Klippenfall

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13



Sylke schreckte hoch, begriff in der ersten Sekunde nicht, wo sie sich befand. Doch als sie Emilies Atem hörte, kam alles zurück, mit so einer schrecklichen Wucht, dass sie keuchte. Es war noch immer stockdunkel im Zimmer. Wie lange hatte sie geschlafen? Sie wollte sich gerade erneut an Emilie drücken, als das Licht anging. Wie zuvor schnitt der grelle Schein in ihr müdes Gehirn. Auch Emilie war mit einem Schlag wach, schrie erschrocken auf und sprang aus dem Bett, noch ehe Sylke ein Wort sagen konnte. Mit einem Satz war Sylke neben ihr. Gebannt starrten beide auf die Tür, denn von dort kam erneut das kratzende Geräusch, das Sylke auch am Vortag gehört hatte.



Als die Tür sich langsam aufschob und der Bücherstapel krachend umfiel, stellte Sylke sich vor Emilie, verbarg sie hinter sich. Sie nahm seinen Umriss wahr, ein schwarzer Schatten im Türrahmen, die rechte Hand nach vorne gestreckt. Die Pistolenmündung zeigte direkt auf ihr Gesicht.



Er warf etwas vor ihre Füße. Ein dünnes, weißes Plastikband. Kabelbinder. »Emilie soll es dir an die Hände machen. Fest.« Wie selbstverständlich er den Namen ihrer Tochter aussprach! Sylke spürte erneut Galle in ihrem Mund. Ihr war speiübel. Doch sie musste tun, was er wollte. Vielleicht ergab sich so die Gelegenheit, einmal allein mit ihm zu sprechen. Sie klammerte sich an den Gedanken, wagte sich nicht vorzustellen, warum er sie sonst fesseln wollte.



Langsam hob sie das Plastikband auf, legte es sich um die Handknöchel, nickte Emilie zu. Die blickte entgeistert auf ihre Mutter. »Zieh es zu«, flüsterte Sylke beschwörend, »es ist in Ordnung.«



Zögernd fasste Emilie das Ende an, zog ein wenig.



»Fester!« Die Stimme an der Tür klang harsch.



»Es ist in Ordnung«, wiederholte Sylke leise. Emily zog erneut, Sylkes Handflächen lagen nun eng nebeneinander.



»Komm her!« Der Mann winkte Sylke mit der Pistole zu sich. Als sie einen Schritt nach vorne machte, war Emilie sofort hinter ihr. »Du nicht.«



Emilie erstarrte, blickte auf die schwarze Waffe, die er nun auf sie gerichtet hatte, dann irrten ihre Augen im Raum umher, als suchten sie einen Fluchtweg.



»Ich komme gleich wieder.« Sylke gab ihrer Stimme einen festen Klang, doch sie wankte zur Tür. Dort blickte sie schnell zurück, lächelte ihre Tochter an, mit aller Zuversicht, die sie aufbringen konnte. »Ich komme wieder«, rief sie erneut, als er mit der linken Hand die Tür schloss, die rechte mit der Pistole abermals auf sie gerichtet.



»Vorwärts, da hinein.« Er zeigte mit der Waffe auf einen Raum neben ihrem Gefängnis. Die offen stehende Tür war eine ganz normale, stellte Sylke erleichtert fest, zwar auch aus Metall, aber dünner und von innen wie außen mit einer Klinke versehen. In dem Kellerraum befand sich eine Heizungsanlage, ein paar Wäscheleinen waren durch den Raum gespannt. Sie waren in dem Keller eines Einfamilienhauses, da war Sylke sich endgültig sicher.



Sie schaute den Mann an. Mit hochgerecktem Kinn und gerade aufgerichtet blickte sie ihm ins Gesicht. »Ich kenne dich«, sagte sie laut.



Er zuckte zusammen. »Ach ja?«



»Ja.« Sylke schwieg, suchte seine Augen. Emilie hatte Recht, eisblau waren die.



»Es ist mir egal, was du denkst«, antwortete er. »Hier geht es nämlich nicht um dich, sondern um deine Tochter. Emilie.«



Schon wieder. Schon wieder sprach er ihren Namen aus, als würde er sie kennen. Als wären sie befreundet.



Sylke atmete schwer. »Hör zu«, sagte sie, »lass Emilie aus dem Spiel. Ich verspreche dir, dass du alles mit mir tun kannst und ich mich nicht wehre. Nur bitte, lass sie gehen.«



Einen Moment musterte er sie. Sylke sah seine Augen über ihren Körper wandern. Dann wandte er sich abrupt ab. »Ich will nichts von dir«, sagte er heiser.



Ihr war sofort klar, dass er log. Sie hatte seinen Blick bemerkt, hörte das Verlangen in seiner Stimme. Erleichterung überschwemmte sie. »Ich gehöre dir«, wiederholte sie und ging einen Schritt auf ihn zu. »Alles, was du willst, versprochen. Nur Emilie musst du gehen lassen, das ist meine einzige Bedingung.«



Er lachte auf. »Es ist nicht an dir, Bedingungen zu stellen. Und wie gesagt, du interessierst mich nicht.« Er drehte sich ein wenig von ihr weg, doch die Waffe zeigte immer noch direkt auf sie. Konnte sie ihn mit gefesselten Händen überwältigen? Sylke schluckte, ihre Gedanken überschlugen sich. Warum hatte sie nie Judo gelernt, Karate oder sonst etwas? Nur laufen, das konnte sie, das war das Einzige, was sie beherrschte.



»Was möchtest du von meiner Tochter? Wieso ist sie hier?« Statt ihrer Fäuste schleuderte Sylke ihm die Fragen ins Gesicht.



Er schwieg.



»Ich weiß, dass du mich magst, ich habe deine Blicke gesehen.« Sylke redete weiter, mit aller Überzeugung, die sie aufbringen konnte. »Wieso willst du sie haben und nicht mich? Ich kann dir viel mehr geben, ich bin eine Frau. Alles, was ein Mann sich nur wünschen kann.« Erneut ging sie einen Schritt nach vorne, versuchte zu lächeln.



»Bleib stehen!« Er stand breitbeinig vor ihr, sein Gesicht todernst. »Hier geht es nicht um Sex, kapierst du das denn nicht?«



Überrascht hielt Sylke inne. »Ich weiß nicht, worum es geht, wenn du es mir nicht erklärst.«



Er schwieg erneut. Sylke bemerkte kleine Schweißperlen auf seiner Stirn. »Du hättest nicht kommen sollen«, sagte er schließlich. Seine Stimme war nicht mehr heiser, sondern tonlos.



»Was?« Sylke verstand nicht.



»An den Strand. Zu Emilie.« Er sah sie an und fast wirkte sein Blick vorwurfsvoll. »Ich wollte doch nur sie.«



Bei den letzten Worten zeigte sein Gesicht eine grimmige Entschlossenheit und mit plötzlichem Entsetzen begriff Sylke, dass sie ihn nicht überzeugen konnte. Sie wusste nicht, was er von Emilie wollte. Sie wusste nicht, wer er war. Aber eines wusste sie in dieser Sekunde mit aller Sicherheit: Sie war überflüssig in seinem Spiel. Sie würde diesen Raum nicht lebend verlassen.





14



Laura. Levke war der Name nicht gleich eingefallen, sie hatte erst googeln müssen. Viele Zeitungsberichte hatte es damals zu dem Fall gegeben, zu den verschwundenen Jungen und zu Laura, die ihren Bruder gesucht hatte und selbst ein Opfer des Entführers geworden war. Ja, Laura Wiegand. Levke scrollte durch die Internetseiten. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie gelesen hatte, dass Laura auf die Insel gezogen war. Genau, hier stand es. Ein kleiner Bericht nur, die Artikel waren im Laufe der Zeit immer weniger geworden, aber er enthielt die Informationen, die sie haben wollte: Laura lebte mit ihrer Familie in Neue Tiefe, dort, wo sie und ihre Eltern damals jeden Sommer den Urlaub verbracht hatten. Erinnerungen an glücklichere Tage.



Levke wusste, dass ihre Idee verrückt war. Aber sie hatte den Fall genau verfolgt, und Laura hatte ebenfalls ohne jeglichen Anhaltspunkt die Suche auf Fehmarn begonnen. Trotzdem hatte sie so viel herausbekommen und dieses schreckliche Monster, das die Jungen gefangen hielt, schließlich gefunden und gestellt.



Levke musste es einfach versuchen! Zwar fand sie keine genaue Adresse von Laura im Telefonbuch, noch nicht einmal eine Nummer konnte sie über das Internet finden, aber Neue Tiefe war nicht so groß. Sie würde bestimmt in Erfahrung bringen, wo Laura wohnte. Doch zuerst wollte sie noch einmal bei Sylke vorbeifahren.



Levke hatte wieder schlecht geschlafen, sich unruhig hin und her gewälzt. All ihre Anrufe und Nachrichten waren unbeantwortet geblieben. Am frühen Morgen hatte sie sich in der Bäckerei krankgemeldet. Ihr schlechtes Gewissen über diese Lüge versuchte sie damit zu beruhigen, dass sie jetzt, da ihre beste Freundin mit deren Tochter verschwunden war, schließlich keine Brötchen verkaufen konnte!



Mit ihrem roten Fiat düste Levke von Landkirchen los in Richtung Katharinenhof, zu Sylkes kleinem, aber sehr gemütlichen Haus. Es lag still und verloren da. Schon als Levke vor dem Haus parkte, spürte sie die Leere. Sylke hatte im Sommer normalerweise bereits morgens die Fenster weit geöffnet, ließ die Meerluft und die Sonne ein. Auf Levkes stürmisches Klingeln antwortete niemand. Levke ging um das ganze Haus, schaute in jedes Fenster. Fluchte, dass Sylke ihr nie einen Ersatzschlüssel gegeben hatte. Aber Sylke war selten im Urlaub, hatte keine Haustiere. Wozu musste man dann Schlüssel tauschen?



Doch es war auch so ganz offensichtlich: Emmi und Sylke waren nicht da. Für dieses Wissen brauchte sie das Haus nicht betreten. Seufzend stieg sie wieder in ihren Fiat, klopfte nervös auf das Lenkrad. Also nach Neue Tiefe. Ihre letzte Hoffnung.



Sie fuhr an weiten, duftenden Getreidefeldern vorbei, wich Radfahrern aus, die in Scharen unterwegs waren. Kurz hinter dem Ortsschild stellte sie ihren Wagen ab. Nachdem sie sich umgeschaut hatte, ging sie auf eine ältere Frau zu, die in einem Garten werkelte und an wunderschönen rosaleuchtenden Rosen herumschnitt.



»Dach oog!«, rief sie ihr zu. »Ich suche Laura Wiegand. Können Sie mir sagen, wo sie wohnt?«



Die Frau schaute stirnrunzelnd auf und musterte Levke ausgiebig. »Was wollen Sie denn von ihr?« Die Stimme war skeptisch, aber nicht unfreundlich.



»Sie ist eine Freundin meiner Freundin, von Sylke ...« Levke lächelte breit und wunderte sich wieder, wie leicht Lügen manchmal über die Lippen kamen. »Ihr gehört der Laden Fehmarn und Meer in Burg, den kennen Sie doch bestimmt?«



»Natürlich!« Die Frau kam näher, die Gartenschere wedelte durch die Luft. »Meine Tochter hat mir so ein wunderschönes Halstuch geschenkt. Lauter Vögel darauf. Selbst genäht, habe ich gehört.«



Levke nickte eifrig. »Genauso eins habe ich auch. Sylke macht das alles selbst, sie entwirft auch die Muster und Schnitte.«

 



Die Frau schien gar nicht zu merken, dass es nicht mehr um Laura, sondern um Sylke ging, vielleicht war sie aber auch durch die Gedanken an ihre Tochter abgelenkt. Sie zeigte mit ihrem Gartenhandschuh nach rechts. »Die Straße da rein, dann die erste links und da gleich das erste Haus. Schöne Pflanzen hat sie, blaue Kornblumen und ein Meer von Dahlien, das können Sie nicht übersehen.«



Dankend eilte Levke zu ihrem Auto und trat so heftig aufs Gas, dass der Motor aufheulte. Sie erkannte das beschriebene Haus sofort, denn die Blumenpracht fiel tatsächlich ins Auge.



Die Sonne schien, nur kleine Wolken sprenkelten den blauen Himmel, und auch in diesem Garten war eine Frau über die Blumen gebeugt. Ein paar Schritte neben ihr spielte ein Kind mit einem Ball. Puh, sie hatte Glück, hier auf Anhieb jemanden anzutreffen.



Langsam ging Levke auf die Frau zu und betrachtete sie dabei. Die lockigen braunen Haare klebten verschwitzt an ihrer Stirn. Immer wieder strich sie sie mit ihren Händen, die von Erde verkrustet waren, hinter das Ohr. Dadurch hatte sich in ihr Gesicht eine feine schwarze Linie gezogen. Sie war älter als auf den Fotos in der Zeitung, natürlich. Doch sie war es, Laura, daran gab es keinen Zweifel.



Levke blieb an dem weißen Zaun stehen. »Entschuldigen Sie«, sagte sie und lächelte das strahlendste Lächeln, das sie aufbringen konnte, »ich bin Levke. Meine beste Freundin und ihre Tochter sind verschwunden und ich weiß einfach nicht mehr weiter. Ich kenne Ihre Geschichte. Bitte, können Sie mir helfen?«





15



Die Waffe zielte genau auf sie, nicht auf ihr Gesicht, sondern auf ihr Herz. War es leichter, einem Menschen ins Herz zu schießen als zwischen die Augen? Sylke presste ihre Zähne fest aufeinander. Wieso kamen ihr solch verrückte Fragen in den Sinn? Wichtig war nur eins: Sie musste diesen Mann überwältigen, irgendwie. Aus schmalen Augen taxierte sie seine hagere Gestalt. Er war klein, kleiner als sie, und sehr dünn. Wenn sie ihm die Waffe aus der Hand schlagen könnte, hätte sie selbst mit gefesselten Händen eine Chance. Sylke spannte alle Muskeln an, beugte sich nach vorn, bereit zum Sprung.



In dem Moment durchschnitt ein fürchterlicher Schrei den Keller. Er hallte von den kahlen Wänden wider, so laut, dass Sylke zusammenzuckte. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper, die Haare stellten sich auf.



Auch der Mann machte einen erschrockenen Satz nach hinten, doch die Waffe zeigte noch immer auf Sylke. »Bleib hier!«, befahl er barsch, eilte rückwärts zur Tür hinaus und schloss sie ab.



Schnell sprang Sylke zur Tür und presste ihr Ohr gegen das kühle Metall. War das Emilie gewesen? Warum hatte sie so schrecklich geschrien? Wie ein verletztes Tier hatte es geklungen, ein Tier in Panik und Todesangst. »Bitte, lass es nicht Emmi gewesen sein!« Sylkes Gedanken rasten. Ihre Tochter befand sich in dem Zimmer nebenan, eigentlich war sie dort doch sicher, solange der Mann sich nicht bei ihr aufhielt. Oder? Gab es etwa noch mehr Menschen in diesem fürchterlichen Haus?



Mit angehaltener Luft lauschte Sylke. Der Schrei hallte in ihrem Kopf nach, während es draußen still blieb. Sylke traute sich kaum, zu atmen. All ihre Sinne waren angespannt, sie verschmolz fast mit der Tür. Plötzlich hörte sie ein lautes Poltern, dann einen dumpfen Schlag.



»Emilie?« Die Panik überkam sie erneut. Wie wild hämmerte sie gegen das Metall. »Emilie!«



»Mama?«



Träumte sie oder war das die Stimme ihrer Tochter? Ganz nah klang sie, sie musste halluzinieren. Sie hörte jemanden an der Tür, ein Schlüssel kratzte im Schloss. Sylke sprang einen Schritt zurück, starrte auf die Türklinke, die sich langsam senkte. Emilie stand im Türrahmen, die Haare wirr im Gesicht. Der Kratzer an ihrer Wange hatte erneut zu bluten begonnen, stark diesmal. Blut war in ihre weit aufgerissenen Augen geraten und verklebte ihre Wimpern. Wahrscheinlich hatte sie es sich hineingerieben, denn auch ihre Finger schimmerten rot. Mit einem Schritt sprang Emilie neben ihre Mutter. Sylke schaute sich hektisch um, die Wunde mussten sie später versorgen. »Wo ist er?«, fragte sie.



»Ich habe ihn umgehauen.« Emilie hielt den Schlüsselbund krampfhaft umklammert.



»Was?« Sylke traute ihren Ohren kaum.



»Ich hatte Angst, dass er dir was tut. Schreckliche Angst. Deshalb habe ich so geschrien. Und als er dann in der Tür stand, habe ich ihm das dickste Buch auf den Kopf geschlagen. Da ist er einfach umgekippt.«



»Du … oh Gott.« Sylke verdrängte den Gedanken daran, was passiert wäre, wenn Emilie ihn nicht niedergestreckt, sondern seine Wut noch mehr entfacht hätte. Sie lief mit schnellen Schritten zur Tür und spähte hinaus. Der Kellerflur war leer. Doch aus dem Raum links von ihr, ihrem Gefängnis, ragten ein paar Beine heraus. Blaue Jeanshose, weiße Socken, abgelaufene, graue Turnschuhe.



»Wo ist die Waffe?«, fragte Sylke. Emilie schluckte. »Ich weiß es nicht. Die hat er fallen gelassen, glaube ich. Ich hab nur nach dem Schlüssel gegriffen.«



»Mist.« Waffe suchen und riskieren, dass er dabei aufwachte, oder laufen? Sylkes Gedanken überschlugen sich. Sie entschied sich für das, was sie am besten konnte. Mit ihren gefesselten Händen zog sie Emilie in den Flur hinaus, warf einen Blick zurück, bevor sie mit ihr die Stufen hochhastete. Täuschte sie sich oder hatte gerade sein Fuß gezuckt?



»Schneller!« Sylke stieß das Wort abgehackt hervor, sich immer wieder nach unten umschauend. Sie stolperte, drohte zu fallen, konnte sich gerade noch ausbalancieren, spürte, wie Emilie sie von hinten griff. Als sie oben ankam, streckte sie die gefesselten Arme aus, drückte die Klinke. Abgeschlossen. Sylkes Herz hämmerte, sie schaute hinter Emilie die Treppe hinunter.



»Ich hab den Schlüsselbund.« Emilie drängte sich neben sie, fieberhaft probierte sie den ersten Schlüssel, den zweiten. Sie passten nicht.



»Nun mach schon!« Am liebsten hätte Sylke Emilie die Schlüssel entrissen, doch ihre zusammengebundenen Hände hielten sie davon ab. Stattdessen schossen ihre Augen von dem Schloss immer wieder die Stufen hinunter. Wenn er nur nicht zu sich kam!



Sie hörte ihn, bevor sie ihn sah. Ein tiefes Keuchen, ein kurzes Stöhnen. Dann seine Schritte auf dem Kellerboden, leise zwar, aber ihre angespannten Sinne registrierten die Laute wie eine Maus, die den Flügelschlag der Eule über sich spürt.



»Er kommt!« Sie wisperte, schaute verzweifelt auf Emilies Hände, die nun zitterten. Der Schlüssel, den sie gerade probierte, fand den Weg in das Schloss nicht, immer wieder rutschte er ab.



In der Sekunde, als sein grauer Schuh auf der unteren Treppenstufe auftauchte, flog die Tür auf. Sylke wäre fast nach vorne gekippt. Sie stolperte, Emilie fing sie erneut, zog sie in den dunklen Hausflur. Mit einem lauten Knall warf Emilie die Tür zu.



»Schließ wieder ab!«



Emilie sah sie an, kreidebleich. »Der Schlüssel steckt noch von innen!«, flüsterte sie.



Sylke atmete schwer, sie hatten noch zwei, drei Sekunden. Mit einem Satz sprang sie in den ersten Raum neben sich. Die Küche. Ein großer Messerblock stand direkt neben der Spüle. »Schneid die Binder durch.« Emilie war neben ihr, griff nach dem größten Messer, ratschte es an dem Plastik entlang. Noch immer zitterten ihre Hände. Sie machte es zu vorsichtig, zu langsam, sie musste sich beeilen ... Sylke hörte, wie die Kellertür aufflog. Sie drückte ihre Hände gegen die Klinge, bewegte sie hin und her. Das Blut an ihrem Handrücken spürte sie nicht, nur dass sie plötzlich frei war, das weiße Plastikband auf den Boden fiel.



In dem Moment fiel ein Schatten auf sie. Er stand in der Küchentür, mit wutverzerrtem Gesicht.





16



Er sah die Jungen auf sie zugehen. Ihre Augen weiteten sich, schossen über den Schulhof, suchten nach einem Ausweg. Doch wie immer stand sie allein dort, abseits von den anderen, unbemerkt. Die Jungen waren viel größer und älter, wahrscheinlich schon in der Oberstufe, so alt wie sein Bruder. Sie umringten sie, bildeten einen Kreis. Sollte er zu ihr gehen und ihr helfen? Aber ihn würden sie erst recht fertigmachen, das war keine Frage. Schnell blickte er über den Schulhof, so ein Scheiß, wenn man mal einen Lehrer brauchte, dann war keiner da. Typisch.



Erschrocken stellte er fest, dass die Jungen sie abdrängten, sie hatte keine Wahl, als zurückzuweichen. Die vier stießen sie zur Wand, zur Tür, die zu den Toiletten führte. Und ehe er sich versah, hatten sie sie hineingedrückt, verschwanden innerhalb von Sekunden mit ihr im Jungen-WC. Was für ein Mist, was sollte das? Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und ohne weiter nachzudenken, rannte er los. Vor der Tür angekommen, warf er erneut einen Blick über den Hof. Unzählige Schüler lachten und schrien, eine bunte Menge, in der niemand der Tür Beachtung schenkte, niemand seine Hand über der Klinke schweben sah, während in seinem Inneren ein Kampf tobte. Sollte er hineingehen oder es lassen? Was würden sie mit ihm tun, wenn er sie wobei auch immer störte? Er haderte. Sein Bruder hatte ihn so oft gepeinigt, sein Vater noch viel mehr, er kannte alle Facetten. Und jetzt sollte er sich freiwillig in die Höhle des Löwen begeben? Erneut irrten seine Augen umher, suchten Hilfe. Doch ein Lehrer war nach wie vor nicht in Sicht, und Freunde, die ihm beistehen würden, hatte er nicht. Er aber musste ihr helfen, er musste sehen, was sie dort taten!



Behutsam legte er seine Finger auf die Klinke und drückte sie so langsam hinunter, wie er konnte. Die Tür öffnen, einen Spalt nur. Seine Augen erblickten die gefliesten Wände, vollgekritzelt mit schwarzem Edding. Und dann ihn. Er stand vor ihr, hatte ihr T-Shirt nach oben geschoben und seine Hände auf ihre Brüste gelegt. Seine Kumpels umringten die beiden. Er konnte nur einen Teil ihres blonden Haares erkennen, nur ihren rechten Arm und die Hand daran, die unkontrolliert zitterte. Sie schluchzte. Diese Schweine! Eine rasende Wut erfüllte ihn, pochte rot und heiß durch seine Adern. Mit einem lauten Schrei stieß er die Tür vollends auf und rannte mit weit aufgerissenen Augen mitten in den stinkenden Raum hinein.





17



Mit seinen eisblauen Augen starrte er Sylke an wie ein Raubvogel. Die drückte ihre Tochter blitzschnell auf den Boden, nachdem sie ihr das Messer aus der Hand gerissen hatte. Fest hielt sie es umklammert und richtete die Spitze auf den Mann.



»Leg es weg!« Seine Stimme war dünn, wenig überzeugend, aber seine rechte Hand hatte sich gehoben und mit ihr die verfluchte Waffe. Hätte sie die doch bloß mitgenommen! Er senkte seinen Arm ein wenig, nun zeigte die Mündung direkt auf Emilie, die vor Sylke am Boden kauerte, den Kopf zwischen den Händen versteckt. »Weg damit!«, wiederholte er schärfer.



Langsam legte Sylke das Messer auf den Küchentresen, danach hielt sie ihre beiden Handflächen offen nach vorne.



»Setzt euch dahin!« Der Mann deutete auf eine altmodische Eckbank aus dunklem Eichenholz, darauf rote Kissen mit weißen Punkten. Der Stoff war abgenutzt und speckig. Ohne den Mann aus den Augen zu lassen, zog Sylke Emilie nach oben, drückte sie vorsichtig an dem kleinen Tisch vorbei auf die Bank. Sie selbst zog einen der Stühle zu sich heran und setzte sich so, dass sie den Mann direkt ansah. Noch immer war die Hand mit der Waffe erhoben, nun jedoch wieder auf Sylke gerichtet.



Durch ein kleines Fenster fiel Sonnenlicht auf den Boden und malte bunte Kringel auf das Laminat. Emilies Magen knurrte. Sylkes Blick zuckte zum Herd.



»Wie wär es endlich mit einem Frühstück?«, fragte sie und bemühte sich, Leichtigkeit in die Stimme zu legen. »Ich könnte uns ein paar Eier braten.«



Sie sah Überraschung in den Augen des Mannes. Ein paar Sekunden war es still. Eine Uhr über der Küchentür tickte. Es war sieben Minuten nach neun. »In Ordnung.« Der Mann nickte. »Aber mach ja keine Faxen.« Mit zwei Schritten stand er neben Emilie und richtete die Waffe auf sie.



Sylke hob beschwichtigend die Hände. »Es ist alles gut, nur Frühstück.« Sie öffnete den Kühlschrank. Er enthielt mehr Essen als ihrer zu Hause, nur lagen die Lebensmittel wild durcheinander. Sie fand schließlich zwischen Butter, Wurst, Milchtüten und Käse eine Packung Eier.



»Die Pfanne ist dort unten.« Mit seiner linken Hand deutete der Mann auf einen Schrank unter dem Herd.



Sylke öffnete die Schranktür und die Töpfe fielen ihr fast entgegen. Sie kramte nach der großen gusseisernen Pfanne, wog sie kurz in der Hand, stellte sie dann auf den Herd, machte ihn an, ließ ein Stück Butter schmelzen. »Rührei oder Spiegelei?«, fragte sie.

 



»Das ist mir gleich.« Der Mann schwieg einen Augenblick, wandte sich schließlich Emilie zu. »Was möchtest du?«



Emmi sah ihn aus großen Augen an. »Rührei.« Ihre Stimme war leise.



Sylke nickte, griff nach einer Schüssel, die zum Abtropfen in einem Gitter neben der Spüle stand, schlug Eier hinein, verdünnte sie mit etwas Milch. Ein paar Minuten später durchzog ein köstlicher Duft die Küche. Sylkes Magen zog sich zusammen. »Vielleicht noch einen Kaffee?«, fragte sie und bemühte sich krampfhaft, den Gedanken zu verdrängen, dass drei Meter weiter ein Mann ihrer Tochter eine Pistole an die Stirn hielt.



Der Mann nickte in Richtung Kaffeemaschine. Sylke füllte sie aus der Dose daneben großzügig. Vielleicht würde das den Nebel aus ihrem Kopf vertreiben. Sie öffnete weitere Schranktüren, tat so, als suchte sie nach Tellern. Ihre Augen scannten derweil den Raum. Eine relativ große Küche, genug Platz für den Esstisch, die Eckbank und zwei Stühle. Ziemlich ordentlich. Abgewohnt, aber sauber. Lebte dieser Mann wirklich alleine hier? Alles an der Einrichtung strahlte den Charme der sechziger Jahre aus. Vermutlich hatte er das Haus von seinen Eltern geerbt und nichts daran verändert. Und was machte er an einem Dienstagvormittag zu Hause? Musste er denn nicht arbeiten? Sylkes Kopf fühlte sie an wie ein Karussell, das durch undurchdringlichen Rauch wirbelte.



Sie fand die Teller, nahm drei Stück heraus, stellte sie auf den Tisch. Dazu drei Tassen. Als sie die Schubladen aufziehen wollte, hielt seine Stimme sie zurück. »Nur Löffel, keine Gabeln, keine Messer«, befahl er.



»Natürlich.« Langsam holte sie drei Löffel heraus. Sie lagen direkt neben den Messern. Und vorne befand sich ein kleines Fach mit zwei kleinen, scharfen Küchenmessern. Vorsichtig warf sie einen Blick über die Schulter, er beobachtete sie genau. Behutsam schloss sie die Schublade, griff nach der Butter und legte alles auf den Tisch. »Gibt es Brot?«, fragte sie.



Er deutete auf eine große viereckige Blechdose, in der sie abgepacktes Toastbrot fand. Sylke ging zum Tisch hinüber, teilte das Rührei auf die drei Teller auf, wobei sie Emilie am meisten gab. Sie stellte Brot und Butter dazu, goss den dampfenden Kaffee in die Becher.



»Stell meine Sachen dort rüber.« Der Mann zeigte mit der freien Hand auf den Küchentresen. Während Sylke sich setzte, ging er zur Anrichte, legte die Pistole so vor sich, dass sie in Richtung der beiden Frauen zeigte, und zog im Stehen den Teller zu sich heran.



Sie nahmen sich Brot, Sylke schmierte es mit der Rückseite des Löffels, was mehr schlecht als recht klappte. Emilie fiel hungrig über das Essen her. Gut. Sie aß, funktionierte. Hoffentlich blieb das so.



Verstohlen warf sie einen Blick zu dem Mann. Auch ihm schien es zu schmecken. »Ich könnte auch kochen«, sagte Sylke. »Im Kochen bin ich wirklich gut.« Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Emilie einen Moment zu kauen aufhörte. »Ich habe sogar schon einen Koch-Wettbewerb gewonnen«, erzählte sie weiter.



»Das stimmt.« Emilies Stimme, nicht mehr leise, sondern hell und klar. »Mama ist die beste Köchin der Welt.« Sie wandte sich Sylke zu. »Diese Teile, die du so gut kannst, diese leckeren, duftenden ... wie heißen sie noch gleich?«



»Kröpel?« Der Mann hatte zu essen aufgehört.



»Ja, genau!« Emilie nickte eifrig. »Kröpel sind ihre Spezialität.«



»Ich liebe sie.« Seine Augen schweiften zum Fenster. »Früher, als wir den Bauern auf den Feldern ausgeholfen haben, da hat Mutter sie für uns alle gemacht. Zur Weizenernte, im Spätsommer.« Er stockte, fast erschrocken.



Sylke tat so, als hätte sie ihm gar nicht zugehört. Doch ihr Gehirn versuchte sofort, seine Worte einzuordnen. Ein altes Haus, vermutlich abgelegen, Felder drum herum. Ein Bauernhof? Es kam ihr nicht so vor. Wenn man aus dem Küchenfenster schaute, sah man jedenfalls nur das: ein großes Weizenfeld.



Ja, die Ernte, dazu die typische Insel-Spezialität, die die Erntehelfer zur Stärkung bekamen – süße Hefeteigkugeln, in Fett gebacken und in Zucker gewendet. Sylke hatte sie noch nie im Leben selbst gemacht. Trotzdem klatschte sie munter in die Hände. »Also abgemacht, heute Mittag gibt es Kröpel«, rief sie.



Mit einem Ruck stand der Mann auf. »Ihr müsst wieder runter«, sagte er. Seine Stimme klang heiser. Erneut richtete er die

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