Mordsklamm

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So sehr er sich auch anstrengte, er konnte einfach nicht begreifen, warum manche Frauen ihre prügelnden Ehemänner schützten und damit riskierten, immer und immer wieder Opfer von Gewalt zu werden. Also beschloss er in diesem Moment, Frau Hildebrandt in der nächsten Woche erneut zu besuchen und dann hoffentlich auch ihren Mann anzutreffen. Wenn die Frau sich nicht selbst half, würde er es tun, indem er den Ehemann beiseitenahm und ihm verdeutlichte, was ihm drohte, wenn er weiterhin seine Frau halb totschlug. Prügelnde Männer waren meist leicht reizbar. Vielleicht gelang es ihm, Herrn Hildebrandt so zu provozieren, dass der Mann seine Hand gegen ihn erhob. Dann hätte er einen Grund, ihn aufs Revier mitzunehmen. Und wenn er ihn erst einmal im Verhörraum hatte, dann konnte er dem Kerl sagen, was er von Männern hielt, die Frauen verprügelten.

Florian dachte noch immer an seine Begegnung mit Ulrike Hildebrandt, als er bereits mit Jessica im Restaurant saß. Abwesend schaute er durch die große Panoramascheibe, ohne den atemberaubenden Blick über Kempten wahrzunehmen. Das Restaurant »Skylounge« im 13. Stock eines Geschäftshauses in der Innenstadt lieferte mit zwei komplett verglasten Seitenwänden die beste Aussicht über die Häuser der Alpenmetropole in ganz Kempten. Der wolkenlose Sommerhimmel, die strahlende Abendsonne, die üppig grünen Flächen um die Burgruine »Burghalde« im Stadtzentrum und der reflektierende Wasserspiegel der grünblauen Iller zeigten die Stadt heute von ihrer allerschönsten Seite. Doch die Gedanken ließen Florian nicht los.

»Erde an Florian«, witzelte Jessica, als er ihren dritten Versuch, ein Gespräch zu beginnen, erneut wortlos ignorierte. »Wo bist du denn? Kommst du heute noch zurück zu mir, oder soll ich mich zu anderen Gästen setzen? Ich würde mich gern unterhalten.«

»Entschuldige.« Er sah sie an und lächelte mechanisch. »Worüber willst du reden?«

»Keine Ahnung«, plapperte sie drauflos. »Egal worüber. Vorhin zum Beispiel habe ich dich gefragt, ob du nicht Lust hast, unseren Plan, das Wohnzimmer zu renovieren, endlich in die Tat umzusetzen. Vielleicht könnten wir morgen in den Baumarkt fahren und nach Wandfarbe schauen. Ein neues Sofa wäre auch super.«

Florian musterte sie durchdringend, doch sein Gesichtsausdruck war völlig unergründlich.

»Wozu?«, fragte er schließlich, ohne den starren Blick von ihr abzuwenden. »Solltest du dich nicht lieber um Wandfarbe für dein neues Wohnzimmer in Hamburg kümmern?«

Jetzt war es Jessica, deren Gesicht ausdruckslos wurde. Sie atmete mehrmals tief ein und aus, blinzelte die aufsteigenden Tränen weg und fragte: »Sollte ich?«

Florian klopfte angespannt mit dem Zeigefinger der flachen Hand auf die weiße Tischdecke, bis er sich darüber bewusst wurde. Dann nahm er seine Hand vom Tisch, legte sie unter dem Tisch auf sein Bein und ballte sie zur Faust.

»Du kennst meine Antwort, Jessy«, sagte er leise und klang verzweifelt. »Aber ich habe eine weitere Frage an dich. Was mache ich falsch?«

»Ich habe nie gesagt, dass du etwas falsch machst«, polterte Jessica. Immer wenn sie sich in die Enge gedrängt fühlte, wurde sie ungehalten und verlieh ihrer Stimme einen scharfen Unterton. Sie versteckte so ihre Unsicherheit.

»Jessy, bitte«, begann er erneut. »Wenn du mir nicht sagst, was ich ändern muss, damit du bei mir bleibst, dann werden wir uns verlieren. Ich komme allein einfach nicht darauf. Nenne es typisch männliche Engstirnigkeit, nenne es Allgäuer Machogehabe, aber ich dachte immer, du gehörst zu mir.« Er schüttelte lächelnd den Kopf, sah jedoch an ihrem Gesichtsausdruck, dass der Versuch, die Situation durch Selbstironie aufzulockern, absolut fehlschlug.

»Ich habe dir einen Heiratsantrag gemacht«, erinnerte Florian sie unnötigerweise an dieses Ereignis vor ein paar Monaten, als sie ihn wortlos hatte abblitzen lassen. »Vielleicht warst du noch nicht so weit, dann tut es mir leid. Da du nach dem schlimmen Vorfall mit deiner Schwester bei mir wohnen geblieben bist, hatte ich die Hoffnung, dass ich dir genauso viel bedeute wie du mir und du deine Zukunft mit mir teilen willst. Ich hab dich lieb, Jessy.« Als er über dem Tisch nach ihrer Hand griff, zog sie sie erschrocken weg.

»Ich würde alles dafür tun, damit du bei mir bleibst, Jessy. Aber ganz ehrlich«, Florian wurde mit jedem Wort leiser, »ich werde dich nicht aufhalten, wenn du unbedingt gehen willst.«

»Es bleibt mir doch gar nichts anderes übrig, als nach Hamburg zu gehen«, brachte sie schließlich heraus. Sie klang, als wäre sie nach einer großen körperlichen Anstrengung total außer Atem.

»Ich verstehe dich einfach nicht, Jessy. Was habe ich falsch gemacht?«, wiederholte er seine erste Frage.

Urplötzlich sprang sie auf, starrte ihn über den Tisch hinweg wütend an und verschränkte die Arme vor der Brust, vermutlich um zu verhindern, dass sie mit ihren Händen aus lauter Verzweiflung die Gläser vom Tisch fegte. »Einmal in deinem Leben«, rief sie laut, »hättest du doch dein verdammtes Ehrgefühl, deine ach so tief in deiner Seele verankerte Moral, deinen beinahe grotesken Gerechtigkeitssinn und dein dummes Heldspielen –«, sie brach ab und holte tief und hektisch Luft. »Warum meinst du immer, genau zu wissen, was gut ist für andere, für mich, für die Kinder? Einmal in deinem Leben hättest du all das außer Acht lassen können. Für mich, wenn du mich doch so sehr liebst, wie du immer behauptest«, fauchte sie verächtlich, drehte sich auf dem Absatz um und schickte sich an, das Lokal zu verlassen, ohne die durch ihren Wutausbruch aufgeschreckten und verwirrten Gäste an den anderen Tischen auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Verstehe ich das richtig, Jessy?«, rief er ihr hinterher. »Du wünschst dir, dass ich deine Schwester getötet hätte, anstatt ihr das Leben zu retten? Das wirfst du mir vor?«

»Genau das werfe ich dir vor«, schrie sie, blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihm um. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Aber das wäre falsch gewesen, Jessy. Du weißt das. Ich glaube, dass hinter diesen Vorwürfen etwas anderes steckt. Den wahren Grund willst du mir nicht nennen. Wenn du dazu bereit bist, bin ich da«, bot er an. Seine grenzenlose Verzweiflung sah man ihm nicht an.

Sie verließ das Restaurant ohne ihn. Er bezahlte das Essen und die Getränke, spendierte den etwa 20 anderen Gästen als Wiedergutmachung ein Glas Sekt, fuhr mit dem Fahrstuhl zur Tiefgarage hinunter und fand Jessica in seinem Auto sitzend. Sie hatte den Zweitschlüssel benutzt, den sie immer in ihrer Handtasche bei sich trug, genau wie er einen Schlüssel für ihren Wagen besaß.

»Geht es dir besser?«, fragte er ohne den leisesten Vorwurf in seiner Stimme, als er auf der Fahrerseite einstieg und den Schlüssel ins Zündschloss steckte.

Jessica nickte nur stumm und starrte aus dem Fenster.

»Willst du nach Hause?« Er startete den Wagen und lenkte ihn Richtung Ausfahrt.

Dieses Mal schüttelte sie den Kopf.

Die ganze Fahrt über sagte er nichts, bis er nach guten zehn Minuten sein Auto auf den Schotterparkplatz am Bachtelweiher steuerte, den Wagen parkte und den Zündschlüssel aus dem Schloss zog. »Gehst du mit mir spazieren?«

»Gern«, antwortete sie leise. »Was hältst du von Sand?«

»Ähm …« Florian dachte angestrengt nach. »Ja, Sand ist … ähm … toll. Wofür?« Er hatte keine Ahnung, was Jessica von ihm wollte.

»Sand wäre doch die perfekte Wandfarbe für unser neues Wohnzimmer, oder?« Sie lächelte zaghaft, sah dann aber, dass ihr Freund sie verständnislos anstarrte. »Die Farbe sieht aus wie der helle Sand am Nordseestrand, den ich so liebe«, erklärte sie. »Kannst du dir vorstellen, dass wir in unserem Wohnzimmer in Kempten ein bisschen norddeutsches Flair reinbringen, oder kommt das für dich gar nicht infrage?«

»In Kempten?«, brachte er schließlich heraus. »Bei mir in Kempten? Nicht in Hamburg?«

»Nicht in Hamburg.« Sie nickte zur Unterstützung ihrer Worte. »Wenn ich darf, möchte ich gern bei dir bleiben.«

4

Er kam erst am kommenden Donnerstag dazu, die von ihrem Ehemann verprügelte Frau erneut aufzusuchen. Da Ulrike Hildebrandt keine Anzeige erstattet hatte, gab es für Hauptkommissar Forster eigentlich keine Veranlassung, in diesem Fall zu ermitteln. Doch die Sache ließ ihm keine Ruhe. Also fuhr er nach Feierabend zum Haus der Hildebrandts und klingelte kurz vor 18 Uhr an der Haustür. Sein Kollege Berthold begleitete ihn, stand neben ihm und drehte sich immer wieder nervös um.

»Was ist denn mit dir los, Berthold?«, fragte Florian amüsiert und klingelte erneut, als nach fast einer Minute niemand geöffnet hatte.

»Es ist verdammt einsam hier draußen«, flüsterte Berthold angespannt. Das Haus lag weitab am Waldrand in Durach. Das nächste Haus war 100 Meter entfernt. »Wer weiß, ob der Ehemann hier irgendwo rumhängt. Dem passt es bestimmt nicht, dass wir da sind.«

»Aber wir sind doch zu zweit, Berthold«, lachte Florian Forster und klopfte seinem Kollegen aufmunternd an den Oberarm. »Der hat gegen uns beide gar keine Chance.«

Dass er sich mit dieser Aussage etwas zu weit aus dem Fenster lehnte, konnte Florian in diesem Moment noch nicht wissen. Als die Tür aufging, blieb ihm das Lachen jedoch im Hals stecken.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Mann auf der anderen Seite der Türschwelle. »Warum klingeln Sie ununterbrochen? Ich versuche, meine Tochter ins Bett zu bringen.«

Erst jetzt bemerkte der Hauptkommissar das Baby auf dem Arm des Mannes. Es wirkte auf dem muskulösen Unterarm von Herrn Hildebrandt so klein und unscheinbar, dass Florian es zuerst übersehen hatte. Der Mann war riesig. Zwar vermutlich etwas kleiner als Berthold, der mit seinen über zwei Metern Körpergröße jeden überragte, den Florian kannte, doch dieser Hildebrandt war beinahe so breit wie hoch. Ein riesiger Berg purer Muskelmasse. Die Oberarme könnte Florian mit seinen Händen nicht umgreifen. Kiefer- und Wangenknochen zeichneten sich in seinem Gesicht deutlich ab, die Augen waren dunkel, wirkten fast schwarz. Er trug einen Dreitagebart, und seine etwas zu langen Haare waren ungekämmt, aber er wirkte keinesfalls ungepflegt, nur etwas gestresst. Der Mann war höflich und sah erschreckenderweise sogar sehr freundlich aus.

 

»Kripo Kempten, Hauptkommissar Forster«, stellte Florian sich vor und zog seinen Dienstausweis aus der Hosentasche. »Ich und mein Kollege Willig wollten uns noch einmal nach Ihrer Frau erkundigen. Immerhin war sie schwer verletzt.«

Herr Hildebrandt sah ihn völlig verdattert an. »Das verstehe ich nicht«, begann er, verlagerte den kleinen Körper seiner Tochter vom einen auf den anderen Arm und bat die zwei Beamten mit einer ausladenden Handbewegung ins Haus und in die Küche. »Ulrike ist doch nur die Treppe hinuntergefallen. Woher wissen Sie denn von ihrem Unfall?« Er setzte sich auf die Eckbank unter dem Fenster.

»Unfall«, platzte Florian verächtlich heraus, fing sich aber schnell wieder. »Ihre Frau war letzte Woche im Krankenhaus und eine der Krankenschwestern hat aufgrund der vielen alten Verletzungen die Kripo eingeschaltet, wegen Verdachts auf häusliche …«

»Aber das verstehe ich nicht«, wiederholte der Ehemann und legte seine inzwischen schlafende Tochter neben sich auf ein großes Kissen auf der Eckbank und seine große Hand auf den Bauch des Babys, damit es nicht hinunterfallen konnte. »Ulrike war im Krankenhaus? Davon wusste ich nichts. War die Verletzung so schlimm?«

»Das müssten Sie am besten wissen, Herr Hildebrandt. Wo ist Ihre Frau jetzt? Ich würde mich gern davon überzeugen, dass es ihr gut geht.«

»Sie schläft schon. Es war ein anstrengender Tag«, sagte Herr Hildebrandt und fügte nach kurzem Zögern hinzu: »Sie glauben, ich habe meine Frau die Treppe hinuntergestoßen?« Er sah verzweifelt aus.

»Nein«, erwiderte der Hauptkommissar, zog einen der Stühle unter dem Tisch hervor, drehte ihn um und platzierte ihn direkt neben dem Mann. Dann setzte er sich, die Rückenlehne zwischen seinen Beinen, und legte die verschränkten Arme auf das kunstvoll geschwungene und mit Blumen verzierte Holz der Lehne. »Ich glaube, Sie benutzen Ihre Ehefrau regelmäßig als Punchingball. Sie hat so große Angst vor Ihnen, dass sie Sie nicht anzeigt. Doch lassen Sie sich eins von mir sagen: Ich verachte Männer, die ihre Frauen verprügeln, und ich werde alles in meiner Macht Stehende dafür tun, Sie hinter Gitter zu bringen. Und jetzt möchte ich mit Ihrer Frau sprechen, Herr Hildebrandt.«

»Nein«, hielt der Familienvater dagegen, wenn auch sehr leise. Er wirkte plötzlich gar nicht mehr groß und gefährlich, sondern war mit leerem, traurigem Blick verzweifelt in sich zusammengesunken. »Meine Frau schläft. Kommen Sie bitte morgen wieder, Herr Hauptkommissar. Ich bringe jetzt meine Tochter ins Bett.«

Da sie keine rechtliche Grundlage hatten, das Gebäude zu durchsuchen oder mit der verletzten Frau zu sprechen, mussten Hauptkommissar Forster und sein Kollege Willig das Haus und das Grundstück verlassen. Florian war mehr als frustriert. Außerdem befürchtete er, die junge Ehefrau mit seinen zurzeit völlig haltlosen Behauptungen und der Drohung gegen diesen Hildebrandt erst recht in Gefahr gebracht zu haben. Was, wenn der Mann nun aus unterdrückter Wut erneut auf seine Frau losging? Ob er sich auch an dem kleinen Kind vergriff? Oder war er tatsächlich so friedlich, wie er sich gab? Vielleicht war die Frau wirklich nur die Treppe hinuntergefallen? Dem Aussehen ihrer Verletzungen nach zu urteilen, war das allerdings nahezu unmöglich. Es sei denn, ein solcher Treppensturz kam bei ihr häufiger vor.

Als Florian gegen 20 Uhr endlich die Haustür des alten Stadthauses aufschloss, in dem er mit ein paar Jahren Unterbrechung seit seiner Geburt lebte, stolperte er im Flur beinahe über die drei großen Rucksäcke, die für den morgigen Ausflug mit Herbert, Jessica und den Kindern fertig gepackt bereitstanden. Herbert hatte seinen Besuch um zwei weitere Wochen verlängert und würde im Anschluss die beiden Kinder zu Beginn der Sommerferien für drei Wochen mit nach Hamburg nehmen.

Florian und Jessica hatten sich für morgen freigenommen. Der Ausflug war eine Art Abschiedserlebnis mit der gesamten Familie, denn zu einem späteren Zeitpunkt gab es keine Möglichkeit für die beiden Hauptkommissare, einen gemeinsamen freien Tag zu bekommen. Es war Urlaubszeit.

»Ich habe endlich eine gute Idee für Samstagabend«, begrüßte ihn Jessica und zog ihn ins Wohnzimmer. Da ihr Vater noch vor Ort war, wollten Florian und sie am Samstag ihren gemeinsamen Abend von letzter Woche wiederholen. Seit ihrem Streit in der »Skylounge« war sie wie ausgewechselt. Florian wusste aber, dass sich ihr Gemütszustand schnell wieder ändern konnte. Auch war ihm nach wie vor nicht klar, was ihr solchen Stress gemacht hatte und vermutlich immer noch machte. Oder hatte sich ihr eigentliches Problem plötzlich in Luft aufgelöst?

»Na, dann sag. Wo geht es am Samstag hin?« Er hatte ihr die Entscheidung überlassen, und der Grund dafür war mehr als selbstsüchtig, das wusste er. Doch er brauchte nach all ihren Zurückweisungen und Anschuldigungen der letzten Wochen und Monate endlich die Bestätigung, dass ihr etwas an ihrer gemeinsamen Beziehung lag, dass er für sie wichtig war und nicht austauschbar oder gar auslöschbar.

»Die Brauerei Baschtl-Bräu bei Sonthofen feiert ihr jährliches Sommersonnenwend-Fest und ihr zehnjähriges Jubiläum. Dort könnten wir hingehen«, schlug sie vor. »Du trinkst doch gern Bier. Und das Wetter soll super werden am Wochenende.«

»Okay, dann machen wir das. Kommt Paula mit?«

»Ich habe sie noch nicht gefragt«, gab Jessica zu. »Sie hat einen neuen Freund und ich wusste nicht, ob es dir recht ist. Immerhin ist das unser Abend.« Sie sah ihn etwas unsicher an.

Hatte sie die gleiche Angst davor, mit ihm allein den Abend zu verbringen, wie er? Einen solchen Ausbruch wie letzte Woche wollte er so schnell nicht noch einmal erleben. »Frag sie. Und sie soll den Typen mitbringen, den sie sich geangelt hat. Ich frage noch Ewe. Wird bestimmt lustig.«

5

Die Landschaft war atemberaubend.

Das satte Grün der Wiesen leuchtete mit dem strahlenden Blau des Himmels um die Wette. Keine einzige Wolke war zu sehen und die Sonne stand so hoch, dass nicht einmal der imposante Grünten, der sich direkt vor ihnen erhob, viel Schatten auf die malerische Landschaft werfen konnte. Es war das perfekte Wetter für einen Biergartenbesuch, und schon von Weitem konnte man die Blaskapelle und das Lachen der Gäste hören, die am Brauereifest teilnahmen.

Der Weg zum Brauereigelände war einspurig asphaltiert und führte stetig bergauf. Unten hatten die Veranstalter eine Straßensperre und einen kleinen Parkplatz errichtet, um die Gäste davon abzuhalten, mit ihrem Auto direkt zur Brauerei hochzufahren, denn auf dem Brauereiparkplatz neben dem Gebäude waren Bierbänke und Sonnenschirme aufgestellt. Eine Bühne für die Kapelle und ein Bierausschank standen direkt an der Hauswand.

Doch der kleine Parkplatz auf der frisch gemähten Wiese neben der Absperrung war total überfüllt gewesen, als Florian und Jessica ankamen. Sie und Jessicas Freundin Paula mitsamt ihrem neuen Freund hatten aber neben der Burgberger Pfarrkirche noch eine Lücke fürs Auto gefunden. Zum Glück, denn ansonsten hätten sie auf einen der zusätzlich eingerichteten Pendelparkplätze in Blaichach oder Sonthofen ausweichen und auf den Bus warten müssen.

»Warum siehst du mich immer so komisch an?« Jessica zupfte etwas unsicher am Ausschnitt ihres Dirndls herum und blickte verstohlen zu Paula, die es mit ihrem eigenen Dirndl wieder sehr übertrieben hatte. Manchmal dachte Jessica, Paula könnte gleich nackt herumlaufen, das machte kaum einen Unterschied. Obwohl sie selbst in ihrem Dirndl lange nicht so viel Haut und Brust zeigte wie Paula, fühlte sie sich unwohl, auch weil Florian sie nicht aus den Augen ließ.

»Du hast keine Ahnung, wie sexy du aussiehst«, flüsterte Florian ihr ins Ohr, drehte sie zu sich herum und sah ihr tief in die Augen. »Meinetwegen kannst du öfter Dirndl tragen.«

»Ich komme mir darin total verkleidet vor«, gab Jessica zu. »In Norddeutschland sind die Trachtenkleider wesentlich sittsamer. Hochgeschlossen und lang.« Sie wies mit ihrer Hand zuerst auf ihren Hals, um kurz darauf auf ihre Füße zu zeigen. »Richtig lang, fast bis zum Boden.«

»Im Norden gibt es Tracht?«, fragte er, schien aber nicht wirklich interessiert, denn jetzt zog er seine Freundin ganz nah an sich und legte seine Hände auf ihren Hintern. »Herr im Himmel, du siehst nicht nur verdammt heiß aus, du fühlst dich auch gut an. Und du riechst sehr verführerisch.«

»Da drüben wird ein Tisch frei«, hörte er Paula rufen. »Schnell, sonst schnappt sich den ein anderer.« Paula griff nach der Hand ihres Begleiters und lief los, so schnell es in ihren Sandalen mit den hohen Absätzen ging.

Jemand tippte Florian von hinten auf die Schulter.

»Florian? Du hier? Das ist eine Überraschung.« Ein junger Mann in einem dunkelblauen Poloshirt mit dem Logo der Brauerei baute sich grinsend neben Florian auf, der sichtlich genervt von der Störung ein etwas mürrisches Gesicht zog und sich ärgerlich zu dem Störenfried umdrehte. Doch seine Miene änderte sich schlagartig, als er ihn erkannte.

»Hubi? Markus Hubertus? Dich habe ich ja ewig nicht gesehen! Arbeitest du hier?« Florian ließ Jessica los, gab dem Mann seine Hand und klopfte ihm gleichzeitig mit der Linken auf seinen rechten Oberarm. »Wie lange ist das her? Fast 20 Jahre?«

»Mindestens. Wir haben zusammen Abitur gemacht, vor einer halben Ewigkeit«, wandte sich der Brauereimitarbeiter jetzt an Jessica und streckte ihr seine Hand entgegen. »Markus Hubertus«, stellte er sich vor. »Willkommen im Baschtl-Bräu! Ich bin hier der Braumeister.«

»Freut mich. Jessica Grothe.« Jessica nahm Hubertus’ Hand und lächelte herausfordernd. »Wenn man schon einmal einen Braumeister persönlich trifft, kann man dann vielleicht einen Blick in die Brauerei werfen? Das würde mich durchaus interessieren.«

»Klar. Gern. Nur gehen wir dann am besten hinten rein. Die offiziellen Führungen beginnen erst am Nachmittag. Nicht, dass plötzlich jeder Gast jetzt schon eine haben möchte.« Florians alter Schulfreund legte seinen Arm wie selbstverständlich um die Schultern von Jessica und schob Florian mit der freien Hand an dessen Rücken vor sich her und um das große Stallgebäude herum, an dessen Front in großen Lettern der Name der Brauerei angebracht war.

»Das Baschtl-Bräu ist erst vor gut einem Jahr hierher umgezogen«, erklärte er, während er den Nebeneingang, der sich genau gegenüber der Festgesellschaft auf der anderen Seite des Gebäudes befand, aufschloss und seine Gäste schnell hineinschob. »Vorher waren wir neun Jahre in einem kleinen Hinterhof einer alten Gastwirtschaft bei Immenstadt beheimatet.«

»Wow«, platzte Jessica heraus, als Markus das Licht einschaltete und der riesige, fensterlose Raum plötzlich erstrahlte. »Diese Dinger sind ja gigantisch groß. Ist da das Bier drin?«

»Das sind unsere ZKTs – zylindrokonische Tanks«, erklärte Markus und lachte. »Dort gärt und reift das Bier, bevor es später abgefüllt wird. Dort hinten ist die Fass- und die Flaschenabfüllung.« Er zeigte auf eine Maschine am anderen Ende der Halle. »Und da sagt Mann immer, es komme Frauen nicht auf die Größe an. ›Gigantisch groß‹«, wiederholte er Jessicas Worte, allerdings sehr leise und nur an Florian gerichtet. Jessica bekam von dem Gespräch nichts mit, und Florian sah den Braumeister so bitterböse an, dass dieser erneut heftig lachen musste.

»Und wo wird das Bier gemacht?« Jessica wirkte aufgeregt. »Ich habe mal gehört, dass man Bier in großen Kupferkesseln kocht, weil Kupfer Eigenschaften hat, die für die Bierherstellung von Vorteil sind.«

»Diese Behauptung ist nach heutigem Stand der Wissenschaft so nicht mehr tragbar«, erklärte der Braumeister, der sich sichtlich geschmeichelt fühlte, dass Jessica Interesse an seiner Arbeit zeigte. Er legte erneut den Arm um ihre Schultern und ging mit ihr zwischen den meterhohen, silber glänzenden Tanks umher. »Heutzutage nimmt man Kessel aus Edelstahl. Die sind leichter zu reinigen und deshalb hygienischer. Außerdem haben sie die gleichen positiven Eigenschaften wie Kupfer. Die negativen entfallen sogar, zum Beispiel –«

 

»Ich bin eigentlich hier, um Bier zu trinken«, fiel Florian seinem alten Schulfreund ins Wort. »Und von meiner Freundin lässt du die Finger. Du hast dich in der Hinsicht wohl nicht geändert. Schon damals in der Schule hast du uns allen reihenweise die Mädels ausgespannt.«

Der Braumeister hob ertappt beide Hände in die Luft und grinste. »Wenn du hier im Allgäu mit einer solchen exotischen Schönheit ankommst, darfst du dich nicht wundern, Flo. Wo bist du denn her?«, wandte er sich erneut an Jessica. »Ich mag es, wie du sprichst.«

»Ich komme aus Hamburg und ich spreche hochdeutsch«, lachte Jessica. »Nichts Besonderes also.«

»Hier schon. Vor allem hier auf dem Land«, behauptete Markus. »Eine kühle Norddeutsche also.« Er grinste breit. »Dann trinkst du vermutlich lieber Pils als gutes Allgäuer Bier. Aber möglicherweise kann ich dich mit unserem Sommersonnenwend-Sud vom Gegenteil und von meinen ganz persönlichen Fähigkeiten überzeugen.«

»Sehr witzig, Markus«, grummelte Florian gereizt. »Sind wir hier fertig? Unsere Freunde warten draußen.«

»Die Sudkessel, Florian. Wir müssen uns noch die Sudkessel aus Edelstahl ansehen«, erinnerte ihn Jessica und sah erwartungsvoll zum Braumeister.

»Auf jeden Fall«, stimmte Markus Hubertus ihr zu und ließ Florians Freundin nicht eine Sekunde aus den Augen. »Das Sudhaus ist dort hinter der Tür.«