Schattenchance

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Z serii: Dear Sister #5
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„Das ist jetzt völlig egal!“, schrie ich. „Wir müssen zurück und Dairine da rausholen.“ Ich setzte dazu an, den Wagen mitten auf der Straße zu wenden, doch Eliza legte ihre Hand auf meine.

„Nein, du bleibst hier und ich gehe alleine zurück!“

Überrascht sah ich sie an.

„Ich kann mich in den Schatten bewegen und nach ihr suchen, ohne dass mich jemand bemerkt. Du wartest hier auf mich.“ Sie sah aus dem Fenster, als sie weitersprach, als würde sie es nicht über sich bringen, mir dabei ins Gesicht zu blicken. „Ich will nicht, dass dir etwas passiert.“

Eine Wärme breitete sich in mir aus, die von meinem Herzen ausging. Eliza mochte unausstehlich sein, aber ein winziger Funke ihrer selbst schien immer noch da zu sein. Ich war ihr immer noch wichtig, auch wenn sie es nicht so deutlich zeigte.

„Na gut“, willigte ich ein und zog mein Handy aus der Tasche. „Aber wenn du in fünfzehn Minuten nicht mit ihr zurück bist, rufe ich die Polizei.“

Eliza lachte auf. „Glaubst du, die könnten etwas gegen eine Horde Schattenwandler ausrichten? Die würden sich doch nicht einmal mehr daran erinnern, dass sie je auf dem Grundstück gewesen sind.“

Meine Erfahrung mit den Fomori und der Polizei hätte mich eigentlich lehren sollen, dass ich besser keine anderen Menschen mit in diese Machenschaften hineinziehen sollte. Es hatte immer mit Leichen geendet.

„Aber mach nur, wenn du dich dann sicherer fühlst“, forderte Eliza mich auf und betätigte die Zentralverriegelung des Dolomite, indem sie den Knopf am Fenster herunterdrückte. „Lass niemanden rein“, schärfte sie mir ein, bevor sie sich vor mir in Schatten auflöste. Unruhig und mit ängstlich klopfendem Herzen blieb ich zurück. Würde sie Dairine finden?

5. Eliza

Mittlerweile schaffte ich es mühelos, mich in den Schatten zu bewegen, ohne die Kontrolle zu verlieren. Zu Beginn hatte ich es nicht lenken können, wann oder wie lange ich verschwand, geschweige denn, wo ich wieder auftauchte. Es war immer eine unschöne Überraschung gewesen und gefährlich dazu. Doch seitdem Rhona sich um mich kümmerte, trainierte ich täglich, um meine Fähigkeiten zu perfektionieren. Ich wollte ihr und allen anderen beweisen, dass ich wenigstens zu etwas zu gebrauchen war. Vor allem ihr!

Bevor das Schattenwandlergen zutage getreten war und ich erfahren hatte, dass Rhona meine leibliche Mutter war, hatte sie sich völlig aus unserem Leben herausgehalten. Alles, was sie über mich wusste, war negativ: Eliza hat schlechte Noten, Eliza schwänzt die Schule, Eliza klaut, Eliza betrinkt sich, Eliza kann keine festen Beziehungen eingehen, Eliza lügt, Eliza hat keine Perspektive im Leben. Zugegeben, ich hatte mir nie besonders viel Mühe gegeben, sondern immer nur das getan, wozu ich Lust hatte, aber irgendwie schien ich schon immer gespürt zu haben, dass etwas mit mir nicht stimmte. Seitdem ich von den Schattenwandlern und Rhona wusste, ergab alles plötzlich irgendwie einen Sinn.

Umso mehr verletzte es mich, dass Rhona mich scheinbar nicht bei sich haben wollte. Sie gehörte diesem Geheimbund an und dachte gar nicht daran, mich einzuweihen. Aber damit noch nicht genug, wusste Winter auch noch mehr als ich, woher auch immer. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Rhona sie einweihte und mich außen vor ließ. Warum sollte sie? Winter war nur ein Mensch!

Während ich in den Schatten durch das große Anwesen schlich, sah ich mich erneut um. Den Einrichtungsstil als minimalistisch zu beschreiben, traf es wohl am besten. Hochwertige, teure Designermöbel standen in riesigen Zimmern, während vereinzelte Gemälde die Wände zierten. Kein Schnickschnack! Keine Gefühlsduselei in Form von Fotos oder anderen Erinnerungsstücken. Nichts in diesem Gebäude verriet etwas über den Bewohner: Charles Crawford. Ich hatte Bilder von ihm im Internet gefunden. Er war etwas älter als Rhona, aber mindestens genauso gutaussehend wie sie. Ein Mann mit Charme und Einfluss. Vielleicht lag darin tatsächlich eine Gefahr, aber gleichzeitig reizte es mich, mehr über ihn zu erfahren. War er auch ein Schattenwandler?

Nachdem ich weder Dairines Vater noch sie selbst im unteren Stockwerk entdecken konnte, tastete ich mich die steinerne Treppe in den oberen Stock empor. Rhona schien ihr Wort gehalten und Mr. Cooper nach Hause befördert zu haben. Er würde sich an sie genauso wenig erinnern wie dass er je das Haus seines neuen Nachbarn betreten hatte. Dasselbe galt für die vielen Parteiangehörigen und ihre Begleitpersonen, die im Erdgeschoss orientierungslos und apathisch herumstanden oder saßen. Rhona hatte mir versprochen, mir auch die Gedankenkontrolle beizubringen. Es wäre nützlich, wenn ich Menschen dazu bringen könnte, unangenehme Dinge einfach zu vergessen. Mit Lucas würde ich direkt anfangen. Wenn er nichts von unserem Streit wüsste, könnte er auch nicht mehr wütend auf mich sein und ich bräuchte mich nicht zu entschuldigen. Wir stritten oft. Beinahe täglich. Er wollte, dass ich mich mehr bemühte, ehrlich war und ihm und seinen Freunden mehr Respekt entgegenbrachte. Er versuchte, mich zu etwas zu machen, das ich nicht war. Manchmal fragte ich mich, warum er überhaupt mit mir zusammen sein wollte. War es nur unsere gemeinsame Vergangenheit, die uns verband?

Das obere Stockwerk lag beinahe verlassen da. Das Licht der untergehenden Sonne drang golden durch die großen Glasfenster und ließ Staubkörner in dessen Schein auf und ab tanzen. Je tiefer die Sonne sank, umso stärker wurden die Schatten. Ein Gemälde zu meiner Linken erweckte meine Aufmerksamkeit. Es nahm beinahe die gesamte Wand ein und zeigte zwei Männer, die sich wie aus dem Gesicht geschnitten waren: einer jung und der andere etwas älter. Ich erkannte den Älteren als Charles Crawford von den Bildern aus dem Internet wieder. Der andere musste sein Sohn sein: Will Crawford. Auch über ihn und seinen tragischen Unfalltod vor wenigen Monaten hatte ich gelesen. Wenn Mr. Crawford ein so großes Bild mit seinem verstorbenen Sohn aufhängte, musste er ihm etwas bedeutet haben und er konnte gar nicht so schlecht sein wie Winter glaubte. Warum versuchte Rhona dann, mich von ihm fernzuhalten? Woher kannte sie ihn wohl? Offiziell war meine leibliche Mutter Anwältin, aber ich vermutete, dass sie ihren Lebensunterhalt eigentlich mit etwas anderem verdiente. Etwas, das dunkler und mehr magisch war.

Das Geräusch einer Tür, die geschlossen wurde, ließ mich aufhorchen. Mein Blick fiel auf den goldenen Knauf einer Tür, nicht weit von mir. Vorsichtig riskierte ich durch die Schatten einen Blick ins Innere. Sich als Schattenwandler zu bewegen, war fast wie unsichtbar zu sein, nur dass man auf Schatten angewiesen war, die jedoch meistens irgendwo zu finden waren und waren sie noch so klein. Was ich in dem Zimmer sah, ließ mich erstarren: Ein älterer Mann im Anzug beugte sich auf einer braunen Ledercouch über eine junge Frau, die einen leicht benebelten Eindruck machte. Ich konnte nur ihre Beine und ihre kraftlos herabhängende Hand sehen. Das Leder quietschte unter seinem Gewicht. Lautlos bewegte ich mich, um mehr erkennen zu können. Ich sah langes schwarzes Haar und Augen, so blau wie Eis: Dairine. Sie starrte ausdruckslos vor sich hin und schien gar nicht zu bemerken, wie der fremde Mann sich an den Knöpfen ihrer Bluse zu schaffen machte. Er musste zuvor von ihren Gefühlen getrunken haben und sie so willenlos gemacht haben. Was für ein Widerling! Wut flammte in mir auf und ich verließ ohne zu zögern den sicheren Schutz der Schatten.

Ehe der Mann sich versah, landete er schon durch einen heftigen Stoß meinerseits auf dem Hintern vor der Couch. Völlig fassungslos sah er zu mir auf.

„Mach, dass du wegkommst!“, fuhr ich ihn angeekelt an. „Du solltest dich schämen, deine Kraft zu missbrauchen, um dich an einem armen Mädchen zu vergehen, das dich unter normalen Umständen nicht einmal mit dem Hintern ansehen würde.“ Am liebsten hätte ich ihm vor die Füße gespuckt.

Sein Entsetzen wandelte sich im Bruchteil einer Sekunde in bebenden Zorn. Er rappelte sich auf und musterte mich von oben bis unten. „Wie kannst du es wagen, hier einfach aufzutauchen? Wer bist du?“ Er wollte mich am Handgelenk packen, aber ich schaffte es gerade noch, mich ihm zu entziehen.

„Das tut nichts zur Sache! Ist das etwa eure gängige Art, mit jungen Frau in diesem seltsamen Club umzugehen?“

Er setzte bedrohlich einen Schritt in meine Richtung. „Charles wird sehr interessiert sein zu erfahren, dass sich in seinem Anwesen eine unbekannte Schattenwandlerin rumtreibt.“

„Was wird Charles dazu sagen, wenn ich ihm erzähle, was du im Begriff warst zu tun?“, konterte ich herausfordernd. Er machte mir Angst, doch das ließ ich mir nicht anmerken. Ich hoffte, dass dieser Charles nicht auch einer von seiner Sorte war. Natürlich könnte ich durch die Schatten einfach vor ihm abhauen, aber ich würde ihm gewiss nicht Dairine überlassen.

„Er würde ihn auslachen“, erklang plötzlich eine dritte Stimme und Rhona tauchte in der geöffneten Tür auf. Sie funkelte den Mann verärgert an. „Er würde dich fragen, ob du nicht mannsgenug bist, Frauen bei Bewusstsein für dich zu gewinnen, Duke!“

„Dairine würde höchstens mit ihm reden, um ihm eine Abfuhr zu erteilen“, fauchte ich angewidert. Sobald Rhona den Raum betreten hatte, war meine Angst wie weggeblasen. Ich wusste, dass sie nicht zulassen würde, dass mir etwas geschah.

Duke schien Respekt vor Rhona zu haben, denn er hob beschwichtigend die Hände. „Schon gut, ich lass die Kleine in Ruhe und niemand muss davon erfahren.“

„Gut, dass wir uns wenigstens hierbei einig sind“, erwiderte meine leibliche Mutter schmeichelnd und trat auf den Mann zu, der vor ihr zu schrumpfen schien, obwohl er sich sichtlich Mühe gab, aufrecht stehenzubleiben. Er war mindestens einen ganzen Kopf größer als sie und trotzdem flößte sie ihm Furcht ein. Was immer Rhona für eine Stellung bei diesen Fomori hatte, sie musste mächtig sein.

 

„Du willst ihn einfach so davonkommen lassen?“, rief ich bestürzt aus. „Dann wird er es direkt bei der Nächsten versuchen!“

Mit einem Ruck schnellte ihre Hand nach vorne und sie packte Duke wie einen ungehobelten Schuljungen am Ohr. Er schrie erschrocken auf, als würde ihre bloße Berührung ihn verbrennen.

„Ich mache, was du willst“, wimmerte er erbärmlich.

„Ich weiß“, schnurrte Rhona belustigt. Zu sehen, welchen Einfluss sie auf diesen großen Mann hatte, war wirklich beeindruckend.

Sie sah ihm für mehrere Sekunden tief in die Augen. Die Angst wich aus Dukes Gesicht und als Rhona sein Ohr losließ, machte er auf dem Absatz kehrt, als habe er einen Befehl von ihr erhalten, den ich nicht mitbekommen hatte. Wie ferngesteuert verließ er das Zimmer und ging zielstrebig den Flur in Richtung Treppe entlang.

„Hast du bei ihm die Gedankenkontrolle gewirkt?“, fragte ich baff.

„Er wird sich nicht erinnern, heute jemals auch nur in diesem Zimmer gewesen zu sein, geschweige denn an dich“, erklärte sie mir und wischte sich ihre Hand an ihrer Hose ab, als ekle es sie an, Duke auch nur berührt zu haben.

„Wow! Das ist unglaublich!“, staunte ich. „Wie funktioniert das? Muss ich jemandem nur in Gedanken sagen, was er tun soll und schon macht er es?“

Rhonas Hand schoss erneut blitzschnell nach vorne und sie packte mich grob am Handgelenk. „Vor nicht einmal einer Stunde habe ich dir gesagt, dass du verschwinden und dich nie wieder in diesem Anwesen blicken lassen sollst und trotzdem stehst du schon wieder vor mir“, zischte sie außer sich und drückte so fest zu, dass es wehtat.

„Ich musste Dairine hier rausholen!“, verteidigte ich mich und deutete auf meine willenlose Freundin auf der Couch. „Nicht auszudenken, was dieser Perverse sonst mit ihr gemacht hätte!“

„Du ignorierst meine Befehle!“, fauchte Rhona ungehalten und drehte mir mein Handgelenk herum. Würde sie noch fester drehen, würde sie es mir brechen.

„Was willst du jetzt tun? Mir die Hand brechen? Mein Gedächtnis löschen?“, forderte ich sie frech heraus.

„Verlass dich drauf, beim nächsten Mal mache ich das!“, drohte mir Rhona, ließ mich dann aber schlagartig los. „Verstehst du nicht, dass ich nur versuche, dich zu schützen?“

„Es würde helfen, wenn du mir mitteilen würdest, wovor du mich zu schützen versuchst? Den Fomori? Warum sollten sie eine Gefahr für mich sein? Mit so Typen wie Duke werde ich schon fertig!“

Rhona schüttelte nur den Kopf und vermittelte mir damit den Eindruck, dass ich von nichts eine Ahnung hatte und zu jung und zu dumm war, um es verstehen zu können. „Wir bringen jetzt deine Freundin nach Hause und dann liefere ich dich höchstpersönlich bei Susan ab! Treibt sich Winter etwa auch noch irgendwo hier herum?“

Ich schüttelte energisch den Kopf. „Hältst du mich für so verantwortungslos, dass ich meine kleine Schwester alleine in ein Haus voller Schattenwandler lassen würde?“

Rhona ging nicht darauf ein. Vermutlich hatte ich damit voll ins Schwarze getroffen. „Wo ist sie?“

„Sie wartet im Auto auf mich und wenn wir nicht bald bei ihr auftauchen, wird sie die Polizei rufen.“

„Die Polizei?“, wunderte sie sich. „Was will sie denn mit der?“

Ich lachte über ihre Verblüffung. „Das habe ich sie auch schon gefragt. Sie kapiert nicht, dass die Polizei Schattenwandlern nichts anhaben kann. Wir stehen über allem und jedem!“

„Das glaubst auch nur du“, wies sie mich zurecht. „Du gehst jetzt zu Winter und ich bringe eure Freundin nach nebenan. Dort treffen wir uns!“ Sie sah mich scharf an. „Wage es ja nicht, einen Umweg durch das Anwesen zu nehmen oder ich sorge dafür, dass du dich nicht einmal mehr an deinen eigenen Namen erinnerst!“

Ich nahm ihre Drohung nicht ernst, aber ich schloss nicht aus, dass sie mir eine Lektion erteilen würde, sollte ich mich noch einmal ihrerAnweisung widersetzen, und so folgte ich lieber ihrer Aufforderung.

Winter atmete erleichtert auf, als ich mich direkt neben ihr im Wagen materialisierte. Erleichtert schlang sie mir sogar die Arme um den Hals und klagte: „Du warst verdammt lange weg!“

Seit ein paar Tagen benahm sie sich wirklich seltsam: Irgendwie rührseliger als sonst. Ich hatte sie noch nie verstanden, aber jetzt war sie mir wirklich ein großes Rätsel. Irgendetwas verbarg sie definitiv vor mir.

Gemeinsam fuhren wir zurück zu dem Anwesen der Coopers, wo Dairines Vater ein Nickerchen auf dem Sofa im Wohnzimmer machte. Sein Schnarchen war bis in den ersten Stock zu hören. Rhona erwartete uns mit unserer Freundin bereits in deren Zimmer. Winter ließ sich sofort neben Dairine auf dem Bett nieder und strich ihr behutsam über die Stirn. Ihr war die Sorge ins Gesicht geschrieben und ich ertappte mich dabei wie ich mich fragte, ob Winter genauso fürsorglich reagieren würde, wenn statt ihrer besten Freundin ich dort liegen würde. Auch wenn sie sich in letzter Zeit mir gegenüber anders benahm, so war ich mir sicher, dass sie mich im Grunde genauso wenig leiden konnte wie ich sie. Wir waren zu unterschiedlich, um je Nähe zueinander aufbauen zu können. Sie war die Kluge, ich würde nicht einmal meinen Abschluss schaffen. Sie hatte Freunde, über mich redete jeder schlecht hinter meinem Rücken. Sie machte alles richtig, ich alles falsch. Alles, was uns verband, war unsere gemeinsame Kindheit. Wenn man es genau nahm, waren wir ja nicht einmal richtige Schwestern.

Rhona wollte uns beide nach Hause bringen, doch Winter bestand darauf, bei Dairine zu bleiben, bis diese aufwachen würde. Ich fühlte mich fehl am Platz und so versuchte ich gar nicht erst, mich Rhona zu widersetzen, sondern folgte ihr ohne eine weitere Weigerung. Wir nahmen Winters Triumph Dolomite.

Rhona sagte während der Fahrt kein Wort. Sie hatte die Lippen fest aufeinander gepresst und schien vor Wut zu kochen. Ihre langen blonden Wellen wehten im Fahrtwind, der durch das heruntergekurbelte Fenster in das Innere strömte. Der letzte Regenschauer war erst vorüber, doch der unverwechselbare Geruch nach Regen hing noch in der Luft. Rhona anzublicken war wie in den Spiegel zu schauen. Wir glichen einander so sehr, dass es mir fast unheimlich war. Bezog sich das wohl nur auf das Äußere?

Irgendwann war das Schweigen so unerträglich, dass ich einfach etwas sagen musste. „Hast du dir Sorgen um mich gemacht?“, platzte es aus mir heraus und ich sah sie beinahe flehentlich an. Ich hasste es, wie verzweifelt ich mich dabei anhörte. Wie ein kleines Kind buhlte ich um ihre Aufmerksamkeit. Auch wenn ich es nicht gern zugab, so war mir doch wichtig, was sie von mir dachte.

Sie fuhr zu mir herum, als hätte ich sie gerade beleidigt. „Natürlich mache ich mir Sorgen um dich“, stieß sie hervor. „Du bist die Tochter meiner Schwester!“

Hätte sie mir eine Ohrfeige verpasst, hätte es weniger wehgetan. „Nein, bin ich nicht. Ich bin deine Tochter!“

Sie sah mich an, als redete ich in einer fremden Sprache, die sie nicht verstand. Dann richtete sie den Blick wieder stur auf die Straße. Ich sah, wie ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, als sie das Lenkrad umklammerte. Auch wenn sie nichts erwiderte, erkannte ich, dass meine Worte etwas bei ihr auslösten. Bereute sie den Tag meiner Geburt? Würde sie es rückgängig machen, wenn sie könnte?

Nachdem Rhona mich zu Hause in die Obhut von Susan begeben und ihr eingeschärft hatte, mich ja nicht wieder aus dem Haus zu lassen, langweilte ich mich. Ich hätte durch die Schatten abhauen können, ohne, dass Susan in der Lage gewesen wäre, es irgendwie zu verhindern. Aber was hätte es mir gebracht, außer weiteren, sinnlosen Diskussionen? Wo hätte ich hingehen sollen?

Sonst, wenn mir die Decke auf den Kopf fiel, suchte ich Lucas auf, aber der war scheinbar immer noch sauer auf mich, denn seit dem Abend im devil’s hell hatte er sich nicht mehr bei mir gemeldet. Sollte er doch! Ich würde seiner bescheuerten Forderung, mich bei Evan zu entschuldigen, garantiert nicht nachkommen, da konnte er machen, was er wollte. Weder von ihm, noch von sonst irgendjemandem ließ ich mir etwas vorschreiben. Ich horchte in mich hinein und versuchte zu ergründen, ob ich ihn vermisste. Wir waren noch nicht lange ein Paar, jedenfalls nicht offiziell, gleichzeitig kam es mir vor, als wären wir nie etwas anderes gewesen. Wir hatten die Phase des Verliebtseins schlichtweg übersprungen. Wir wussten alles voneinander, kannten die Schwächen des anderen und vergaßen dabei manchmal, die Stärken zu schätzen. Er ging mir oft auf die Nerven, genauso wie er immer wieder den Kopf über meine unbedachten Aktionen schüttelte.

Hätte man mich gefragt, warum ich mit ihm zusammen war, wäre meine Antwort gewesen: Weil er es so wollte. Nicht, dass ich ihn nicht gemocht hätte – Ich liebte ihn! Ich wollte mit ihm alt werden. Aber die Betonung lag auf alt. Wenn ich irgendwann alles im Leben erreicht und erlebt hätte, wovon ich träumte, dann sollte er der sichere Hafen sein, an den ich zurückkehrte. Ich konnte mir gut vorstellen, wie wir mit Falten im Gesicht und grauem Haar in den Dünen im Sand sitzen würden und der Sonne beim Sinken zusahen. Lucas würde mich anblicken und für den Moment würde ich alle Leiden, die das Alter so mit sich brachte, vergessen und mich wieder wie das schöne und begehrenswerte Mädchen fühlen, das ich jetzt war. Lucas zeigte mir mit jeder Faser von sich, wie sehr er mich liebte. Ich zweifelte nicht daran, dass er alles für mich tun und mir alles verzeihen würde. Aber genau darin lag das Problem: Ich war mir seiner zu sicher. Er stellte keine Herausforderung dar, sondern war langweilig für mich geworden.

Als wir noch kein Paar gewesen waren, hatte er immer wieder versucht, sich von mir fernzuhalten und Beziehungen zu anderen Mädchen aufzubauen. Es war aufregend gewesen, zu sehen, wie lange ich brauchte, um ihn doch wieder zu verführen. Er hatte mir auf längere Sicht nie widerstehen können, egal wie sehr er sich auch bemüht hatte. Es wunderte mich, dass es überhaupt noch Mädchen mit ihm versucht hatten. Denn jeder wusste, dass ich für das Scheitern jeder seiner Beziehungen verantwortlich war. Ich war die Ex, von der er einfach nicht die Finger lassen konnte. Die bloße Erinnerung brachte mich zum Schmunzeln.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte es immer so weitergehen können, aber Lucas wollte das nicht. Er litt unter mir, meinen Launen und meinen Spielchen. Ich verletzte damit nicht nur ihn, sondern auch Winter. Sie konnte es kaum ertragen, dabei zuzusehen, wie ich mit ihm umsprang und ihn verstörte. Es war kein Geheimnis, dass sie in ihn verliebt war. Jeder sah es. Lucas wusste es. Aber auch das schien sich geändert zu haben.

Es lag nicht an Evan, da war ich mir sicher. Ich wusste, wie meine kleine Schwester aussah, wenn sie in jemanden verliebt war. Ich kannte die schmachtenden Blicke, mit denen sie Lucas immer bedacht hatte. Evan sah sie nie so an. Dafür hatte ich ein Funkeln in ihren Augen bemerkt, als sie mich nach diesem Typen ausgefragt hatte. Wie war noch gleich sein Name gewesen? Liam Irgendwas? Moment mal! War es nicht Dearing gewesen? Dearing, wie ihr neuer Sportlehrer? Der heiße Typ, den sie im devil’s hell nicht aus den Augen gelassen hatte. Der heiße Typ, der geglaubt hatte, ich würde es nicht bemerken, wenn er mich beobachtete. War das möglich? Hatte meine kleine, unschuldige Schwester sich wirklich in ihren Lehrer verliebt und das auch schon, bevor er überhaupt an unserer Schule gewesen war? Verübeln konnte man es ihr definitiv nicht, Mr. Dearing war definitiv zu scharf, um Lehrer zu sein. Er sah mehr aus wie ein Rockstar! Tut mir leid, Winter, aber deine Chancen stehen gleich Null. Typen wie er würden sich niemals für ein Mädchen wie sie interessieren. Sie suchten nichts Festes für die Ewigkeit, sondern waren mehr auf ein kleines Abenteuer aus. Er war wie ich, da war ich mir sicher.

Vielleicht könnte ich mir das zum Vorteil machen. Meine Abschlussprüfungen standen kurz bevor und ich hatte mir nicht einmal die Mühe gemacht zu lernen, weil ich wusste, dass ich sie nicht bestehen würde. Aber nun gab es einen Lehrer, dem ich offenbar gefiel. Würden ein Augenaufschlag und ein kokettes Lächeln von mir ausreichen, um ihn dazu zu bewegen, mir die richtigen Antworten zukommen zu lassen? Das würde mir plötzlich ganz ungeahnte Möglichkeiten eröffnen.

Beschwingt beschloss ich, dass es nun Zeit wäre, Lucas von seinem Leiden zu erlösen. Er vermisste mich sicher sehnlichst. In meine Pläne würde ich ihn natürlich nicht einweihen, denn sie würden ihm wahrscheinlich nicht zusagen.

 

Ich versank in den Schatten meines Zimmers und tauchte Sekunden später wieder in Lucas‘ vier Wänden auf. Diese Strecke kannte ich besser als jede andere. Hierbei war es mir auch zum ersten Mal gelungen, den Schattenweg erfolgreich zu meistern. Lucas hatte viel mit mir geübt. Im Gegensatz zu mir war er die Geduld in Person. Zu Beginn war es mir sogar häufiger passiert, dass ich in seinem Zimmer aufgetaucht war anstatt in meinem. Er war mein Anker und mir ging das Herz, auf als ich ihn voller Konzentration über seinen Büchern am Schreibtisch brüten sah. Er wusste gar nicht, wie anziehend er auf mich wirkte, wenn er es nicht sein wollte. Es bereitete mir ein großes Vergnügen, ihn vom Lernen abzulenken. Das war die einzige Herausforderung, die mir in unserer Beziehung geblieben war.

Ohne ein Wort zu sagen, schlich ich mich zu ihm und fuhr mit meinen Händen durch sein volles Haar, das er sonst zu gerne unter dieser blöden Wollmütze verbarg. Dazu schnurrte ich wie ein Kätzchen und hauchte ein Miau in sein Ohr. Zufrieden registrierte ich, wie sich eine Gänsehaut in seinem Nacken und auf seinen nackten Unterarmen ausbreitete, auch wenn er genervt zu mir herumfuhr.

„Was soll das, Eliza? Kannst du nicht wie normale Menschen die Tür benutzen und anklopfen?“

„Ich bin kein normaler Mensch“, grinste ich ihm frech entgegen und ließ mich auf sein Bett sinken. „Außerdem hättest du mir die Tür nicht aufgemacht. Hab ich recht?“

„Ich muss lernen“, versuchte er mich abzuwehren und wendete mir erneut den Rücken zu. „Hast du dich schon bei Evan entschuldigt?“

Unglaublich, dass er mir jetzt damit kam! Ich hatte gehofft, er würde es bei meinem Anblick vergessen.

„Komm, leg dich zu mir“, forderte ich ihn auf, anstatt auf seine Frage einzugehen. Ich zog mir das Shirt aus und warf es gegen seinen Hinterkopf. Er zuckte dabei zusammen und fing es reflexartig auf. Als er den Blick in meine Richtung lenkte, konnte er sein Verlangen nicht verbergen. Zufrieden rekelte ich mich auf seinem Bett. „Komm schon“, gurrte ich verführerisch.

Seine Beine zuckten. Er wollte es! Doch anstatt seinem Körper zu gehorchen, formte er seine Augen zu kleinen Schlitzen und ballte seine Hände zu Fäusten. „Hältst du mich für so schwach?“ Ja, das tat ich! „Glaubst du, ich vergesse, was du gesagt und wie du dich benommen hast, nur weil du im BH vor mir sitzt?“ Nicht? „Du beweist mir damit nur, dass du mich nicht ernst nimmst!“

Er wendete sich erneut ab, während ich empört nach Luft schnappte. Verdammt, warum machte er es mir nur so schwer? Er kannte mich doch und wusste ganz genau, wie schwer es mir fiel, mich zu entschuldigen. Außerdem glaubte ich noch nicht einmal, dass ich gelogen hatte. Keine Ahnung, was das zwischen Evan und Winter war, aber Liebe sah anders aus.

Ich gab ein frustriertes Seufzen von mir, erhob mich von seinem Bett und schlenderte in seine Richtung. Erneut beugte ich mich zu seinem Nacken hinab. „Lucas, sei doch nicht so“, wisperte ich. „Ich will mich nicht mit dir streiten.“ Es war gelogen. Je abweisender er sich verhielt, umso anziehender fand ich ihn. Aber nur solange ich am Ende bekam, was ich wollte. Auch jetzt hatte ich mich noch nicht geschlagen gegeben.

„Dann entschuldige dich bei Evan“, knurrte er, ohne mich anzusehen. Vermutlich fürchtete er, die Kontrolle zu verlieren, wenn ich nur im BH direkt vor ihm stand. Grinsend griff ich nach den Knöpfen meiner Jeans. Lucas fuhr zu mir herum, als hätte er einen Stromschlag bekommen.

„Lass das!“, brüllte er wütend. Ich öffnete mit Unschuldsmiene den ersten Knopf. „Was meinst du?“

Er drückte mir mein Shirt, welches noch auf seinem Schreibtisch gelegen hatte, in die Hand. „Geh!“

Ich blickte ungläubig auf ihn hinab. „Ist das dein Ernst? Du schmeißt mich raus?“ So langsam verlor selbst ich den Gefallen an dem Spiel.

Er fuhr sich gestresst durch sein Haar. „Eliza, vielleicht ist dir dein Abschluss egal, aber ich muss lernen. Außerdem …“

„Du lernst seit Monaten“, beschwerte ich mich gekränkt.

„Außerdem ist es mir ernst mit Evan! Er ist mein bester Freund und ich dulde nicht, dass du ihn beleidigst.“

Ich rollte mit den Augen. Das konnte doch nicht wahr sein! Er wies mich ab, wegen Evan? Ich hatte noch nie eine Abfuhr bekommen. Von niemandem! Lucas würde gewiss nicht der Erste sein! Ehe er sich versah, setzte ich mich auf seinen Schoss und umschloss sein Gesicht mit meinen Händen. „Sieh mich an“, forderte ich ihn auf, doch er versuchte, sich aus meinem Griff zu befreien, ohne dabei grob zu werden.

„Eliza, es reicht!“, rief er wütend aus und war wirklich mit seiner Geduld am Ende.

„Schau mir in die Augen“, drängte ich ihn und kämpfte weiter gegen seine Befreiungsversuche an.

Er gab sich geschlagen und blickte mir mit wütendem Gesicht entgegen. Seine blauen Augen sprühten Funken. Ich dachte daran, wie Rhona Duke angesehen hatte und ihm scheinbar in ihren Gedanken Befehle erteilt hatte. Es hatte nicht schwer ausgesehen.

Um Lucas zu besänftigen, genehmigte ich mir erst einmal eine Ladung seiner ohnehin schob überschäumenden Wut. Ich spürte, wie sich seine Muskeln unter mir augenblicklich lockerten. Sein Blick war in meinem versunken. Wir haben uns nicht gestritten. Ich habe Evan nicht beleidigt. Wir waren nicht einmal im devil’s hell, sondern haben den Abend vor dem Fernseher verbracht. Du bist schon während der ersten Werbepause eingeschlafen. Eigentlich hätte das schon gereicht, doch ich hatte auch keine Lust, den Rest des Tages alleine in meinem Zimmer zu verbringen. Du hast genug für heute gelernt und beschließt, dass du eine Pause brauchst. Deshalb hast du mich angerufen und zu dir gebeten.

Er blickte zu mir wie ein treudoofer Dackel empor. Es schien funktioniert zu haben. Zufrieden lächelte ich und senkte meine Lippen auf seine. Ohne zu zögern erwiderte er den Kuss. Seine Wut verwandelte sich in pure Leidenschaft. Seine Finger strichen über meinen nackten Rücken. Atemlos zog ich mich von ihm zurück. „Erwartest du immer noch eine Entschuldigung?“, presste ich hervor.

Verwirrt sah er mich an. „Wofür solltest du dich entschuldigen?“

Es hatte funktioniert! Ich brauchte nicht Rhona, um mir etwas beizubringen. Ich konnte es ganz alleine! „Dafür, dass ich dich vom Lernen abhalte“, säuselte ich und begann, an seinem Ohr zu knabbern. Er knurrte vor Lust, packte mich am Hintern und warf mich schwungvoll auf sein Bett. Besser hätte es gar nicht laufen können.

„Jeder braucht mal eine Pause“, behauptete er grinsend und zog sich das Shirt vom Kopf, sodass sein gut trainierter Körper zum Vorschein kam. Liam Dearing war ein heißer Lehrer, aber niemand kam gegen Lucas an. Vielleicht konnte ich ihn deshalb einfach nicht freigeben.

„Meine Pausen verbringe ich am liebsten mit dir“, raunte Lucas, bevor er mich mit einer Intensität küsste, die mich alles andere vergessen ließ.