Schwingungswelten

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Schwingungswelten
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Melinde Manner

Schwingungswelten

Ein spiritueller Roman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Iain Thomas

Wieder zu Hause

Ein neuer Plan

Schwierige Entscheidung

Ein wichtiger Austausch

Robert und Karl

Der Entschluss

Schuldgefühle

Die Kündigung

Die Arbeit beginnt

Innere Recherche

Der erste Kampf

Nie wieder

Mittendrin

Veränderungen

Heilung

Neue Beziehungen

Besser sein als gestern

Eine Möglichkeit wird real

Neale Donald Walsch

Über die Autorin:

Quellenverzeichnis

Impressum neobooks

Iain Thomas

Und jeden Tag zerrt die Welt an deiner Hand und schreit: „Das ist wichtig! Und das ist wichtig! Darüber musst du dir Gedanken machen! Und darüber! Und darüber!“

Und an jedem Tag liegt es an dir, deine Hand zurückzuziehen, sie auf dein Herz zu legen und zu sagen: „Nein. Das ist wichtig.“

Iain Thomas

Wieder zu Hause

Es ist Montag kurz nach 9.00 Uhr. Valentin steigt in das wartende Taxi und teilt dem Fahrer die Adresse zu seiner Wohnung mit. Bis auf einen kleinen Rucksack hat er nichts dabei. Am Wochenende hatte er Ausgang und bei dieser Gelegenheit sein gesamtes Gepäck nach Hause gebracht.

Der Februar ist bald zu Ende. Dennoch scheint die Sonne wie an einem Frühlingstag. Er sollte sich freuen. Doch etwas Schweres liegt auf seinem Herzen. Das spürt er. Und er weiß genau, was es ist. Er hat keine Vorstellung, wie sein weiteres Leben aussehen soll. Ja, es ist die Angst, die sein Herz zuschnürt und ihm fast den Atem raubt.

Nach drei Monaten Aufenthalt im Bezirkskrankenhaus kann er zwar Basteln, Malen und sogar das Buchbinden hat er erlernt, aber die Gesprächstherapie half ihm nicht weiter. Dennoch: Hin und wieder blitzten damals ein paar Ideen auf, über die er nachdenken sollte.

Plötzlich wird er aus seinen Gedanken gerissen. "Haben Sie jemanden besucht?", fragt der Taxifahrer.

Er wird nie verstehen, warum manche Menschen sich gezwungen fühlen, einen Smalltalk zu beginnen. Das war ihm schon immer fremd. Entweder man hat etwas zu sagen oder nicht.

"Ja, einen Freund. Er hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Jetzt sitzt er im BKH fest."

"Das ist traurig.", meint der Taxifahrer. "Schön, dass er einen Freund hat, der für ihn da ist."

Valentin schaut wortlos aus dem Fenster. Die Fahrt wird dauern und er hofft, ohne Unterhaltung die Zeit hinter sich zu bringen.

Was hat der Taxifahrer erwartet? Dass er ihm erzählt, er wäre derjenige gewesen, der versucht hat, sich das Leben zu nehmen? Unmerklich schüttelt er den Kopf und zieht in der Hoffnung, nicht mehr angesprochen zu werden, sein Handy aus der Tasche und öffnet wahllos einige Apps, nur um sie anschließend gleich wieder zu schließen. Und es funktioniert. Er wirkt beschäftigt.

Als das Taxi nach 45 Minuten an der angegebenen Adresse hält, atmet er erleichtert auf. Er gibt dem Fahrer etwas Trinkgeld und betritt die dreistöckige Wohneinheit, in der er eine Eigentumswohnung besitzt.

Er läuft die Treppen zu seiner Wohnung im zweiten Stock hinauf, nimmt sich vom Sofa eine Decke und eilt auf den Balkon hinaus. Er setzt sich in den Liegestuhl, lässt die Lehne nach hinten kippen, legt die Beine hoch und atmet ein paarmal tief durch.

Seine Einkäufe hat er am Wochenende bereits erledigt; es ist alles da, was er braucht.

Was ihm fehlt, ist das Vertrauen, dass es weitergeht. Wie man im Bezirkskrankenhaus empfohlen hat, ließ er sich für eine ambulante Therapie auf die Warteliste setzen. Dass er aber bis zu einem halben Jahr oder noch länger auf einen freien Platz warten muss, stärkt seine Zuversicht nicht gerade.

Ob es die Anspannung war, die plötzlich von ihm fiel, oder die Nebenwirkungen der Antidepressiva, kann er später nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber er fällt in einen unruhigen Schlaf und wacht erst am frühen Nachmittag auf.

Mit einem weißen Tee in der Hand setzt sich Valentin an seinen Laptop und recherchiert.

Er hat nicht vor, in seinem alten Beruf weiterzuarbeiten. Dazu ist in der Zwischenzeit zu viel passiert. Während seiner Therapie wuchs in ihm der Wunsch, Physiotherapeut zu werden. Heimlich beobachtete er bei der Sporttherapie den Physiotherapeuten. Er schien Spaß an seinem Beruf zu haben. Selbst wenn er sich um Verletzungen kümmerte, merkte man ihm die Freude an der Arbeit an.

Valentin denkt an die Zeit in der Realschule zurück. Er war ein begeisterter Sportler und hat mehrere Wettkämpfe im Langstreckenlauf gewonnen. Sein damaliger Sportlehrer brachte ihm während des Trainings fundierte anatomische Kenntnisse bei. Er würde genügend Vorkenntnisse mitbringen.

Ganz plötzlich schweifen seine Gedanken ab. Sie gehen zurück zu damals, als seine Welt halbwegs in Ordnung war und er den Sohn seines Schultrainers kennenlernte. Es entstand zwischen ihm und Robert eine Freundschaft, die ihn in jenen Tagen bereicherte. Sie joggten gemeinsam, rasten mit dem Mountainbike erklommene Berge wieder herunter und irgendwann – wie in einem schlechten Hollywoodfilm – verliebten sie sich in dasselbe Mädchen.

Er schmunzelt bei dem Gedanken an Clarissa. Sie hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er, Valentin, nicht der Auserwählte war. Aber sie hatte eine nette Art, mit ihm umzugehen und sich nie zwischen ihn und Robert gestellt. Lange Zeit waren sie als Trio unterwegs. Heute, 17 Jahre später, erinnert er sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht.

Die Traurigkeit darüber lässt ihn wieder in die Gegenwart zurückkehren.

Er nimmt genüsslich einen Schluck Tee, gibt im Suchfeld seines Browsers "Ausbildung zum Physiotherapeuten" ein und klickt sich durch die Seiten. Als er knapp zwei Stunden später seine Recherchen beendet, hat er eine klare Vorstellung vom Ausbildungsablauf und Berufsbild. Er ist sogar auf eine Privatschule gestoßen, die bequem zu Fuß erreichbar ist.

Die monatlichen Gebühren werden zwar seine Ersparnisse schmälern, ihm aber auch neue Türen öffnen, hofft Valentin.

Sein Herz macht einen Sprung und für einen Moment, den er tief in sich verankert, geht er in einem Gefühl voller Dankbarkeit auf. Er muss sich um das Finanzielle nicht sorgen. Als seine Eltern vor 3 Jahren ihren Bauernhof verkauften, zahlten sie ihm und seiner Schwester das Erbe vorzeitig aus.

Valentin merkt, dass er wieder abzuschweifen droht und beschließt, sich zu einer Runde Joggen aufzumachen. Er zieht sich schnell um, steckt seinen MP3-Spieler ein und verlässt mit dem Gefühl, etwas erreicht zu haben, die Wohnung.

Ein neuer Plan

Am nächsten Tag wacht Valentin auf. Es ist schon 8.30 Uhr. Er bleibt im Bett und sieht aus dem Fenster.

Ein grauer Tag, wie meine Seele, denkt er sich.

Es kostet ihn Überwindung, aufzustehen. Mühsam schleppt er sich in die Küche, macht seinen Tee fertig, eilt unter die Dusche und setzt sich trotz der Kälte hinaus auf den Balkon.

Er nimmt das Zwitschern der Vögel wahr. In der Ferne hört er den Verkehrslärm und es gehen ihm all die Menschen, die jetzt zur Arbeit hasten, durch den Kopf. Er fragt sich, wie es wohl allen geht. Wie sie es schaffen, einen Weg zu finden, um nicht in einem Loch zu versinken, das so tief ist, dass man nicht mehr herauskommt.

Was kann ich anders machen, fragt er sich.

Es ist ihm klar: Wenn er jetzt nichts unternimmt, wird er sich nur wieder in Grübeleien verlieren und alles schweifen lassen.

 

Ich hole mir zumindest die Anmeldeformulare ab, nimmt sich Valentin vor.

Seine Laufstrecke hat er gestern bewusst anders gewählt, um an der physiotherapeutischen Schule vorbeizukommen. Auf seinem Weg vergewisserte er sich, dass das Sekretariat, wie auf der Homepage angegeben, täglich von 9 bis 11.30 Uhr für den Parteiverkehr offen ist.

Valentin zieht sich an und marschiert entschlossen in Richtung Schule. Als er ankommt, sieht er jemanden vor der Eingangstür stehen. Etwas verunsichert tritt er näher und entdeckt den beschrifteten Zettel "Komme gleich".

"Dauert bestimmt nicht lange", sagt der Mann. Valentin nickt und ist unschlüssig, ob er stehenbleiben oder auf- und abgehen soll.

Bevor er zu einer Entscheidung kommt, spricht ihn dieser wieder an. "Möchten Sie sich Informationen holen oder anmelden?"

"Eigentlich habe ich mich schon online informiert. Ich weiß nur nicht, ob das reicht. Das wollte ich eben nachfragen und mir auch gleich die Anmeldeformulare mitnehmen."

"Das werden Sie sicher erfahren. Ich habe mich schon mit einigen Schülern unterhalten: Sie treffen ganz sicher eine gute Wahl, wenn Sie sich für diese Schule entscheiden."

"Die Frage ist, ob ich überhaupt die richtige Entscheidung treffe, nicht nur, was die Schule als solche betrifft", rutscht es Valentin heraus.

"Sie meinen, dass die Entscheidung, eine neue Ausbildung zu machen, falsch sein könnte? Oder ob Sie speziell diese Ausbildung machen sollen?"

"Beides."

"Kann ich gut nachvollziehen. Ich war 36, als ich mich entschlossen habe, hier nebenan in der Volkshochschule eine Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondent zu beginnen. Und jetzt arbeite ich dort. Als Lehrer für Spanisch und Italienisch. Das war damals keine leichte Entscheidung. Da gehen einem viele Gedanken durch den Kopf."

Eine Flut voller Emotionen, die er so schnell nicht einzuordnen weiß, überrollt Valentin und verschlägt ihm die Sprache. Bevor er sich wieder sammeln kann, sieht er die Sekretärin durch die Scheibe der Eingangstür. Sie nimmt das Schild "Komme gleich" weg, entschuldigt sich und bittet die beiden hinein.

"So, junger Mann, was kann ich für Sie tun?"

Verunsichert schaut Valentin zum Volkshochschullehrer; dieser war zuerst da.

"Ich bin privat hier. Erledigen Sie nur, warum Sie hier sind. Ich kann auch gern draußen warten, wenn Ihnen das lieber ist".

"Nein, bitte, das ist nicht nötig."

Valentin wendet sich der Sekretärin zu. "Könnte ich bitte die Anmeldeformulare haben?"

Sie reicht ihm die Unterlagen, dazu einige Broschüren und sieht ihn geduldig an.

"Hier ist alles dabei, was ich brauche und wissen muss?"

"Ja. Sehen Sie sich zu Hause alles in Ruhe an und falls Sie Fragen haben, kommen Sie vorbei oder rufen Sie an. Beachten Sie bitte, dass die Anmeldefrist am 30. März endet. Wenn Sie sie versäumen, ist eine Anmeldung erst nächstes Jahr wieder möglich."

"Ja, danke, mach ich. Auf Wiedersehen!"

Valentin verlässt gedankenverloren das Sekretariat. Das Bedürfnis, nochmal mit dem Lehrer zu sprechen, lässt ihn vor der Eingangstür förmlich festwachsen.

Aber auf einmal kann er keinen klaren Gedanken fassen, nimmt alles um sich sehr intensiv und in Zeitlupe wahr; er hört sein Herz schlagen. Nein, nicht nur schlagen, es pocht. Es pocht ganz wild. Er kommt sich wie ein Beobachter vor, der alles aus der Ferne wahrnimmt. Valentin kennt dieses Gefühl. Er hat Angst. Oder sogar Panik. Obwohl er nicht weiß, wovor; er hat ja nicht einmal einen klaren Plan, was er diesen Mann fragen will.

Aus der Ferne hört er eine Stimme. Er braucht ein bisschen, aber dann schafft er es, sich auf diese zu konzentrieren.

"Bitte?", fragt Valentin, um ein ein wenig Zeit zu gewinnen.

"Sie überlegen noch? Oder haben Sie etwas vergessen? Sie sehen etwas blass aus. Kommen Sie, setzen wir uns kurz auf die Bank da vorne." Behutsam legt ihm der Mann die Hand auf die Schulter und führt ihn zur Bank.

"Ich heiße Silvio."

Die Welt um Valentin rückt wieder näher und verliert allmählich ihre vermeintliche Bedrohlichkeit. Er atmet tief durch und merkt, dass sich sein Körper entspannt. In der Therapie hat man ihm gesagt, er solle auf eine gleichmäßige langsame Atmung achten, wenn ihn Panik erfasst.

Gut, das hat er jetzt geschafft. Er überlegt kurz, was er zuletzt gehört hat.

"Silvio?", fragt er.

"Ja, Silvio. Ich bin zwar kein Italiener, sondern Spanier, aber meine Eltern fanden Gefallen an diesem Namen."

Es entsteht eine Stille zwischen den beiden. Für Valentin scheint sie eine Ewigkeit zu dauern, in der er sich nicht sicher ist, was er sagen könnte.

"Danke, mir ist etwas schwindlig geworden", sagt er, um die Stille zu unterbrechen.

"Haben Sie etwas vergessen, weil Sie vor dem Eingang gewartet haben?"

"Nein, ehrlich gesagt, hätte ich gern mehr darüber gehört, wie Sie Ihre Entscheidung getroffen haben. Ich meine, als Sie sich entschlossen haben, die Ausbildung zu machen. Sie sagten, Sie waren damals 36. Ich bin jetzt 34. Und ich habe ehrlich gesagt Zweifel, ob ich es mir in diesem Alter leisten kann, mich zu verzetteln."

Eines gelang ihm stets mühelos: Vom eigentlichen Problem abzulenken. Das war Valentin bewusst. Irgendetwas vorzuschieben, nur um nicht die Wahrheit sagen zu müssen und um sich nicht dafür zu schämen, wer er wirklich war.

"Sie haben Zweifel. Aber Sie scheinen sich sicher zu sein, dass Sie dort, wo und als was Sie gearbeitet haben, nicht mehr zurückwollen. Oder?"

"Das ist allerdings wahr."

"Nun, was wollen Sie denn stattdessen? Wo und als was wollen Sie arbeiten?"

"Das hier will ich. Genau das hier. Ich will Physiotherapeut werden und Menschen helfen".

Er ist über sich selbst überrascht. So klar hatte er sein Vorhaben nie vor Augen. Etwas verunsichert schaut er zu Silvio, der seinen Blick erwidert und eine immense Ruhe ausstrahlt. Sie erfasst auch Valentin. Er atmet befreit auf und lächelt.

"Es kommt gleich noch etwas Wichtiges, das Sie hinzufügen wollen, oder?", fragt er den Lehrer schmunzelnd.

"Richtig!", antwortet Silvio lachend. "Das ist die einzige Entscheidung, die Sie wirklich treffen müssen.

Gründe, etwas doch nicht zu tun, werden Sie mehr als genug finden. Sie werden sehen. Sie werden sich noch viele Geschichten erzählen, warum Sie das nicht machen sollten oder könnten. Ganz viele, glauben Sie mir."

"Möchten Sie mir auch Ihren Namen verraten?", fügt Silvio an.

"Entschuldigung, mein Name ist Valentin."

"Also Valentin, bei mir fängt der Unterricht gleich wieder an. Wenn Sie glauben, dass ich Ihnen bei Ihrer Entscheidung weiterhelfen kann, zögern Sie nicht, mich zu kontaktieren. Hinterlassen Sie Ihre Telefonnummer oder E-Mail-Adresse hier bei der Sekretärin und ich melde mich bei Ihnen. Dann unterhalten wir uns weiter. Bis Ende März haben Sie ja Zeit. Bleiben wir dabei?"

"Ja, gern. Danke."

Silvio wartet einen kurzen Augenblick, bevor er aufsteht, gibt ihm die Hand zum Abschied und macht sich auf den Weg zur Volkshochschule.

Valentin bleibt zurück und versucht erfolglos, seine Gedanken zu ordnen. Er schafft es nicht. Und wie immer in solchen Situationen, fällt ihm nur eines ein: Joggen und den Kopf freibekommen.

Schwierige Entscheidung

Valentin läuft seine Lieblingsstrecke entlang. Sie führt zu einem nahegelegenen Park, weiter zu einem Wald und anschließend zu einem kleinen Badesee. Er liebt es, zu joggen und vor allem das Hochgefühl währenddessen und danach. Es befreit ihn. Völlig egal, was auf ihm lastet, das Laufen wirkt jedes Mal Wunder.

Wenn dieses Gefühl doch nur etwas Bleibendes wäre, wünscht sich Valentin.

Er erinnert sich an Zeiten, als er verletzt war, nicht joggen konnte und dadurch sein ganzes Innenleben aus dem Gleichgewicht geriet.

Klar kannte er Endorphine, die natürlichen Opiate des Körpers, die beim Sport ausgeschüttet werden und sich so angenehm anfühlen. Und er verstand sehr gut, dass manche danach süchtig waren. Aber zu diesem Personenkreis zählte er sich nicht. Er wusste, dass sich die Ausschüttung nicht erzwingen lässt und das Hinterherjagen deshalb sinnlos ist. Ja, es war möglich, günstige Voraussetzungen dafür schaffen, sie zu fördern, das ja, aber mehr nicht.

Während Valentin immer weiterläuft, fühlt er eine immense Verbundenheit mit der Natur. Seinen Körper nimmt er nicht mehr wahr. Lediglich seine Atmung, auf die er sich konzentriert, um effektiv zu laufen. Er ist Teil von allem, was diese Welt auszumachen scheint.

Wie gewöhnlich steigen Bilder in ihm auf. Jetzt sind sie wesentlich intensiver als sonst und verändern etwas in ihm. Er sieht sich in der neuen Schule. Entspannt und voller Freude über den Unterricht. Dann als Physiotherapeut, umgeben von Sportlern, die er auf einen Wettkampf vorbereitet, ihre Beinmuskulatur massiert, lockert und aufwärmt. Und er sieht sich, wie begeistert er seine Arbeit macht. Er ist in der Lage, alles zu erfühlen - als sei er mitten im Geschehen - und nimmt diese Freude beim Laufen intensiv in sich wahr.

Valentin ist berauscht und erinnert sich an Silvios Worte, dass er nur diese einzige Entscheidung zu treffen hat: sich verändern zu wollen. Jetzt ist er sich dessen sicher: Er ist bereit, sein Leben in andere Bahnen zu lenken.

Als Valentin zwei Stunden später zu Hause ankommt, duscht und sich mit einer Flasche Mineralwasser auf die Couch setzt, ist er immer noch in Hochstimmung.

Er füllt das Anmeldeformular aus, um es am nächsten Vormittag abzugeben und genießt den restlichen Tag mit Musik, Lesen und vor dem Fernseher.

Am Abend geht er zufrieden mit sich und diesem Tag ins Bett. Er fühlt sich entspannt, liest noch ein bisschen, bis er müde wird, und schaltet dann das Licht aus.

Er ist schon in einem Dämmerzustand, als ihn ein Schwall voller Gedanken hochschrecken lässt:

Was ist, wenn ihn seine Mitschüler nicht mögen? Was ist, wenn sie ihn mobben? So, wie er es mit seinen Kollegen erlebt hat. Dann muss er die Schule abbrechen. All das Geld, das er bis dahin investiert hat ... Und er müsste sich wieder einen neuen Job suchen.

Wäre es nicht besser, doch in der Werkstatt zu bleiben? Gekündigt hat er ja nicht. Die Art und Weise, wie ihn seine Kollegen bisher behandelt haben, kennt er schon. Vielleicht wäre es leichter, das auszuhalten als zu erleben, wie er von anderen abgelehnt wird. Ja, bestimmt. Wie dumm, sich etwas vorzumachen. Warum sollte plötzlich alles besser sein? Warum sollten ihn die Menschen auf einmal akzeptieren?

Völlig entmutigt steht Valentin auf, legt sich auf die Couch und schaltet den Fernseher ein. Er braucht Ablenkung.

Jeder weitere Gedanke strengt ihn an und macht ihm Angst. Er weiß, wohin sie führen können. Wenn der Versuch, seinem Leben ein Ende zu setzen, wieder schiefläuft, wird er nicht die Kraft haben, das, was danach unvermeidlich folgen würde, nochmal durchzustehen. Man würde ihn erneut einsperren, ihm seine Freiheit nehmen und über ihn bestimmen wie über ein kleines Kind. Nein, das wäre zu viel. Ihm wird klar, dass die Angst davor stärker ist als der Mut, einen weiteren Selbstmordversuch zu unternehmen.

Das lässt seine Situation noch hoffnungsloser erscheinen und alles, was seine Tränen bisher zurückgehalten hat, verliert in diesem Augenblick jegliche Macht, sie weiter im Zaum zu halten. Es erfasst Valentin ein hemmungsloses Schluchzen und Weinen, bis er völlig entkräftet in einen traumlosen Schlaf fällt.

Am nächsten Tag fühlt er sich wie gerädert und kann gar nicht fassen, in welch erschreckende Tiefe ihn seine Gedanken heruntergezogen haben.

Mit aller Gewalt schiebt Valentin jede Erinnerung an den vergangenen Abend von sich und lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Begegnung mit Silvio.

Hat er nicht so etwas vorausgesagt? Waren das die Geschichten, von denen er gesprochen hat? Vielleicht wäre es doch besser, Kontakt mit ihm aufzunehmen.

Valentin macht sich notdürftig ausgehfertig und schleppt sich schweren Schrittes zur Physioschule. Beim Betreten des Büros merkt er sofort, dass die Sekretärin ihn wiedererkennt.

"Wie kann ich Ihnen helfen?", fragt sie lächelnd.

 

"Ich würde gern noch einmal mit Silvio sprechen. Er hat gesagt, ich könnte meine Nummer bei Ihnen hinterlassen."

"Ja, stimmt. Ich schreibe sie mir auf und er meldet sich bei Ihnen."

"Wissen Sie, ob das noch heute sein wird?"

"Ich kann zwar nicht für ihn sprechen, aber ich denke, ja. So, wie ich ihn kenne, wird er sich noch heute Zeit dafür nehmen. Das wäre Ihnen wichtig, oder?"

Valentin nickt der Sekretärin wortlos zu, schreibt seine Nummer auf und macht sich auf den Weg nach Hause.

Auf einmal steigt wieder etwas Hoffnung in ihm auf, und im gleichen Augenblick wird er sich dessen bewusst, dass die Sonne scheint und am Himmel keine einzige Wolke zu sehen ist. Nun huscht doch ein kleines Lächeln über seine Lippen und sein Gang nimmt Schwung und Leichtigkeit auf.

Wieder zu Hause zieht Valentin das Anmeldeformular aus der Schreibtischschublade hervor und hofft, ein Gefühl dafür zu bekommen, die richtige Entscheidung zu treffen. Doch er kommt nicht weiter. Er ist müde, die Nacht hängt ihm nach.

Er schaltet den Fernseher ein und legt sich auf die Couch. Vorsorglich überprüft er den Akkustand seines Smartphones, deaktiviert "lautlos", um den erwarteten Anruf nicht zu verpassen, und lässt sich von einer Komödien-Serie berieseln. Kurze Zeit später schläft Valentin tief und fest.

Gegen 14.30 Uhr weckt ihn das Läuten seines Handys. Hastig greift Valentin nach dem Gerät, lässt es fallen und drückt versehentlich den Anrufer weg. Fluchend setzt er sich auf und überlegt, was er machen soll. Die Nummer ist unbekannt. Wahrscheinlich war es Silvio, denkt er sich. Unschlüssig sitzt er einige Augenblicke auf der Couch, als es wieder läutet.

Erleichtert atmet er auf und meldet sich mit einem "Hallo?"

"Hier ist Silvio. Spreche ich mit Valentin?"

"Ja, ich bin`s. Danke, dass Sie wieder anrufen. Ich wollte Sie nicht wegdrücken, mir ist das Telefon aus der Hand gerutscht."

Silvio lacht. "Macht nichts, jetzt bin ich ja wieder dran. Erzählen Sie mal..."

"Ich habe eine furchtbare Nacht hinter mir. Es sind mir so viele Gedanken durch den Kopf gegangen. Jetzt bin ich wieder ganz verunsichert, was ich machen soll. Und dann ist mir eingefallen, dass Sie gesagt haben, das würde oder könnte passieren. Ich weiß es nicht mehr genau."

Unsicher bricht Valentin seinen Redeschwall ab und wartet.

"Das ist normal, machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Sie möchten, können wir uns irgendwo treffen und in Ruhe darüber reden. Das ist kein Thema, das man am Telefon ausdiskutieren sollte. Wie wär's?"

"Gern. Wann haben Sie Zeit? Ich bin sehr flexibel."

"Morgen um 14.00 Uhr? Neben der Schule gibt es ein nettes Café, das Unicorn. Kennen Sie es?"

"Ja, stimmt. Ich habe es auf dem Weg zum Sekretariat entdeckt, sah nett aus. 14.00 Uhr passt wunderbar. Danke, dass Sie sich so schnell Zeit nehmen."

"Gerne, Valentin. Dann sehen wir uns morgen und sprechen über alles."

"Ja, bis morgen. Auf Wiedersehen."

Nach dem Telefonat füllt sich Valentin Tee in eine Thermoskanne, setzt sich damit auf den Balkon und versucht, die restlichen Sonnenstrahlen zu genießen. Ganz gelingt ihm das nicht.

Es erfasst ihn eine Unruhe. Sein Herz hämmert wie wild. Das ist für Valentin ein Zeichen. In diesem Moment wird ihm klar, dass der Aufenthalt im BKH doch nicht nur "für die Katz" war, wie er ihn sonst zu beschreiben pflegte.

In den Therapiegesprächen hat er gelernt, die Anzeichen einer aufkeimenden Panik zu erkennen. Jetzt kann er seine Unruhe zumindest insoweit einordnen, dass er vor etwas Angst hat. Was mag es sein? Die Frage wühlt ihn noch mehr auf. Sie will nicht gestellt werden. Valentin hält die Anspannung nicht aus. Er zieht sich schnell um und läuft los.

Er legt gleich zu Beginn ein hohes Tempo vor, wissend, dass ihn das beruhigen wird. Nach einer gewissen Zeit fühlt er sich besser und lässt seinen Gedanken freien Lauf.

Wie gewohnt tauchen verschiedene Bilder vor ihm auf. Situationen, in denen er Persönliches preisgegeben hat. Situationen, in denen er Gefühle gezeigt und ausgesprochen hat. Situationen, in denen er deswegen verletzt wurde. Situationen, in denen er nicht mehr bereit war, dieses Risiko einzugehen.

Valentin atmet erleichtert auf. Ihm wird die Befürchtung bewusst, Silvio zu viel von sich erzählen zu müssen und erneut verletzt zu werden. Er nimmt sich vor, es nicht so weit kommen zu lassen, und läuft Richtung Wohnung zurück.

Eine gewisse Unruhe bleibt. Valentin macht sich nichts vor. Die Entscheidung, nicht mit offenen Karten zu spielen, hinterlässt einen faden Geschmack. Er kann es nicht richtig einordnen, gibt sich aber damit zufrieden, die restliche Unstimmigkeit zu ignorieren.