch noch bestanden?«

»Beim zweiten Versuch … mit Auszeichnung«, betonte er nicht ohne Stolz. »Beim ersten Mal hast du mich zu sehr abgelenkt.«

»Natürlich. Einer muss ja schuld sein.« Jessica stand auf und begann, in ihrem und Kerns Büro im obersten Stockwerk des Polizeipräsidiums umherzugehen. Ihr Kollege war diese Woche krankgeschrieben. »Du rufst an, um mir etwas zu meinem Fall zu sagen, oder?«

»Ja, aber zuerst will ich wissen, was dich nach Bayern verschlägt. Verstehst du deine Kollegen überhaupt, wenn die nur bayrisch sprechen?«

»Hier spricht niemand bayrisch. Ich bin im Allgäu!«, erklärte Jessica und erinnerte sich schmunzelnd daran, wie ihr Florian am Anfang ihrer Beziehung ausführlich die Unterschiede zwischen den Dialekten in Süddeutschland unterbreitet hatte und nebenbei erwähnte, dass es für einen Allgäuer das Schlimmste war, als Bayer betitelt zu werden. Umgekehrt war es vermutlich genauso. »Was ist jetzt mit den Finanzauskünften? Und wie kommt es, dass meine Anfrage heute so schnell bearbeitet wird?« Diesen Seitenhieb konnte sie sich nicht verkneifen.

»Meine Kollegen hatten Angst, dass du sonst wieder alle paar Minuten anrufst. Du warst ganz schön nervig. Aber das warst du schon immer.«

»Wie bitte? Ich habe hier einen Mordfall aufzuklären, da kann ich erwarten, dass man mir wichtige Informationen nicht vorenthält.«

Erneut hörte sie den Hamburger Hauptkommissar lachen.

»Dann wollen wir dir bei deinem Mordfall natürlich umgehend helfen«, sagte Malte Lübke und klang nun nüchtern und professionell ernsthaft. »Ich schicke dir nachher die Kontoauszüge von Hans und Renate Guggenmoos per Fax. Vorab ein paar Infos zum Familienhintergrund. Hast du etwas zu schreiben parat?«

*

Das Ehepaar Guggenmoos war weder sehr wohlhabend noch hatte es reiche Verwandtschaft. Scheinbar lebte nur noch eine kinderlose verwitwete Tante von Renate Guggenmoos. Eine 95-jährige Dame, die seit Jahren in einem schlichten Altenheim wohnte und an fortgeschrittener Demenz litt. Laut Malte Lübke erkannte sie nicht einmal mehr ihre Pfleger, die sie täglich betreuten, geschweige denn ihre Nichte Renate, die sie regelmäßig besuchte.

Die Kontoauszüge der Eheleute wiesen zwar monatliche Rentenbezüge auf und einen kleinen Betrag, der sich als Mieteinnahme einer Wohnung in Fuhlsbüttel entpuppte, aber alles in allem war das Ehepaar nicht reich. Bis auf ihre Eigentumswohnung in Blankenese und die kleine vermietete Wohnung hatten die beiden keinerlei Ersparnisse. Auch der Urlaub war nicht zufällig. Herr Guggenmoos war gebürtiger Allgäuer und besuchte einmal im Jahr das Grab seiner Eltern in Missen. Er hatte einen Bruder, eine Schwägerin und zwei Neffen, die sein Elternhaus in Börlas bewohnten.

Der Hamburger Hauptkommissar Lübke hatte gute Arbeit geleistet und Jessica sämtliche Erkenntnisse, Adressen und Bankdaten im Anschluss an ihr Telefonat sofort gefaxt.

»Mein aktueller Fall macht mich fertig«, begann Jessica beim gemeinsamen Abendessen mit Florian. »Wir haben überhaupt keine Anhaltspunkte. Der Täter hat keine Spuren hinterlassen und die Ehefrau ist nach wie vor verschwunden.« Sie schob ihren halb vollen Teller beiseite, verschränkte die Arme über dem Kopf und lehnte sich zurück.

Die Kinder waren zusammen mit ihrem Vater seit zwei Tagen in Hamburg. Florians Mutter Maria, die bei ihnen im Haus lebte, machte zusammen mit ihrer Freundin eine mehrwöchige Kreuzfahrt. Sie hatten sie heute gemeinsam zum Münchener Flughafen gebracht. Nun waren sie in dem alten Stadthaus für die nächsten Wochen allein.

»Mir geht es ähnlich. Isst du das nicht mehr?« Ohne eine Antwort abzuwarten, griff Florian nach Jessicas Teller und schob die Reste mit der Gabel auf seinen eigenen hinüber. »Ein gutes Rumpsteak darf man nicht verkommen lassen.«

»Ich bin kurz davor, den Suchradius auszuweiten. Die nähere Umgebung des Hotels in Missen haben wir bereits abgesucht, aber von der Frau fehlt jede Spur.« Sie seufzte erneut. »Ich hasse es, wenn ich keine Ideen mehr habe.«

»Glaubst du, die Frau ist auch tot?«

Jessica zuckte mit den Schultern.

Florian schob sich das letzte Stück Fleisch in den Mund, legte sein Besteck auf dem Teller ab und wischte sich wenig galant den Mund mit dem Handrücken ab. »Und wenn sie doch die Täterin ist?«

»Vielleicht. Aber warum? Ich finde einfach kein Motiv.«

»Eifersucht? Die beiden waren lange verheiratet. Eventuell hat er sie mit der Zeit so genervt, dass sie es nicht mehr ausgehalten hat. Oder er hat sie schlichtweg betrogen. Oder sie ihn«, tippte Florian, doch er verstand zu gut, wie ärgerlich es war, wenn man kein Motiv fand und nur spekulierte, was der Grund für einen Mord sein konnte.

»Wie sieht es denn bei dir aus?«, wollte Jessica wissen. »Habt ihr den Mann aus dem Sudkessel identifizieren können?«

»Nein, aber Ewe ist es tatsächlich gelungen, die DNA zu bestimmen.« Florian klang begeistert, als er ausführlich berichtete, was er inzwischen wusste. »Der tote Körper des Mannes hat mehrere Stunden in warmer Maische gelegen. Im Anschluss wurde er über zwei Stunden bei etwa 80 Grad gekocht und danach sorgte die Reinigungslauge endgültig dafür, dass die Knochen blitzblank waren und die Haut und die Organe sich fast komplett aufgelöst haben. Und trotz alldem haben Ewe und die Labortechniker im Rückenmark noch intakte DNA gefunden. Faszinierend, oder?«

»Aber ihr habt keine Vergleichsprobe, nicht wahr? Wird denn jemand vermisst, auf den die Angaben passen?« Jessica stand auf und begann die Geschirrspülmaschine einzuräumen.

»Das ist mein Problem«, gestand Florian. »Keine passenden vermissten Personen, die DNA nicht im System, nirgends Fingerabdrücke. Die ganze Brauerei war klinisch rein. Außer von Markus gab es keine Spuren. Fingerabdrücke von Herrn Lenz haben sie dagegen nur im Büro gefunden.«

»Meinst du, es war Markus?« Jessica drehte sich zu ihrem Freund um und sah ihn durchdringend an.

»Nein, nicht Markus. Sein Entsetzen war nicht gespielt, als er die Leiche gefunden hat. Aber ich habe noch ein weiteres Problem.« Er stand auf und griff nach der Pfanne, die noch auf dem Herd stand. Dann legte er sie in die Spüle und goss eine große Portion Spülmittel darauf.

»Was für ein Problem?« Jessica schloss die Klappe der Spülmaschine und schaltete das Gerät an.

»Ewe sagt, er habe nicht alle Körperteile gefunden. Es fehlen zwei Finger und ein kompletter Fuß. Wir haben alles abgesucht.«

 

»Oh je. Vielleicht hatte der Mann schon vor seinem Tod nur noch drei Finger«, sagte Jessica. »Könnte doch sein.«

»Nein, laut Ewe nicht. Die Finger sind eindeutig post mortem abgetrennt worden, wie der Fuß. Vermutlich durch das Mahlwerk im Kessel. Wann genau, also in welchem Prozess der Bierherstellung, kann man kaum sagen. Deshalb ist es schwierig zu bestimmen, ob die Teile im Treber, im Tank oder im Kanal gelandet sind. Ewe vermutet, dass es bereits vor dem Reinigungsvorgang passiert ist, weil die Bruchstellen am Knochen von dem aggressiven Reiniger ebenso stark angegriffen sind wie die restlichen Knochen, aber sicher ist er sich nicht. Wenn es so wäre, würde der Kanal wegfallen.«

»Hat man das kontaminierte Bier inzwischen nicht auch in den Kanal entsorgt?«, fragte Jessica verwirrt. »Das muss doch vernichtet werden.«

»Natürlich muss es das. Es soll Anfang nächster Woche kontrolliert aus dem Tank durch einen Filter abgelassen werden, um die eventuellen Knochenreste aufzufangen. Diesen Filter habe ich heute organisiert. Ich hoffe, er kommt morgen oder übermorgen an.«

»Verstehe. Da haben wir ja beide richtig Glück mit unseren Fällen. Scheinbar unlösbar bringt doch am meisten Spaß, oder?«

9

Hauptkommissar Forster stieg auf der Beifahrerseite des Streifenwagens aus, hielt kurz inne und rieb sich mit zwei Fingern seiner rechten Hand über die Augen.

»Soll ich allein hineingehen, Chef?«, bot Berthold an, schloss die Fahrertür und wartete, dass Florian seine Tür zuschlug, damit er das Fahrzeug mit dem Funkschlüssel verriegeln konnte.

Als der Hauptkommissar sich nicht rührte, ging Berthold um den Wagen herum und hielt seinem Vorgesetzten den Schlüssel entgegen. »Setz dich einfach wieder rein. Ich schaff das schon allein«, sagte er und konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.

»Ich komme mit«, beschloss Florian, ließ die Tür los, an der er sich festgehalten hatte, schwankte kurz und lehnte sich rückwärts gegen den Streifenwagen. »Gib mir eine Minute, Berthold.«

Ihre Befragung der Brauereibesitzer in der Umgebung des Baschtl-Bräu hatte er sich einfacher vorgestellt. Im direkten Umfeld des Tatortes gab es vier weitere Brauereien, die nach Aussage des Brauerei-Inhabers Lenz alle einige Kunden an ihn verloren hatten. Bei den Kunden handelte es sich um Gastwirtschaften, kleine Hotels und Pensionen, die ihr Bierangebot aufgrund der günstigeren Konditionen der Baschtl-Bräu-Brauerei in den letzten Jahren umgestellt hatten. Zwei Getränkemärkte in Immenstadt und Sonthofen hatten das Bier zwar ins Sortiment aufgenommen, doch ob es die anderen Biere verdrängte oder nur ein zusätzliches Angebot für die Kundschaft darstellte, konnte ihm weder Sebastian Lenz noch einer der drei bisher befragten Braumeister sagen. Dafür war das Baschtl-Bier in dieser Gegend noch nicht lange genug auf dem Markt. Um eine Antwort darauf zu bekommen, müsste er vermutlich in besagten Supermärkten direkt nachfragen, aber das schien Florian etwas übertrieben.

Die frische Luft tat ihm gut.

Unmittelbar an der Hauptstraße, die sich durch das Dorf schlängelte, stand das graue Gebäude mit der riesigen Glasfront an der Westseite. Gleich daneben diente ein steinerner Torbogen als Einfahrt. Er war zu einer Zeit gebaut worden, als noch Kutschen das Bier abholten. Die großen Sattelschlepper und Biertransporter von heute passten nicht durch das Steintor. Für sie gab es eine weitere Einfahrt etwa 50 Meter weiter hinter dem Gebäude.

Der Besucherparkplatz der Brauerei lag auf der gegenüberliegenden Straßenseite und war leicht abschüssig. Durch ein paar alte Weiden konnte man etwas entfernt, umringt von Wiesen, den Großen Alpsee sehen.

»Wie heißt denn hier der Braumeister?«, wollte Florian wissen und versuchte, mit Berthold Schritt zu halten. Sie überquerten die Straße und gingen auf das Tor zu. »Damit ich vorbereitet bin«, fügte er hinzu und bewunderte im Vorbeigehen die großen Kupferkessel des alten Sudhauses, die man durch die Glasscheibe sehen konnte.

»Der Braumeister ist ein gewisser Herr Voßkugler, der Brauereibesitzer heißt Rosenberger«, erklärte Berthold, blieb stehen und drehte sich zu dem Hauptkommissar um. »Aber das habe ich dir im Auto schon erzählt.«

»Ja, ich erinnere mich.« Florian rieb sich wieder die Augen und fuhr sich mit beiden Händen durch sein Haar. »Herrgott, Berthold. Sag mir, wie du es schaffst, das Bier abzulehnen, wenn man es dir anbietet? Ich packe auf gar keinen Fall eine weitere Maß«, jammerte er. Verstohlen spähte er durch das Tor in den Innenhof der Brauerei, doch dort war keine Menschenseele zu sehen. Vermutlich war gerade Mittagspause.

»Es gibt Männer«, begann Berthold und versuchte, nicht allzu breit zu grinsen, »die können einfach keiner Versuchung widerstehen, sagt meine ältere Schwester Angela immer. Und jetzt weiß ich auch, was sie damit meint. Du kannst nicht Nein sagen, Chef. Jedenfalls nicht zu Bier.«

»Doch, das kann ich. Ich bin schließlich im Dienst«, beschloss Florian und klang sehr überzeugt. »Sag mir nur, wie du es machst, Berthold. Du musstest noch überhaupt nichts trinken. Und mir drängen sie das Bier immer auf, obwohl ich dankend ablehne.«

Bertholds Tipps beherzigte Florian nur wenig später im Gärkeller, der im zweiten Untergeschoss der Brauerei lag. Hier war es feucht und kalt. Kondenswasser tropfte von der Decke und überzog die großen liegenden Edelstahltanks mit einer nasskalten Schicht. Schon auf der Treppe nach unten hatte er die Hände tief in die Hosentaschen geschoben. Obwohl er unten beinahe gestolpert und hingefallen wäre, weil er mit dem Fuß an einer erhöhten Türschwelle hängengeblieben war, ließ er die Hände, wo sie waren. Er schaute sich interessiert um und vermied es, den Braumeister und den Brauereibesitzer, die sich beide mit in den Keller bemüht hatten, länger als nötig anzusehen.

»Sie müssen unser Bier probieren, Herr Hauptkommissar«, sagte Herr Rosenberger, der Brauereibesitzer. »Es ist das beste hier im Allgäu. Wir sind mehrfach ausgezeichnet worden. Unser Braumeister Voßkugler ist ein wahres Genie in seinem Fach und bereits seit über 15 Jahren bei uns«, lobte der Eigentümer der Brauerei.

Florian hörte diese und ähnliche Worte bereits zum vierten Mal am heutigen Tag. Auch vier Brauereibesichtigungen hatte er inzwischen durch.

»Bitte machen Sie uns die Freude und probieren Sie selbst. Es wird Ihnen munden, Herr Hauptkommissar.« Rosenberger griff nach einem Maßkrug.

Bevor er ihn unter den kleinen Hahn halten konnte, der das Bier ausließ, schüttelte Florian heftig den Kopf. »Recht herzlichen Dank, aber wir sind im Dienst«, sagte er und wechselte schnell das Thema. »Kennen Sie Herrn Lenz, den Besitzer des Baschtl-Bräu, auch persönlich?«

»Aber klar.« Es war Braumeister Voßkugler, der die Frage beantwortete. »Wir haben einen jährlichen Stammtisch, der rotierend in jeder Brauerei im gesamten Allgäu stattfindet. Im letzten Jahr hat unser Betrieb ihn veranstaltet. Herr Lenz besucht den Stammtisch regelmäßig seit mehreren Jahren. Der Mann ist zwar sehr von sich überzeugt und etwas überheblich, aber immer höflich und versteht sich mit jedem«, fügte Voßkugler hinzu, ohne dass Florian danach fragte. »Der Vorfall in seiner Brauerei ist tragisch, doch Sie liegen mit Ihrer Vermutung falsch, Herr Forster. Das Biergeschäft ist heute nicht mehr leicht, die Absatzmärkte sind hart umkämpft. Aber wir sind die älteste Brauerei in der Region und haben eine ausreichend große Stammkundschaft, die uns die Treue hält. Ebenso geht es den anderen Brauereien in der Region. Die Baschtl-Brauerei hat nur eine kleine, unbedeutende Nische gefüllt.«

Auch diese Einschätzung hörte Florian Forster am heutigen Tag nicht zum ersten Mal. Ein Motiv für einen Mord oder auch nur einen Sabotageakt konnte er in keiner der Brauereien sehen.

»Könnte die von Ihnen erwähnte überhebliche Art des Brauereibesitzers eventuell bei irgendjemandem für Unmut gesorgt haben?«, fragte Berthold, der an der Türschwelle zum Kellerraum stehengeblieben war und bisher nur still beobachtet hatte. »Manche Menschen mögen keine Angeber«, fügte er erklärend hinzu.

Doch der Brauereibesitzer schüttelte nachdenklich den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Wer ihn nicht mag, meidet ihn. Und so schlimm ist es gar nicht mit seiner Prahlerei«, überlegte Rosenberger und schüttelte seinen Kopf erneut, dieses Mal etwas energischer.

»Na ja«, mischte sich Voßkugler ein. »Es gab da einen Vorfall auf dem letztjährigen Brauereifest in Sebastians Brauerei. Ein Gast hat ihm eine verpasst. Lenz hatte sogar eine kleine Platzwunde an der Stirn. Soviel ich weiß, hat er den Vorfall jedoch nicht angezeigt. Obwohl damals die Polizei dort war. Lenz hat gemeint, der Kerl hätte wohl zu tief ins Bierglas geschaut, und wollte nicht, dass er unnötig Scherereien bekommt.«

»Und wer war der betrunkene Schläger?«, wollte Florian wissen. Wenn der Vorfall nicht angezeigt worden war, lagen die Personalien des Angreifers im Präsidium höchstwahrscheinlich auch nicht vor.

»Das weiß ich nicht. Ich war nicht dabei, sondern habe nur davon gehört. Die Polizeibeamten sind schnell wieder abgezogen und der wütende Faustschwinger ebenso«, erklärte Voßkugler und grinste. »Betrunkene gibt es auf solchen Festen immer. Manche sind friedlich, manche rasten halt aus.«

Nach ein paar weiteren Fragen wollte Florian sich schließlich verabschieden und streckte den beiden Männern seine Hand entgegen.

Brauereibesitzer Rosenberger drückte ihm den inzwischen vollen Maßkrug in die Hand und griff nach einem zweiten. »Dann vielen Dank für Ihren Besuch in unserer Brauerei, Herr Hauptkommissar. Auf erfolgreiche Ermittlungen und dass niemals das Bier ausgehen möge in unserem schönen Allgäu. Prost!« Er schlug den Glaskrug an denjenigen des Hauptkommissars und nahm einen großen Schluck.

Einige Sekunden lang starrte Florian auf die perfekte Schaumkrone seines Bieres. Dann seufzte er ergeben und nickte. »Auf Ihre Brauerei, Herr Rosenberger. Herr Voßkugler«, wandte er sich auch an den Braumeister, »dann werde ich doch mal probieren, was Sie hier Herrliches zusammengebraut haben.«

10

Neben dem großen Edelstahltank, dem ersten an der linken Außenwand des Stallgebäudes, stand Sebastian Lenz, der Brauereibesitzer. Heute trug er das dunkelblaue Firmen-Poloshirt mit dem Brauereiemblem und eine Arbeitshose in der gleichen Farbe. Er sah besorgt aus, half aber bereitwillig mit, als sein Angestellter Markus Hubertus zusammen mit zwei Beamten der Spurensicherung den schweren Schlauch an den Ablauf des Tanks anbrachte und das andere Ende über den großen, unten offenen Behälter mit dem feinmaschigen Stahlsieb hängte.

»Sie können sich nicht vorstellen, Herr Hauptkommissar«, sagte Lenz zu Florian Forster, der mit etwas Abstand vor der Tür zum Labor die ganze Aktion beobachtete, »wie mir das alles in der Seele schmerzt. Bier in den Kanal zu lassen ist immer schrecklich, doch dieses Bier war etwas ganz Besonderes.«

»Ja, allerdings«, bemerkte der Hauptkommissar sarkastisch. »Da lag eine Leiche drin.«

Sebastian Lenz zuckte bedauernd mit den Schultern und blickte bestürzt zu Boden. »Natürlich, das stimmt. Und das ist fürchterlich«, begann er, sah dann auf und schüttelte den Kopf. »Doch abgesehen von all diesen grauenvollen Umständen war mein Bier etwas Einmaliges. Es war mein Zehnjahres-Sud, ein Jubiläumsbier, ein besonderer Sud mit einer neuen Rezeptur, die ich vor über einem Jahr entwickelt habe und die extra für den zehnjährigen Brauereigeburtstag aufgespart wurde. Dieses Bier habe ich bereits beworben und die Nachfrage war riesig. Damit wären auf einen Schlag und in kürzester Zeit ein Fünftel meiner Schulden getilgt gewesen. Und jetzt …«, er seufzte laut.

»Markus hat mir vorhin erzählt, dass ein gewisser Herr Ferdinand Köbler sich hier ein paar Wochen vor Ihrem Urlaub unheimlich aufgeführt haben soll«, wechselte Florian Forster das Thema. »Ist das der gleiche Mann, der Ihnen auf dem Fest im letzten Jahr die Platzwunde verpasst hat?«

»Ach, der Köbler«, schmunzelte Lenz und schüttelte seinen Kopf. »Der hat mir sicher keine verpasst. Der ist fast 80 Jahre alt und eigentlich ein guter Kunde. Leider etwas cholerisch veranlagt. Ich hatte Mühe, ihn wieder aus der Brauerei hinauszubefördern. Ihm gehört eine Gastwirtschaft in Sonthofen, die wir seit etwa einem Jahr beliefern.«

»Wir wären dann so weit«, hörte Florian Markus rufen, bevor er nach den genauen Umständen des cholerischen Anfalls von diesem Herrn Köbler fragen konnte. »Sollen wir den Wechsel jetzt öffnen?«

 

Der Hauptkommissar nickte. Braumeister Hubertus griff nach dem Wechsel und ließ das Bier aus dem Tank durch den Schlauch und durch das Sieb in den Kanal ab.

»Die Bierproben habt ihr genommen, oder?« Die Frage kam vom Chef persönlich. »Sie sagten, Sie bräuchten noch Proben fürs Labor«, wandte sich Lenz erneut an den Hauptkommissar.

»Ja, die Proben sind schon in meinem Auto«, antwortete Florian dem Brauereibesitzer und wies mit seiner Hand zum einzigen Fenster auf dieser Hausseite. Dahinter befand sich der Parkplatz.

»Und es ist wirklich nur in diesem Tank Bier vom Sonnenwend-Sud? Was enthalten die anderen?« Florian hatte bei seinen gestrigen Brauereibesichtigungen gelernt, dass Bier zur Lagerung gekühlt werden musste. Die zwei Tanks neben demjenigen, aus dem gerade das Bier abgelassen wurde, waren feucht von Kondenswasser. Also waren sie kälter als die Raumtemperatur und beinhalteten folglich Bier.

»In Tank fünf und sechs ist unser Helles. Das wird morgen abgefüllt und geht noch am selben Abend raus«, erklärte Lenz und wies mit dem Daumen auf das große Plakat hinter ihm direkt neben der Tür zum Büro.

»›Hüttenzau-Bier, kristallklar wie das Wasser der Starzlach‹«, las Florian vor. »Sie nehmen Wasser aus der Starzlachklamm zum Bierbrauen?«

Lenz schmunzelte. »Aber klar«, sagte er, lachte dann laut und zwinkerte dem Hauptkommissar zu. »Die Starzlach entspringt irgendwo zwischen dem Grünten und dem Wertacher Hörnle, fließt unweit von hier vorbei und mündet in die Ostrach. Wir haben einen eigenen Brunnen hinter der Brauerei und benutzen zusätzlich Stadtwasser aus der Leitung. Beides kommt ursprünglich aus den Bergen, also das Stadtwasser vermutlich auch aus der Starzlach. Wir werben nur mit Tatsachen!« Er zwinkerte erneut. »Wollen Sie unser Hüttenzau-Bier mal probieren, während wir hier warten?«

Hauptkommissar Forster schüttelte etwas zu heftig seinen Kopf und schob instinktiv beide Hände in die Hosentaschen. »Ich bin im Dienst.«

»Haben Sie denn den Treber, den Bauer Schöller abgeholt hat, inzwischen untersucht?«, wollte Lenz wissen, kam zum Hauptkommissar herüber und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand neben der Tür zu seinem Büro. »Der Treber war noch nicht an das Vieh verfüttert, nehme ich an.«

»Nein, war er nicht. Da hatten wir Glück«, sagte Florian, ohne die zwei Beamten und Markus aus den Augen zu lassen, die bisher nichts gefunden hatten. »Der Treber ist beschlagnahmt, der Container versiegelt. Wir kümmern uns darum, sobald wir diese Aktion abgeschlossen haben. Wenn wir hier keinen Erfolg haben, hoffen wir auf den Treber.«

»Verstehe. Dann drücke ich die Daumen, dass Sie etwas finden.«

Davon ging der Hauptkommissar nicht aus, obwohl er ebenfalls darauf hoffte. Dass man im Treber, also in über einer Tonne breiiger Getreidesubstanz, ein paar Knochen oder kleine Knochensplitter finden konnte, hielt er erst recht für ausgeschlossen. Dann eher noch im Bier. Aber Markus Hubertus hatte erklärt, dass die Flüssigkeit vom Sudkessel durch eine Pumpe in den Tank geleitet wurde. Diese Pumpe blockierte bei größeren Fremdkörpern. Da die Befüllung des Tanks jedoch ohne Störung verlaufen war, dürften im Bier keine Feststoffe sein.

Umso erstaunter war Florian, als jemand plötzlich rief: »Da, das könnte ein Teil eines Fußes sein!«

*

Das Gebäude schien noch vor den zwei Weltkriegen gebaut worden zu sein. Die Wände waren schief, die Decken niedrig und mit dunklen, schweren Holzbalken gestützt. Kleine Holzfenster gaben den Blick zur Straße und Richtung Westen zum hübsch dekorierten Biergarten frei, der ringsum mit einer hohen Mauer von Nebengebäuden und der Straße abgegrenzt und wunderbar schattig von der riesigen Krone eines imposanten Kastanienbaumes überspannt war.

Die Inneneinrichtung wirkte etwas altmodisch, doch sauber und einladend. Auf den Fensterbänken standen Töpfe mit frischen, üppig blühenden Pflanzen. Die Bedienungen trugen allesamt Dirndl oder Tracht und übertrumpften sich regelrecht mit Freundlichkeit und Aufmerksamkeit.

Ferdinand Köbler bildete allerdings eine krasse Ausnahme.

»So a sau-seggl-bleder Siach!«, schrie er und schwang dabei drohend seine Faust. »Der will eisr G’schäft am End no ganz himacha!«

Die wenigen Gäste, die sich im Inneren der Gastwirtschaft aufhielten, drehten sich irritiert um.

»Sie mögen den Herrn Lenz nicht. Das habe ich bereits verstanden«, sagte Florian und hob beschwichtigend die Hände. »Was hat er Ihnen denn getan? Sie haben ihn Anfang Juni in seiner Brauerei aufgesucht. Was wollten Sie von ihm?«

»Des goht di an alta Scheiß a, was i mit deam do zum Schaffa g’hett hob«, brüllte Köbler. »Au wenn du moinsch, weil vo dr Polizei bisch, du wärsch ebbs B’sonders. Mei Zuig regel i immer no ganz alloi.« Er fuchtelte wieder mit der Faust vor Florians Gesicht, machte aber keine Anstalten, ihn tatsächlich anzugreifen.

»Jetzt lass aber mal guat sei, Vattr«, mischte sich eine Frau in einem teuren dunkelgrünen Dirndl ein, griff nach der erhobenen Faust ihres Vaters, drückte sie herunter und schob den alten Herrn mit sanfter Gewalt hinter den Tresen und durch die Tür zur Küche. Dann kam sie zurück und sah den Hauptkommissar verlegen an.

»Entschuldigen Sie bitte den Auftritt vo mei’m Vattr«, sagte sie bedauernd. »Er isch manchmal a bizla schwierig.«

»Schon gut. Aber was meinte Ihr Vater denn damit, dass Lenz ihn ruinieren wolle? Gibt es Ärger mit dem Besitzer des Baschtl-Bräu?«, fragte der Hauptkommissar, setzte sich auf einen der Hocker direkt an der Theke und legte seinen linken Arm auf die glatte, frisch polierte Holzfläche des Tresens. »Ich habe auf der Speisekarte gelesen, dass Sie in Ihrer Wirtschaft fast ausschließlich Baschtl-Bier anbieten.«

»Des stimmt scho«, bestätigte die Frau, die Florian auf etwa 50 Jahre schätzte. »Mit dem Bier an sich hot’s no nie Probleme geba.«

»Und was regt Ihren Vater dann so auf?«

»Ach, dr Vattr«, lachte sie, rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn, griff über die Theke und angelte sich ein Glas Wasser, das dort stand und nur noch halb gefüllt war. »Derf i Ihnen au was anbieten, Herr Hauptkommissar? Goht natürlich aufs Haus.« Ihr letzter Satz war nur geflüstert und sie sah verstohlen zur Küchentür, als befürchtete sie, ihr Vater würde gleich wieder herausstürmen. Vermutlich mochte er es gar nicht, wenn sie Freigetränke ausschenkte.

»Vielen Dank«, winkte Florian ab und schüttelte den Kopf. »Können Sie mir sagen, wo Ihr Vater um den 21. oder 22. Juni war?«

»Wenn Sie glauben, er hat was mit dem Toten im Bier zu tun, dann irren Sie sich, Herr Forster.« Sie schmunzelte. »Dr Vattr beffzgat bloß, der hot no nie jemand bissa. Und er hot ja au eigentlich gar koin Grund, sich über dr Sebastian Lenz zum ärgra«, erklärte sie dem Hauptkommissar, nahm einen großen Schluck aus ihrem Wasserglas und platzierte es wieder hinter dem Tresen. »Er regt sich bloß so unbandig auf, weil dr Lenz im Frühjahr den Hektoliterpreis fürs Hüttenzau-Bier angehoben hat. Des Bier läuft bei uns super. Dr Vattr luagat scho seeeehr aufs Geld, aber er weiß au, dass der Preis immer no unter dem von dr Konkurrenz liegt, und er dät sich lieber an Arm abreissa, als auf des guate und vergleichsweise ginschtige Bier vom Lenz zum verzichta.«

»Der Huara-Siach isch so a Lumpabeitel, so a kreuzdepperter«, hörte Florian den Gastwirt aus der Küche fluchen. Er stand auf, lächelte und hob zum Abschied die Hand.

»Und der neugierige Polizischt kriagt koi Freibier. Koi oinzige Halbe. Hosch mi verstanda?! Mir sind doch itt bei dr Wohlfahrt!«

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