Dear Sister 1 - Schattenerwachen

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4. Anonyme Anruferin

„Hier ist der Notruf neun-neun-neun. Welche Art von Notfall haben Sie zu melden?“

Ein gehetzter Atemstoß drang durch den Telefonhörer, so, als ob jemand rennen würde. „Es passiert wieder“, antwortete eine weibliche Stimme weinerlich.

„Worum geht es, Miss? Sind Sie verletzt?“

Es war ein Rascheln zu hören. Offenbar befand sich die Anruferin im Freien. Der diensthabende Officer sah aus dem Fenster in die finstere Nacht. Es regnete und stürmte: Ein Wetter, bei dem man nicht einmal einen Hund vors Haus jagen würde.

„Es ist zu spät“, schrie das Mädchen plötzlich aufgebracht.

Der Officer runzelte die Stirn und winkte einen Kollegen zu sich.

„Wo befinden Sie sich?“

„Churchtown“, kam die gepresste Antwort.

„Ich schicke sofort jemanden los“, versuchte der Officer das Mädchen zu beruhigen. „Können Sie mir sagen, wo genau Sie sich befinden und was passiert ist? Sind Sie alleine?“

Ein lautes Klappern drang durch den Telefonhörer. Vermutlich hatte die Anruferin das Handy fallen lassen. Es war ein lauter Schrei zu hören, gefolgt von einem Knistern und Rascheln wie bei einem Kampf. Danach brach plötzlich die Verbindung ab.

Alarmiert sah der Polizist auf seinen Computerbildschirm. Die Verbindung war zu kurz gewesen, um eine genaue Ortung zu ermöglich - genau wie beim letzten Mal. Aber es hatte ausgereicht, um festzulegen, dass das Mädchen aus der Nähe des Hafens angerufen haben musste. Der Anruf erinnerte ihn beunruhigend an den schrecklichen Vorfall vor nicht einmal einer Woche. Er hoffte jedoch, dass er sich täuschen würde und schickte einen Streifenwagen los, um nach dem Rechten zu sehen.

Der Polizeiwagen bog in die breite Hafenstraße ein. Es regnete so stark, dass die Scheibenwischer im Dauereinsatz waren und die Polizisten trotzdem kaum etwas in der Dunkelheit sehen konnten. Der Wind peitschte unablässig gegen den Wagen. Doch bereits nach wenigen Metern sahen sie schon den Grund für ihren Einsatz. Ein Stück vor ihnen lag mitten auf der Straße, direkt unter einer Laterne, ein nackter Körper.

Sie verlangsamten das Tempo und brachten den Wagen schließlich ganz zum Stehen. Die beiden Männer sahen sich zögernd an. Der Anblick des letzten toten Mädchens war noch frisch und sie hatten gehofft, so etwas nie wieder sehen zu müssen. Doch jetzt würden sie auch noch die Ersten an dem neuen Tatort sein. Am liebsten wären sie gar nicht ausgestiegen, aber vielleicht konnten sie dem Opfer noch helfen, auch wenn sie sich nur wenig Hoffnung machten.

Seufzend stieß der erste Officer die Tür auf und stemmte sich gegen den Wind. Der Regen peitschte ihm heftig ins Gesicht.

Vorsichtig trat er auf den leblosen Körper am Boden zu. Es war wieder eine junge Frau. Rund um sie herum waren die Reste eines Kreises zu erkennen. Beim letzten Mal war das weiße Pulver Salz gewesen, was erklären würde, warum es sich nun bei dem starken Regen beinahe komplett aufgelöst hatte. Dieses Mal gab es keinen Baum, der dem Leichnam Schutz bot.

Ihr Körper war übersäht von frischen, blutigen Schnittwunden. Die größte zog sich über ihre Kehle, was vermutlich zum Tod der Frau geführt hatte. Es war unnötig, zu überprüfen, ob ihr Herz noch schlug. Für die Frau gab es keine Rettung mehr. Es war wie ein Déjà-vu, alles war wie beim ersten Opfer.

Hastig eilte der Mann zurück zu dem Wagen, um den Leichenfund zu melden.

5. Winter

Wir sahen die Polizeiwagen schon von Weitem vor der Schule stehen. Alle Schüler drängten sich an die Fenster und spähten neugierig nach draußen. Lucas drückte meine Hand etwas fester. Sofort ging das Gerücht um, dass die Polizei bestimmt eine weitere Leiche gefunden hätte. Komischerweise dachte ich dabei an Eliza, obwohl der Ausflug nach London mittlerweile eine Woche zurück lag.

Als wir aus dem Schulbus stiegen, wurden wir von zwei Lehrern in Empfang genommen, die uns im Gänsemarsch zu der Aula führten, in der alle Schüler sich versammeln mussten. Lucas und ich mussten uns voneinander trennen, da wir uns zu unseren Jahrgangsstufen setzen sollten. Dairine winkte mir von der zweiten Reihe aus zu. Sie hatte mir einen Platz freigehalten, das machte den Abschied von Lucas etwas leichter. Er hauchte mir einen kurzen Kuss auf die Lippen und flüsterte schelmisch: „Ich lasse dich nicht aus den Augen.“

Wärme durchflutete meinen Körper und ich hielt seine Hand etwas länger fest als nötig, bevor sich unsere Finger endgültig voneinander lösten und ich zu Dairine eilte. Ich drängte mich an meinen lauten und aufgeregten Mitschülern vorbei und ließ mich erleichtert neben meine Freundin sinken. „Weißt du, was hier los ist?“

Dairine zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich haben sie wieder eine Leiche gefunden.“

Es hörte sich vielleicht eigenartig an, wie lässig wir über das Thema sprachen, aber solange man nicht betroffen war, stellte sogar ein Mord eine willkommene Abwechslung in einer Kleinstadt wie Wexford dar.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis alle Schüler endlich Platz genommen hatten und unser Schuldirektor Mr. Sutherland auf die Bühne trat. Er klopfte gegen das Mikrophon, sodass ein lautes Knistern zu hören war. Das aufgeregte Gemurmel verstummte augenblicklich.

„Guten Morgen liebe Schüler und Lehrer“, eröffnete er seine Rede. „Wir sind heute hier zusammengekommen, weil ich euch und Ihnen schlechte Nachrichten überbringen muss. Aus diesem Anlass ist auch die Polizei dazugekommen.“ Er machte eine Pause und holte einmal tief Luft. „In der letzten Nacht hat es einen weiteren Leichenfund gegeben“, sagte er und sprach damit aus, was wir alle bereits vermutet hatten. Sofort erklang wildes Stimmengewirr und mehrere Arme schnellten in die Höhe, um Fragen zu stellen. Doch Mr. Sutherland hob nur abwehrend die Hände. „Bitte, beruhigt euch! Ich bin noch nicht fertig.“ Er wartete, bis es wieder still wurde, dann fuhr er fort: „Es handelt sich bei dem Opfer um ein Mädchen aus unserer Schule.“

Es war totenstill. Die Spannung, die in der Luft hing, war deutlich zu spüren. „Es ist Alannah McClary.“ Erneut brach wildes Stimmengewirr los. Auch Dairine keuchte erschrocken auf. Alannah war in unsere Stufe gegangen. Wir hatten mit ihr den Geschichts- und Kunstkurs besucht. Sie war mit uns in London gewesen.

„Krass“, flüsterte Dairine geschockt. Auch ich konnte es kaum glauben. Nicht, dass Alannah und ich je mehr als ein Wort der Begrüßung miteinander gewechselt hätten, aber immerhin hatte ich sie gekannt. Sie wohnte mit ihrer Familie in Churchtown und nahm somit immer denselben Bus wie Lucas und ich. Verstohlen sah ich mich nach ihm um. Ich entdeckte sein Gesicht drei Reihen hinter mir. Er lächelte mir unglücklich zu.

„Es ist wichtig, dass wir jetzt Ruhe bewahren“, ermahnte Mr.Sutherland uns streng. „Die Polizei ist hier, um einigen Schülern ein paar Fragen zu stellen. Ich bitte euch, ihnen so gut es geht zu antworten, egal wie unbedeutend euch die Fragen auch erscheinen mögen. Bis der Mordfall aufgeklärt ist, wird immer ein Streifenwagen vor der Schule stehen. Sollte euch in den nächsten Tagen noch etwas zu Alannah einfallen, was der Polizei irgendwie weiterhelfen könnte, zögert nicht, zu den Beamten zu gehen. Wir müssen in dieser schweren Zeit mehr denn je zusammenhalten und die Polizei ist auf unsere Mithilfe angewiesen, um dieses schreckliche Verbrechen so schnell wie möglich aufklären zu können. Bitte geht nun in eure Kurse. Ich werde die Schüler, die zur Befragung benötigt werden, über Lautsprecher ausrufen lassen.“

Kaum dass der Direktor mit seiner Rede fertig war, brach erneut lautes Gerede aus. Einige Mädchen weinten sogar. Dairine und ich jedoch nicht. Wir blickten uns nur ratlos an. Uns fehlten einfach die Worte.

Wir gingen nebeneinander hinter den anderen Schülern her, bis wir abbogen, um zu den Kunsträumen zu gelangen. Ausgerechnet jetzt einen Kurs besuchen zu müssen, den wir sonst mit der Verstorbenen gehabt hätten, war mehr als eigenartig. Wir betraten schweigend den Kursraum und nahmen unsere gewohnten Plätze ein, während Mrs. Murphy vor dem Lehrerpult wartete. Alannahs Platz blieb leer. Ich ertappte nicht nur mich selbst, sondern auch jeden anderen Schüler dabei, wie er immer wieder auf ihren Platz schielte. Ich konnte Alannah bildlich vor mir sehen. Sie war genau wie ich eine ruhige Schülerin gewesen. Jemand, den man kaum wahrnahm. Das Auffälligste an ihr waren ihre hellblauen Augen und die schwarzen langen Haare gewesen. Sie war eine gute Schülerin gewesen, besonders in Kunst. Ihre Bilder gehörten immer zu den Besten. Sonst wusste ich relativ wenig über sie. Geschwister schien sie keine zu haben, denn sie hatte im Bus immer alleine gesessen.

Mrs. Murpy erwähnte Alannahs Tod nicht noch einmal, stattdessen fuhr sie mit dem Unterricht fort, als wäre nichts gewesen. Die erste Lautsprecherdurchsage erfolgte bereits wenige Minuten nach Unterrichtsbeginn. Es wurden fünf Mädchennamen vorgelesen, wovon drei auch den Kunstkurs besuchten. Es waren die Mädchen, die schon in der Aula geweint hatten, offenbar Freundinnen von Alannah. Sie verließen eilig den Raum, während ich ihnen gedankenverloren hinterherstarrte. Die Liste der Personen, die man befragen würde, wenn man mich tot aufgefunden hätte, wäre sehr überschaubar. Außer meiner Eltern, Lucas und Dairine gäbe es da kaum jemanden.

In der nächsten Unterrichtsstunde zuckte ich erschrocken zusammen, als durch den Lautsprecher erst Lucas und unmittelbar danach auch mein Name - Winter Rice - aufgerufen wurde. Eilig und mit hochrotem Kopf stand ich auf und warf meine Stifte, den Block und die Schulbücher in meine Tasche. Obwohl die Befragung reine Routine war, fühlte ich mich, als hätte ich etwas verbrochen. Zudem war es mir ein Rätsel, warum man Lucas und mich ebenfalls zum Direktor rief. Wir hatten beide nichts mit Alannah zu tun gehabt, wenn man von den Busfahrten mal absah. „Bis später“, flüsterte Dairine, bevor ich den Kursraum verließ und gehetzt durch die leeren Schulflure lief. Kurz vor dem Zimmer des Direktors kam mir Lucas aus einem anderen Treppenhaus entgegen. Er konnte die Angst von meinem Gesicht ablesen und streckte sofort seine Hand nach mir aus. Ich ergriff sie und spürte direkt, wie ich unter seiner Berührung ruhiger wurde. „Mach dir keine Sorgen. Die Polizei befragt jeden aus der Umgebung von Churchtown“, redete er mir gut zu und nahm mit mir auf der Bank vor dem Zimmer des Direktors Platz. Neben uns saß noch ein weiterer Junge, den ich ebenfalls nur aus dem Schulbus kannte. Bestimmt hatte Lucas recht.

 

Lucas war vor mir dran und seine Befragung dauerte nur wenige Minuten, bis die Tür wieder aufging, er herauskam und ich hineingerufen wurde.

„Ich warte auf dich“, raunte er mir leise zu und tätschelte mir im Vorbeigehen die Schulter.

In dem Zimmer stand der große Schreibtisch des Direktors, hinter dem heute zwei Polizisten saßen - Ein Mann und eine Frau. Der Direktor oder ein anderer Lehrer waren nicht anwesend.

Vor dem Schreibtisch standen zwei Stühle. Auf einem davon ließ ich mich leicht zittrig nieder.

„Hallo Winter“, begrüßte mich die Frau freundlich. „Du warst in derselben Stufe wie Alannah, oder?“

Ich nickte eilig. „Wir hatten aber nicht viel miteinander zu tun“, fügte ich hinzu.

„Aber ihr seid mit demselben Schulbus gefahren, oder?“

Mir gefiel die Art nicht, wie sie die Fragen stellte. Sie kannten doch bereits die Antworten. Dennoch nickte ich erneut.

„Ist dir in letzter Zeit vielleicht etwas an Alannah aufgefallen? Hat sie sich irgendwie anders benommen?“

Ich ließ die letzten Wochen Revue passieren und versuchte mich an Alannah zu erinnern. Sie saß immer in der zweiten Reihe, auf der linken Seite, direkt am Fenster. Meistens hatte sie Kopfhörer in den Ohren und hörte Musik. Ich habe sie nie beobachtet, denn dafür gab es keinen Grund. Deshalb schüttelte ich den Kopf.

„Hast du jemanden bei ihr gesehen, den du nicht kanntest?“

Es war schwer, sich an jemanden zu erinnern, der nie etwas getan hatte, um aus der Menge hervorzustechen. „Nein, nicht das ich wüsste“, erwiderte ich deshalb.

„Vor einer Woche wurde ein anderes Mädchen umgebracht. Sie kam aus London und ihr Name war Rebekha O’Reilly. Kanntest du sie vielleicht?“

Ich schüttelte erneut den Kopf. „Nein, tut mir leid.“

Plötzlich meldete sich der männliche Polizist zu Wort: „Deine Schwester Eliza ist vor einem halben Jahr verschwunden, oder?“

Es war wieder eine dieser Fragen, bei denen er die Antwort ohnehin schon kannte. „Ja“, antwortete ich nur knapp und wusste nicht, was das mit diesem Fall zu tun haben sollte. Meine Schwester war immerhin nicht tot aufgefunden worden. Oder hatte sie etwas mit den zwei Toten zu tun?

„Hast du danach je wieder etwas von ihr gehört?“

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich an den Brief und den seltsamen Vorfall im Black Rabbit, doch dann schüttelte ich nur den Kopf. „Nein.“

„Kannte deine Schwester Alannah?“

Mich überraschte diese Frage. „Ich denke nicht, jedenfalls nicht besser als ich.“ Doch noch während ich es aussprach, erinnerte ich mich an einen Streit, den ich kurz vor Elizas Verschwinden auf einem Schulfest beobachtet hatte. Kevin O’Brian hatte die Beziehung zu Alannah wenige Tagen zuvor beendet und es war das Gesprächsthema Nummer eins gewesen, weil die beiden trotz ihres jungen Alters bereits seit vier Jahren miteinander gingen. Auf dem Schulfest hatte ich hinter der Turnhalle Kevin mit Eliza gesehen. Sie hatten rumgemacht und ich wusste sofort, dass nur eine Person wie meine Schwester dazu in der Lage wäre, eine langjährige Beziehung zu zerstören. Ich hatte nie jemandem etwas davon erzählt, weil ich mich zu sehr für Eliza schämte. Vermutlich wollte sie nicht einmal etwas von Kevin, sondern nur sehen, ob sie ihn rumbekommen konnte. Sie war ein Miststück!

Doch auch jetzt sagte ich nichts. Wahrscheinlich hatte es ohnehin nichts mit dem Mord zu tun und ich wollte Kevin nicht in Schwierigkeiten bringen. Er war genau wie Alannah nur ein Opfer meiner Schwester gewesen.

„Gut“, schloss die Polizistin. „Wenn dir noch etwas einfällt, kannst du jederzeit zu uns kommen, egal, wie unwichtig es dir auch erscheinen mag.“

„Okay“, sagte ich und erhob mich. Meine Hände waren schweißgebadet. Ich verabschiedete mich höflich und eilte aus dem Zimmer. Vor dem Büro wartete Lucas auf mich.

„Alles okay?“, fragte er besorgt und nahm meine Hände in seine. Ich schob ihn zum Treppenhaus.

„Sie haben mich nach Eliza gefragt“, gestand ich ihm.

„Mich auch“, erwiderte er traurig.

Ich sah ihn panisch an. „Hast du ihnen etwa von dem Brief erzählt?“ Ich würde vor den Polizisten als eine Lügnerin dastehen.

„Nein, natürlich nicht“, beruhigte mich Lucas sofort. „Eliza hat doch geschrieben, dass du ihn nicht deinen Eltern zeigen sollst. Das schließt wohl die Polizei mit ein.“

Es ärgerte mich, dass Eliza ihn zu dieser Entscheidung gebracht hatte. Lieber wäre es mir gewesen er hätte geschwiegen, um mich zu schützen. Eliza war nicht einmal da und trotzdem beeinflusste sie unsere ganze Beziehung. Aber wenn wir nun schon über sie sprachen, konnte ich Lucas vielleicht auch in den Streit einweihen.

„Sie haben mich gefragt, ob Eliza in einer Verbindung zu Alannah stand. Ich habe es verneint, aber ich bin mir nicht sicher, ob es richtig war.“

„Warum?“, wollte Lucas sofort neugierig wissen und ich erzählte ihm von meiner Beobachtung. Sobald ich Kevin erwähnte, verhärteten sich Lucas‘ Gesichtszüge, dennoch ließ er mich ausreden.

„Kevin ist ein Großmaul. Bestimmt hat er Eliza genauso hintergangen wie Alannah.“

Ich sah ihn skeptisch an. Das war typisch für Lucas! Er hatte Eliza schon immer verteidigt. „Das glaubst du doch selbst nicht.“

„Doch!“, rief Lucas überzeugt aus. „Wer weiß, vielleicht ist Eliza sogar seinetwegen abgehauen?“

Eliza hatte Kevin nicht mit einem Wort in ihrem Brief erwähnt und es sah meiner Schwester auch nicht im Geringsten ähnlich, sich von jemandem in die Flucht schlagen zu lassen. Ich schüttelte ungläubig den Kopf.

Wir waren mittlerweile vor meinem Kursraum angekommen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es in zehn Minuten zur Pause klingeln würde. „Lass uns in die Stadt gehen“, schlug ich Lucas vor.

Er sah mich entsetzt an. „Und was ist mit der Schule?“

„Lass uns schwänzen und lieber einen Kaffee trinken. Das haben wir uns nach der Befragung definitiv verdient.“

Lucas wirkte verunsichert und ließ meine Hand los. „Wir können nach der Schule immer noch einen Kaffee trinken gehen.“

Ehe ich etwas erwidern konnte, klopfte er für mich gegen die Tür des Klassenzimmers.

„Ich hol dich ab“, sagte er, gab mir einen Kuss auf die Wange und ließ mich mit einem letzten Zwinkern zurück. Geknickt schlurfte ich enttäuscht auf meinen Platz. In solchen Momenten hasste ich Lucas‘ Verantwortungsbewusstsein. Ich hatte noch nie geschwänzt, aber das lag einzig und alleine daran, dass Lucas mich jedes Mal davon abhielt. Bei Eliza hatten seine Worte jedoch nie Wirkung gezeigt. In ihrem letzten Halbjahr hatte sie mehr gefehlt, als dass sie anwesend gewesen war.

Dairine blickte mich fragend an und ich zuckte mit den Schultern. Es gab nichts zu erzählen. Ich wollte mit ihr nicht über Eliza reden. Nachdenklich drehte ich meinen Kopf zum Fenster und blickte auf den vollen Parkplatz hinunter. Einige der älteren Schüler hatten ein eigenes Auto. Ich beneidete sie darum und zählte schon jetzt die Tage bis zu meinem achtzehnten Geburtstag: 135.

Eines der Autos fuhr plötzlich aus einer Parklücke. Das war ungewöhnlich, immerhin war der Unterricht noch nicht vorbei. Zudem war das Auto ein gelber Sportwagen. Es hätte sich schon längst rumgesprochen, wenn einer der Lehrer oder gar einer der Schüler mit so einer Luxuskarosse fahren würde. Ich beobachtete das Auto weiter und ließ sofort meinen Stift fallen, als ich die Fahrerin erkannte: Eliza.

Das Auto fuhr gerade aus der Ausfahrt und bog auf die Straße ab, als ich die Lehrerin meinen Namen rufen hörte.

„Miss Rice, würden Sie bitte aufhören, aus dem Fenster zu starren!“

Ich drehte mich wie in Trance zu ihr um und sie verstummte sofort. „Geht es Ihnen nicht gut? Sie sind ganz blass!“

Ich schüttelte den Kopf und stürmte aus dem Klassenzimmer. Das konnte unmöglich ein Zufall gewesen sein! Erst in London und jetzt hier - Es musste Eliza sein!

Dairine kam mir hinterher und ließ sich neben mir auf der Treppe vor dem Schuleingang nieder. „Was ist denn nur los mit dir?“, fragte sie besorgt. „Erst kippst du in London um und jetzt verlässt du fluchtartig das Klassenzimmer. So kenn ich dich gar nicht.“

Ich seufzte und ließ meinen Kopf auf meine angewinkelten Knie sinken. Wie sollte ich ihr nur begreiflich machen, was mir zurzeit im Kopf herumging? Dairine hatte mir schon in London nicht geglaubt. Würde es etwas ändern, wenn ich jetzt schon wieder behauptete, meine verschollene Schwester gesehen zu haben? Oder würde sie mich dann erst recht für verrückt erklären? Aber lieber würde ich mit ihr als mit Lucas über meine Schwester reden, der ohnehin immer nur das Beste in Eliza sah. Bei Dairine bräuchte ich mir wenigstens keine Sorgen zu machen, dass sie direkt zur Polizei rennen würde. Ich wollte gerade zum Sprechen ansetzen, als der Streifenwagen an uns vorbeifuhr und der Polizist, der bei der Befragung dabei gewesen war, mich misstrauisch aus dem Fenster heraus musterte. Das war definitiv nicht der richtige Ort, um ein Geheimnis preiszugeben. „Kann ich heute nach der Schule mit zu dir kommen?“, fragte ich stattdessen. Dairines Augen weiteten sich überrascht, da ich nie zuvor den Wunsch geäußert hatte, sie zu Hause zu besuchen, obwohl sie mich schon mehr als einmal zu sich eingeladen hatte. Ich hatte mir immer wieder eine Ausrede einfallen lassen, bis sie mich nicht mehr gefragt hatte. Eigentlich verbrachte ich meine freie Zeit lieber mit Lucas, aber der war gerade einfach nicht der richtige Ansprechpartner für mich. Vielleicht würde es mir guttun, mal mit einem Außenstehenden zu sprechen. Jemand, der Eliza nicht kannte.

Dairines Überraschung wich einem glücklichen Grinsen. „Klar! Meine Eltern kommen erst heute Abend wieder. Wir haben das ganze Haus für uns.“

„Du Glückliche!“, stöhnte ich. „Meine Mutter bewacht unser Haus wie ein Schießhund.“