Schattenchance

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Z serii: Dear Sister #5
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6. Winter

Seit einer geschlagenen Stunde schlief Dairine friedlich in ihrem Bett, während ich mir verzweifelt überlegte, wie ich ihr so schonend wie möglich die Wahrheit beibringen konnte und am besten so, dass sie mir auch noch glaubte. Ich hatte es schon die ganze Zeit gewollt, aber immer wieder aus Angst vor ihrer Zurückweisung aufgeschoben. Nun wäre ihr beinahe etwas Schreckliches angetan worden, nur weil sie ahnungslos in ein Haus voller Schattenwandler getappt war. Wenn ich ihr schon früher alles erzählt hätte, wäre sie niemals mit ihrem Vater zu der Einweihungsfeier gegangen. Sie hätte auch ihn davon abgehalten.

Sie drehte sich von der Wand zu mir herum. Noch waren ihre Augen geschlossen, aber es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie aufwachen würde. Was würde ich denken, wenn sie mir so eine verrückte Geschichte erzählen würde? Würde ich ihr glauben? Konnte ich etwas glauben, an das ich mich nicht erinnern konnte und für das es keinerlei Beweise gab? Es war schwierig.

Ich ging vor ihrem Bett auf die Knie und betrachtete eindringlich ihr Gesicht. Sie war mir inzwischen so vertraut, dass ich den Gedanken, sie zu verlieren, kaum ertragen konnte. Zuerst waren wir nur eine Zweckgemeinschaft gewesen, dann war Freundschaft daraus geworden und die Geheimnisse rund um die Schattenwandler hatten uns endgültig aneinander geschweißt. Meist verstand sie mich besser als jeder andere und selbst wenn nicht, hielt sie trotzdem zu mir.

Urplötzlich schlug sie die Augen auf. Erschrocken wich ich zurück und fühlte mich ertappt, obwohl ich nichts verbrochen hatte. Mein Herzschlag beschleunigte sich.

„Was machst du da?“, fragte sie verständnislos und stützte sich auf ihrem Ellbogen ab. „Hast du mich etwa beim Schlafen beobachtet?“

„Nein“, gab ich sofort zurück. „Ich …“

„Du?“

„Doch, habe ich, aber …“ Mir fehlten die Worte.

„Aber?“, echote sie und musterte mich schon jetzt, als hätte ich den Verstand verloren. Sie strich sich ihr Haar hinters Ohr. „Hör mal, es ist völlig ok, wenn du auf mich stehst“, sagte sie todernst. Als sie meinen entsetzten Gesichtsausdruck sah, brach sie jedoch in Gelächter aus.

Ich atmete erleichtert auf und wusste immer noch nicht, wie ich anfangen sollte.

Sie setzte sich auf und drehte sich verwirrt zum Fenster herum. „Was für ein Tag ist heute überhaupt?“

„Sonntag.“

Auch meine Antwort schien ihr nicht weiterzuhelfen. „Waren wir verabredet und ich bin einfach eingeschlafen?“

Scheinbar erinnerte sie sich nicht einmal mehr daran, überhaupt zu ihren neuen Nachbarn gegangen zu sein. Ihre Erinnerung an die vergangenen Stunden war wie ausradiert.

„Nein, ich habe dich eher zufällig bei der Einweihungsfeier getroffen“, antwortete ich ihr. Ihre Verwirrtheit nahm noch weiter zu und sie runzelte die Stirn. „Ich war nebenan?“

Zumindest schien sie sich noch daran zu erinnern, eingeladen worden zu sein. Sie schlug die Bettdecke zurück und wollte aufstehen, doch ich hielt es für besser, wenn sie sitzen blieb. Deshalb ließ ich mich neben ihr nieder und legte meine Hand auf ihre.

„Dir ging es nicht gut.“

Irritiert sah sie von meiner Hand auf ihrer zu meinem Gesicht. „Was hatte ich denn?“

Als ich nicht sofort etwas sagte, beschlich sie ein mulmiges Gefühl. „Winter, jetzt sag schon! Was war los? Ich kann mich an überhaupt nichts mehr erinnern.“ Ich konnte ihr ansehen, dass sie verzweifelt versuchte, eine Erinnerung heraufzubeschwören.

„Dairine, was ich dir jetzt erzähle, hört sich total verrückt an und wahrscheinlich wirst du mir kein Wort glauben, aber ich schwöre dir, es ist die Wahrheit.“

Ihre Augen weiteten sich und bereits jetzt starrte sie mich voller Unglauben an. „Du machst mir Angst!“

„Du solltest auch Angst haben, denn eure neuen Nachbarn sind wirklich gefährlich. Es sind nicht nur Schattenwandler, sondern auch noch Fomori. Charles Crawford ist ihr Oberhaupt und er ist unsterblich, weil er seinen eigenen Sohn in einem Ritual geopfert hat.“

Sie kniff die Augen zusammen. „Woher weißt du das? Von Eliza?“ Ich konnte nicht sagen, ob sie mir glaubte. Vielleicht wusste sie es selbst noch nicht so genau.

„Nein, ich weiß es, weil ich dabei war, als er versucht hat, dasselbe mit Eliza zu machen.“

Dairine schüttelte verständnislos den Kopf. „Was?“

Ich drückte ihre Hand etwas fester, um sie spüren zu lassen, wie wichtig mir das war und dass es definitiv kein Scherz war. „Du warst auch dabei, aber du kannst dich nicht daran erinnern. Genauso wenig wie Eliza und jeder andere, der dabei war. Mit Ausnahme von Evan und mir. Er ist ein Zeitmaler.“

Sie verstand kein Wort.

„Zusammen haben wir einen Punkt in der Vergangenheit neu gemalt und dadurch hat sich alles verändert. Menschen, die unsere Freunde waren, kennen uns nicht einmal mehr.“

Sie starrte mich an, ohne irgendetwas zu sagen oder auch nur eine Miene zu verziehen, fast als würde sie darauf warten, dass ich zu lachen begann und sagte, dass dies alles nur ein Scherz sei. Als es gegen ihre Zimmertür klopfte, zuckten wir beide erschrocken zusammen.

Eine Frau mittleren Alters steckte den Kopf zur Tür herein. Sie trug ihr langes braunes Haar zu vielen schmalen Zöpfen geflochten. Ihre Haut war gebräunt, umso auffälliger stachen daraus ihre eisblauen Augen hervor.

„Mum!“, kreischte Dairine aufgeregt und fiel der Frau um den Hals. Diese drückte ihre Tochter fest an sich und lächelte dabei glücklich.

„Warum hast du nicht gesagt, dass du kommst? Dad und ich hätten dich doch vom Flughafen abholen können“, klagte Dairine, ohne ihre Mutter loszulassen. Es war das erste Mal, dass ich sie sah. Generell hatten Dairines Eltern nur wenig Zeit für sie. Während ihr Vater oft auf Geschäftsreisen oder in irgendwelchen Meetings war, trieb sich ihre Mutter in der Dritten Welt herum und kümmerte sich um die Ärmsten der Armen.

„Ich wusste nicht, ob ihr zu Hause seid“, antwortete ihre Mutter. „Außerdem war alles ganz spontan.“ Sie schaute in meine Richtung und löste sich von ihrer Tochter. Daraufhin streckte sie mir mit freundlichem Lächeln die Hand entgegen. „Hallo. Ich bin Roisin, die Mutter von Dairine.“

Ich erhob mich vom Bett und ergriff die ausgestreckte Hand. „Ich bin Winter.“

„Oh, was für ein schöner, aber ungewöhnlicher Name“, lächelte sie und hielt meine Hand einen Moment länger als nötig fest. Es war jedoch nicht unangenehm, denn Dairine musste die herzliche und offene Ausstrahlung von ihrer Mutter geerbt haben. Roisins Händedruck war fest und warm. Ich bildete mir ein, dass sie nach Sand und Sonne roch. „Möchtest du mit uns essen? Wir könnten etwas vom Italiener bestellen.“

Ehe ich antworten konnte, kam mir Dairine zuvor. „Winter muss jetzt nach Hause.“

Es versetzte mir einen Stich ins Herz. Zwar konnte ich verstehen, dass sie ihre Mutter in der spärlichen Zeit, die sie in Irland sein würde, für sich haben wollte, aber ich schob es mehr auf mein Geständnis, denn zuvor hatte sie meine Gegenwart nie gestört.

„Ja, ich hab meine Hausaufgaben noch nicht gemacht“, stimmte ich ihr zu. „Aber trotzdem vielen Dank für das freundliche Angebot!“

Roisin lächelte und zwinkerte mir zu: „Dann holen wir das wann anders mal nach.“

Ich sah ein letztes Mal zu Dairine, um an ihren Augen ablesen zu können, ob sie meine Geschichte glaubte, doch sie ignorierte meinen Blick, sodass ich mich geknickt und unwissend auf den Heimweg machte.

Dairine fehlte am Montag in der Schule. Es war das erste Mal, seitdem sie aus Colorado nach Irland gezogen war. Das war mittlerweile schon vier Jahre her. Ich glaubte nicht, dass sie krank war, sondern schob es darauf, dass ihre Mutter wieder da war und sie Zeit mit ihr verbringen wollte. Aber insgeheim fürchtete ich, dass es mit mir und meinem Geständnis zu tun hatte. Obwohl ich wusste, dass Dairine keine Person war, die unangenehmen Gesprächen aus dem Weg ging. Sie war direkt und sagte, was sie dachte, anstatt sich zu verstecken und in Ausreden zu üben.

Nach der ersten Unterrichtsstunde schrieb ich ihr eine SMS und fragte sie, was sie hätte und ob sie länger wegbleiben würde. Danach holte ich mir einen Kaffee und setzte mich alleine in der Cafeteria an einen Tisch. Lucas und die anderen Schüler des Abschlussjahrgangs mussten diese Woche nicht mehr in die Schule, damit sie Zeit hatten, sich zu Hause auf die Prüfungen vorzubereiten. Mona und Aidan gingen in dieser Realität nicht auf unsere Schule und so war ich ohne Dairine ganz allein. Eigentlich hatte ich mich schon längst bei Mona melden wollen, aber die Fomori waren dazwischengekommen und außerdem musste ich immer wieder darüber nachdachten, was Evan zu mir gesagt hatte. Was, wenn Mona ohne uns besser dran war? Sie hatte bei unserem zufälligen Aufeinandertreffen wirklich einen guten Eindruck auf mich gemacht. Zudem lag mir Smalltalk nicht besonders und ich wusste nicht, worüber ich mit ihr reden konnte, ohne zu viel von mir preiszugeben. Wenn ich ihr die Wahrheit erzählte, würde sie mich für verrückt halten. Dairine war meine beste Freundin und deshalb hoffte ich, dass sie mir irgendwann doch glauben würde. Aber für Mona war ich eine völlig Fremde.

Wie es Aidan wohl ging? Ob er noch immer in Velvet Hill war? Ich nahm mir vor, das bei Gelegenheit zu überprüfen. Auch wenn er in der letzten Zeit vor seinem Tod mehr Monas Freund als irgendetwas anderes gewesen war, so verband uns doch der gemeinsame Aufenthalt in der Psychiatrie. Ohne ihn hätte ich die Zeit nicht durchgestanden. Mittlerweile war ich mir sogar sicher, dass ich nie wirklich in ihn verliebt gewesen war. Es war mehr der Wunsch nach Nähe gewesen. Lucas hatte mich für Eliza verlassen, Liam war durch meine Hand gestorben … Ich hatte mich so sehr nach jemandem gesehnt, der mich liebte, dass ich Zuneigung mit Liebe verwechselt hatte. Für Aidan musste es ähnlich gewesen sein. Ich hatte seinen tristen Klinikalltag aufgewirbelt und war die Erste gewesen, die ihm Hoffnung auf ein normales Leben gegeben hatte.

 

Ein Räuspern ließ mich erschrocken zusammenfahren. Meine Gedanken hatten mich völlig eingenommen und ich hatte nicht damit gerechnet, von jemandem angesprochen zu werden. Ungläubig blickte ich in stahlgraue Augen empor. Liams Hand lag auf dem Stuhl neben mir. Ich spürte, wie mir eine Hitzewelle durch den gesamten Körper jagte.

Er lachte auf, was mir bewusst machte, dass ich sicher ein ziemlich dummes Gesicht machte. „Darf ich dich kurz stören?“

„Ja, klar“, antwortete ich viel zu begeistert und fragte mich gleichzeitig, wie es dazu kam, dass er meine Nähe suchte. Bisher hatte ich nicht den Eindruck gehabt, dass irgendeiner meiner Annährungsversuche von Erfolg geprägt gewesen wäre. Aber bei ihm konnte man sich nie sicher sein.

Er zog den Stuhl zurück und ließ sich neben mir nieder. Unauffällig ließ er den Blick durch die Cafeteria wandern, die sich langsam leerte. Es würde bald zur nächsten Stunde klingeln. Er rutschte ein Stück zu nah an mich heran, als es für einen Lehrer und seine Schülerin üblich gewesen wäre. Sein Knie berührte meines und jagte einen Stromstoß durch meinen Körper. Als er sich zu mir vorbeugte, hatten sich meine Nackenhärchen bereits aufgestellt. „Du hast am Samstag meine Freundin Faye kennengelernt, oder?“

Eine Mischung aus Panik und Enttäuschung machte sich in mir breit. Er wollte mit mir ausgerechnet über Faye sprechen? Ich hatte ihr viel zu viel verraten. Ich beschloss, dass es besser war, nichts zu sagen, bevor ich nicht mehr wusste, und nickte deshalb lediglich.

Erneut sah er sich um, als fürchte er, dass jemand unser Gespräch belauschen könnte. „Du hast ihr Angst gemacht.“

„Ich ihr?“, stieß ich ungläubig hervor. Warnend sah er mich an, da ich etwas zu laut geworden war. Sofort mäßigte ich meine Stimme. „Sie hat mich bedroht und nicht anders herum“, raunte ich in dem Versuch, mich zu verteidigen.

Er runzelte die Stirn, als hätte er keine Ahnung, wovon ich sprach. „Woher weißt du, dass sie bei den Fomori war?“

„Sollte die Frage nicht eher sein, woher ich überhaupt von der Existenz der Fomori weiß?“

Er musterte mich und schien mich zum ersten Mal überhaupt wirklich wahrzunehmen. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, dass ich mich vor Faye beinahe geoutet hatte. Das weckte zumindest sein Interesse an mir. „Du bist keine Schattenwandlerin“, stellte er verständnislos fest.

„Ich nicht, aber meine Schwester“, klärte ich ihn auf. Über seine Mundwinkel zog sich ein triumphierendes Grinsen. „Wusste ich es doch“, murmelte er, was mir einen Stich versetzte. Die Erinnerung daran wie er kaum die Augen von Eliza hatte lassen können, war allgegenwärtig, ob es mir lieb war oder nicht.

„Unsere Tante ist die rechte Hand von Charles Crawford“, fuhr ich fort, um seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken. Es funktionierte, denn sein Grinsen verschwand. Stattdessen starrte er mich entsetzt an. Erneut ließ er seinen Blick misstrauisch über mein Gesicht wandern. Er schien abzuwägen, ob eine Gefahr von mir ausging. „Hat Faye etwas zu befürchten?“

„Also gehört sie wirklich nicht mehr zu ihnen?“

„Nein“, versicherte er mir und sah mir dabei eindringlich in die Augen. „Ich weiß nicht, wie viel du weißt, aber …“

„Ich weiß alles“, unterbrach ich ihn etwas zu vorschnell. Ich wusste mehr als jeder andere, mehr, als ich hätte wissen dürfen.

Irritiert blickte er mir entgegen. „Du weißt, dass Charles Crawford unsterblich ist?“

„Nicht nur das, ich weiß auch, was er dafür tun musste.“

Wir sprachen es beide nicht aus. „Genau, das ist der Grund, warum Faye die Fomori verlassen hat. All dies ging ihr zu weit. Deshalb ist sie zu mir gekommen, um sich hier vor ihnen zu verstecken. Und dann tauchst du plötzlich auf und stellst solche Fragen. Du wirst sicher verstehen, dass ihr das eine Heidenangst eingejagt hat.“

Bisher hatte Faye nicht den Eindruck bei mir erweckt, vor irgendetwas Angst zu haben. Aber es war irgendwie beruhigend zu wissen, dass nicht nur ich ihretwegen unruhige Nächte hinter mir hatte, sondern dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. „Soweit ich weiß, interessieren sich die Fomori nicht für sie“, versuchte ich Liam zu beruhigen. „Ich glaube, dass sie aus anderen Gründen hier sind.“

„Macht“, stimmte er mir zu. „Erst der Bürgermeisterposten …“

„Und danach der Rest der Welt“, schloss ich. Wir sahen einander in die Augen, wobei mein Herz wie wild gegen meine Brust hämmerte. Ohne, dass ich es geplant hatte, hatte ich etwas gefunden, das uns verband.

„Was ist mit deiner Tante? Rhona, oder?“

„Ich weiß es nicht genau. Sie ist zwar seine rechte Hand, aber ich glaube, dass sie Eliza und mich vor den Fomori zu schützen versucht. Es ist nicht leicht sie zu durchschauen.“

„Ihr solltet sie besser im Auge behalten“, schärfte er mir ein. „Hältst du mich auf dem Laufenden?“ Er schob seinen Stuhl zurück, was ein eindeutiges Zeichen dafür war, dass für ihn das Gespräch wohl an dieser Stelle beendet war. Für meinen Geschmack jedoch viel zu schnell. Die leere Cafeteria verriet mir, dass die nächste Stunde bereits begonnen haben musste. „Wir könnten zusammen einen Kaffee trinken gehen und über alles reden“, schlug ich ihm vor.

Er sah von mir zu meinem Kaffeebecher, der immer noch voll, aber mittlerweile kalt vor mir stand. „Du scheinst Kaffee nicht besonders zu mögen“, witzelte er, was mich erröten ließ.

„Ich mag vor allem den Duft“, gab ich verlegen zu, denn es würde ihn sicher nicht interessieren, dass ich mir zu viele Gedanken gemacht hatte und dabei meinen Kaffee völlig vergessen hatte.

„Hast du jetzt keinen Unterricht?“

„Nein“, log ich, wohl wissend, dass er das leicht würde nachprüfen können. Mein Herz raste bei der Vorstellung, noch länger neben ihm sitzen zu können. Er schien tatsächlich darüber nachzudenken, doch etwas ließ ihn doch zögern.

„Gibt es denn noch etwas Wichtiges, das du mir in Bezug auf die Fomori erzählen möchtest?“

„Nein, aber wir könnten doch unser Wissen austauschen und besprechen, wie wir gegen sie vorgehen wollen.“

Er hob abwehrend die Hände. „Ich habe nicht vor, etwas gegen sie zu unternehmen.“

„Aber Charles wird sich nicht damit zufrieden geben! Er wird versuchen, auch die anderen Fomori unsterblich zu machen …“

„Das ist mir egal“, unterbrach er mich. „Ich möchte keinen Ärger mit ihnen, deshalb ist es am besten, wenn ich mich aus allem raushalte.“ Das hörte sich ganz und gar nicht nach dem Liam an, den ich kannte.

„Ich muss jetzt meine nächste Stunde vorbereiten. Sollte noch etwas sein, sag mir bitte Bescheid“, schloss er und wandte sich endgültig zum Gehen. Ich konnte und wollte ihn nicht so einfach gehen lassen.

„Würdest du mir deine Handynummer geben?“ Er blieb stehen und drehte sich unschlüssig zu mir um. „Für den Notfall“, setzte ich nach. Skepsis spiegelte sich auf seinem Gesicht und ich erkannte, dass ich etwas falsch gemacht hatte. „Entschuldigung. Ich meine, würden Sie mir Ihre Handynummer geben?“, stammelte ich verlegen und sicher mit knallrotem Kopf. Umso mehr überraschte es mich, dass er tatsächlich darauf einging.

„Na gut, aber nur für den Notfall“, brummte er und zog sein Notizbuch aus der Tasche. Er riss einen Zettel heraus, kritzelte eilig seine Nummer drauf und reichte ihn mir.

Meine Haut kribbelte dort, wo mich die unebenen Kanten des Papiers berührten. Ich schloss meine Hand darum und sah ihm sehnsüchtig nach, als er die Cafeteria verließ. Innerlich vollführte ich einen Freudentanz – ich hatte seine Handynummer! Zugegeben, es hätte durchaus besser laufen können, aber es war ein Fortschritt. Wir hatten nun zumindest ein Gesprächsthema.

7. Evan

Das Pub war noch so gut wie leer. Nur wenige Stammgäste saßen bereits auf Hockern an der Bar. Es war noch zu früh für den abendlichen Ansturm, der an einem Montag ohnehin gering ausfallen würde. Aber schon zu spät für den Mittagstisch. Trotzdem hatten Winter und ich uns in die hinterste Ecke zurückgezogen, um möglichst nicht gesehen zu werden. Bei ihrem Anruf hatte sie verzweifelt geklungen, nun machte sie jedoch eher einen komplett überdrehten Eindruck, wie sie mit dem Strohhalm in ihrer Cola herumstocherte und sich ständig umsah, als erwarte sie noch jemanden zu unserer Verabredung.

„Könntest du mir jetzt bitte verraten, warum wir uns so dringend treffen mussten?“, wollte ich ungeduldig wissen. Ich spielte den Genervten, da ich so kurz vor meinen Abschlussprüfungen die Zeit wohl besser zum Lernen genutzt hätte, aber in Wirklichkeit war ich ihr ganz dankbar für das bisschen Ablenkung. Die Buchstaben und Zahlen tanzten nämlich bereits vor meinen Augen Tango, während ich Lucas einfach nicht aus dem Kopf bekam. Seit dem Abend im devil’s hell hatte er sich nicht mehr bei mir gemeldet, genauso wenig wie Eliza, die sich bei mir entschuldigen sollte. Aber mir war schon klar gewesen, dass ich darauf lange warten könnte. Im Grunde war das, was sie gesagt hatte, sogar ziemlich nah an der Wahrheit gewesen.

„Liam hat mich angesprochen“, quietschte sie vergnügt und schien froh zu sein, das Geheimnis endlich mit jemandem teilen zu können. Das erklärte jedoch nicht ihre Verzweiflung vom Telefonat.

„Was wollte er denn?“

„Du glaubst es nicht, Faye hatte tatsächlich Angst vor mir“, stieß sie ungläubig aus. „Vor mir! Kannst du dir das vorstellen?“

Beinahe das ganze Wochenende hatte ich versucht, sie zu beruhigen, weil sie Panik gehabt hatte, dass Faye ihr die Fomori auf den Hals hetzen würde. „Also gehört sie nicht mehr zu den Fomori?“

„Nein, sie ist nach Wills Opferung ausgestiegen“, erwiderte sie beinahe beiläufig und wedelte mir stattdessen mit einem abgerissenen Stück Papier vor der Nase herum. „Weißt du, was das ist?“

„Du wirst es mir sicher gleich sagen“, mutmaßte ich gelangweilt.

„Das ist Liams Handynummer! Er hat sie mir“, sie ahmte mit den Fingern Anführungszeichen nach „für den Notfall“ gegeben. Wir sind jetzt Verbündete im Kampf gegen die Fomori.“

Seitdem wir die Zeit neugemalt hatten, hatte ich sie nicht mehr so glücklich erlebt. Alleine mit Liam gesprochen zu haben, schien sie sämtliche andere Sorgen vergessen lassen zu haben. Ich fühlte mich mies, weil ich ihre Euphorie nicht teilen konnte. Insgeheim beneidete ich sie um den Fortschritt und sei er noch so klein.

„Schön für dich“, entgegnete ich schlecht gelaunt und erhob mich, um das Pub zu verlassen. So, wie ich mich gerade benahm, konnte ich mich selbst nicht leiden. „War das alles?“

Bestürzt griff sie nach meinem Arm und hielt mich am Stoff der Jacke fest. „Evan, was ist denn los? Freust du dich gar nicht für mich?“

Sie sah mit ihren großen Augen, die je nach Lichteinfall zwischen Blau und Grün wechselten, zu mir empor. Machten Mädchen das immer so? Tauschten sie sich über jedes noch so kleine Detail im Kampf um die Eroberung ihres Traumprinzen aus? Sicher fehlte ihr Dairine und nun musste ich wohl oder übel als Ersatz herhalten. Seufzend ließ ich mich wieder neben ihr nieder. „Doch, aber du solltest nicht zu voreilig sein. Nur weil Liam und Faye ebenfalls die Fomori fürchten, heißt das nicht, dass wir ihnen vertrauen können. Sie wissen nicht, was wir wissen.“

Ich hätte erwartet, dass sie versuchen würde, mich davon zu überzeugen, dass Liam absolut vertrauenswürdig sei, doch stattdessen schwieg sie, mied meinen Blick und kaute auf ihrer Unterlippe herum. Die Verzweiflung, die ich am Vormittag in ihrer Stimme gehört hatte, spiegelte sich nun auch auf ihrem Gesicht wider.

„Du hast ihn doch nicht eingeweiht oder etwa doch?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ihn nicht.“

Mein Hals wurde eng. „Wen dann?“

Ihre Augen machten einen feuchten Eindruck, als sie mir wieder ins Gesicht sah. „Dairine.“

Überrascht hob ich die Augenbrauen. Sie hatte es mir die ganze Zeit bereits angekündigt, aber ich hätte erwartet, dass sie es dennoch nicht ohne mein Beisein tun würde. „Wann?“

„Sonntagabend. Charles hat eine Einweihungsparty in seinem Anwesen gegeben. Wenn Eliza nicht unbedingt dorthin gewollt hätte, hätte ich gar nicht davon erfahren. Die Schattenwandler haben ihren menschlichen Gästen förmlich die Gefühle ausgesaugt und sie damit zu willenlosen Marionetten gemacht. Dairine und ihr Vater waren auch da. Wenn Eliza und Rhona nicht eingegriffen hätten …“

 

„Was dann?“ Auch wenn meine vorherige Beziehung zu Dairine nur zum Schein gewesen war, mochte ich sie trotzdem sehr. Obwohl ich ihre Gefühle verletzt hatte und kein Verständnis von ihr verdiente, hatte sie immer zu mir gehalten.

„Sie wäre fast vergewaltigt worden!“

Entsetzt starrte ich sie an.

„Ich musste es ihr einfach sagen“, sagte Winter bekräftigend. „Sie muss doch wissen, neben wem sie da wohnt!“

„Wie hat sie reagiert?“

Nun zuckte sie nur mit den Schultern. „Gar nicht.“

„Sie muss doch irgendetwas gesagt haben!“, fuhr ich sie ungehalten an. Es machte mich wahnsinnig, ihr alles aus der Nase ziehen zu müssen.

„Nein, hat sie nicht. Ihre Mutter kam überraschend von einem langen Auslandsaufenthalt nach Hause und heute war Dairine nicht in der Schule. Deshalb habe ich dich ja angerufen.“

Plötzlich ergab alles einen Sinn. Sie war wegen ihrer besten Freundin verzweifelt gewesen und hatte mich angerufen. Das Gespräch mit Liam hatte erst danach stattgefunden und sie ihre Sorgen für kurze Zeit vergessen lassen.

Ich atmete tief durch und griff nach Winters Händen. „Gib ihr Zeit!“

Ihre Euphorie war verflogen und ich bedauerte umso mehr, dass ich mich zuvor nicht mehr mit ihr hatte freuen können, denn sie nun wie ein Häuflein Elend vor mir sitzen zu sehen, schmerzte sehr.

„Was, wenn sie mir nicht glaubt?“

„Sie ist deine beste Freundin …“

Sie fiel mir ins Wort: „Sie hat sich schon einmal von mir abgewandt, weil sie mir nicht geglaubt hat.“ Auch ohne, dass sie es ansprechen musste, wusste ich, dass sie ihre Zeit in der Psychiatrie meinte. Zu der Zeit waren wir nicht mehr als flüchtige Bekannte gewesen und ich war erst danach mit den Schattenwandlern und dem ganzen Chaos in Berührung gekommen. Dennoch konnte ich mir durchaus vorstellen, dass dieser Abschnitt ihres Lebens zu den Schwersten gehörte. Winter hatte damals erfahren müssen, was es bedeutete, alleine dazustehen.

„So wird es nicht noch einmal“, versicherte ihr eindringlich. „Selbst, wenn sie dir nicht glaubt. Du hast immer noch mich!“

Eine Träne löste sich aus ihrem Wimpernkranz und kullerte über ihre Wange, während sie dankbar lächelte und die Arme um meinen Hals schlang. Ich hörte ihr Schniefen an meinem Ohr, während ich ihr tröstend über den Rücken streichelte.

„Offenbar störe ich“, ertönte plötzlich eine dritte Stimme vor uns. Erschrocken fuhren wir auseinander und erblickten Dairine, die mit nicht zu deutender Miene am Tisch stand und auf uns herabsah.

„Nein, tust du nicht!“, widersprach ihr Winter und schüttelte wild den Kopf. „Setz dich zu uns!“

Sie klopfte zur Einladung auf den Stuhl neben sich, wo sich Dairine nun auch zögerlich niederließ. „Ich habe versucht, dich zurückzurufen“, sagte sie an Winter gewandt.

„Mein Handy ist auf Vibrationsalarm gestellt“, murmelte Winter wie zur Entschuldigung. „Woher wusstest du, dass ich hier bin?“

Dairine verzog belustigt ihre Lippen. „Das war ganz leicht. Du warst nicht zu Hause und nicht bei mir. Deshalb habe ich wohl ganz richtig angenommen, dass du mit Evan zusammen sein musst. Da du kein Mädchen bist, das direkt zu einem Jungen nach Hause geht, musstet ihr euch öffentlich treffen. Und das hier ist das einzige Pub, in das du gehst.“

Das nannte sie leicht? Fasziniert von ihrer Kombinationsgabe sah ich sie an. Vielleicht war es wirklich eine gute Entscheidung gewesen, sie einzuweihen, vorausgesetzt, sie glaubte uns jetzt.

Winter schien das Ganze nicht mehr zu überraschen und fragte nur: „Warum hast du mich denn gesucht?“

Dairine sah ihr geradewegs und ohne Scheu in die Augen: „Was du mir erzählt hast, ist total verrückt!“

Keine von beiden nahm noch Notiz von mir und ich kam mir mehr vor wie ein stummer Beobachter im Kino als wie ein Teil der Unterhaltung.

„Aber ich kenne dich, Winter Rice. Du lachst viel zu selten und bist kein Scherzkeks. Wenn du so einen Mist erzählst, kann es dafür nur eine Erklärung geben: Es muss die Wahrheit sein!“

„Das heißt, du glaubst mir?“, wollte Winter wissen, dabei überschlug sich ihre Stimme fast.

Dairines Miene wurde weicher. „Natürlich glaube ich dir, du dumme Nuss!“

Winter wollte sie vor Freude an sich ziehen, doch da boxte ihr Dairine grob gegen den Oberarm.

„Au! Wofür ist das?“

„Dafür, dass du mich nicht früher eingeweiht hast!“, fauchte Dairine und zog nun ihrerseits ihre beste Freundin in eine Umarmung. „Versuch nie wieder, mir etwas vorzumachen.“

„Nie wieder. Versprochen!“

Nach wenigen Sekunden lösten sich die beiden voneinander und Dairines bohrender Blick richtete sich auf mich. „So, und nun klärt mich auf! Ich will alles wissen.“

Winter und ich sahen uns leicht überfordert an. Keiner von uns wusste, wo wir beginnen und wo wir enden sollten.

Dairine schien unsere Gedanken zu lesen. „Fangen wir doch einmal mit dem Offensichtlichsten an: Seid ihr wirklich ein Paar?“

Das brachte uns beide zum Lachen. „Nein, sind wir nicht“, gab ich zu.

Dairine schlug sich mit der flachen Hand aufs Knie. „Wusste ich es doch!“ Sie verpasste Winter erneut einen Boxhieb. „Dafür, dass du mich im Glauben gelassen hast, dass ich eine wichtige Entscheidung in deinem Leben einfach verpasst hätte.“

Winter rieb sich schmollend über den Oberarm. „Das war nicht meine Idee!“

„War es wirklich nicht“, nahm ich sie in Schutz. „Es war die einfachste Möglichkeit, den anderen zu erklären, warum wir plötzlich so viel miteinander zu reden hatten.“

Für einen Moment schien Dairine zu überlegen, ob sie nun mich boxen sollte, doch sie schien sich mit meiner Erklärung zufrieden zu geben. „Wie können wir meine Erinnerung wieder zurückrufen?“

„Das wissen wir nicht“, gab Winter zu. „Wir müssen es einfach versuchen. Vielleicht erinnerst du dich ja an etwas, wenn wir dir Dinge aus der vergangenen Realität erzählen.“

„Oh ja, das ist spannend“, freute sich Dairine und beugte sich geheimnistuerisch zu uns vor. „Wie war ich da? Genauso wie jetzt?“

Winter schmunzelte. „Ganz genauso, aber nicht ich, sondern du warst mit Evan zusammen!“

Während Dairine ungläubig die Augen aufriss, senkte ich verlegen den Blick. Musste sie ihr ausgerechnet davon erzählen? Nun würde Dairine mich nicht nur in der vergangenen, sondern auch in dieser Wirklichkeit für einen Mistkerl halten, der nur mit ihren Gefühlen gespielt hatte.

Ich spürte ihren musternden Blick auf mir. „Waren wir glücklich?“

„Nein“, gestand ich ihr und schämte mich bei der Erinnerung daran, was ich ihr angetan hatte, in Grund und Boden.

„Warum nicht?“, fragte sie bestürzt.

„Es lag nicht an dir, sondern an mir.“

Sie lachte auf. „Hast du mir das damals auch gesagt? So eine abgedroschene Ausrede? Jetzt sag schon, was war der Grund?“

Ich sah in ihre vor Neugier funkelnden Augen und versuchte mir klar zu machen, dass das vergangen war. Ganz egal, was ich sagte, es würde sie nicht mehr verletzen. Auch Winter nickte mir Mut machend zu. Erstaunlicherweise würde es auch dieses Mal Dairine sein, vor der ich mich als Erstes outete. „Ich war mit dir nur zum Schein zusammen, weil ich nicht wollte, dass irgendjemand erfährt, dass ich eigentlich schwul bin.“

Die Überraschung in ihrem Blick versetzte mich in eine andere Zeit zurück. Ich konnte sie noch genau vor mir sehen. Die Tränen der Wut, Verzweiflung und Enttäuschung, die bei der Wahrheit getrocknet waren. Sie hatte nicht gewusst, was sie denken sollte. Mit vielem hätte sie gerechnet, aber damit nicht. Ihre Reaktion war kühl, aber besonnen gewesen. Alles, was mich interessiert hatte, war gewesen, dass sie mein Geheimnis für sich behielt. Ich hatte sie darum angefleht, ohne Rücksicht auf ihre Gefühle. Und trotz allem, was ich ihr angetan hatte, hatte sie mir zuliebe geschwiegen. Nicht einmal Winter hatte sie damals eingeweiht. Das würde ich ihr niemals vergessen.

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