Die Anbetung der Könige

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Die Anbetung der Könige
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DIE ANBETUNG DER KÖNIGE
MAXIMILIAN MONDEL

unveränderte eBook-Ausgabe

© 2022 Seifert Verlag

1. Auflage (Hardcover): 2021

ISBN: 978-3-904123-59-4

ISBN Print: 978-3-904123-46-4

Umschlaggestaltung: Maximilian Helten & Michi Schwab, Union Wagner, unter Verwendung eines Fotos von http://www.zeno.org/nid/20004130715

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Seifert Verlag GmbH

Ungargasse 45/13

1030 Wien

www.seifertverlag.at

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INHALT

Danksagung

Personen

Ein lukratives Angebot

Infrarote Einblicke

Ungebetene Gäste

Eine ereignisreiche Nacht

Der Schlange auf der Spur

Ein arger Imageschaden

Ein herber Verlust für die Kunstwelt

Spritztour Richtung Mittelmeer

Angst vor Alleingängen

Ein perfekter Arbeitsplatz

Eine kulturelle ­Katastrophe ersten Grades

Warten auf eine ­Lösegeld­forderung

Mausetot

Kulturbanausen an ­vorderster Front

Der erste Arbeitstag

Was man über die Gemälde­restaurierung wissen muss

Verdachtsmomente

Vertrauensstiftende Maßnahmen

Entschleunigung im Kloster

Millionenforderung

In der Ruhe liegt die Kraft

Ausflug ins Grüne

Im Garten Eden

Ein Sonntag im Labor

Wie original ist ein Original?

Die drei ­unverdächtigen Verdächtigen

Stimmungstief

Gewissheit

Farben im Kopf

Auf der Zielgeraden

Gedankenspiele

Showdown mit Panoramablick

Die Nadel im Heuhaufen

Einsame Entscheidungen

Ein Ausbruch mit Folgen

Eine Beretta in der Berlinetta

Tagsüber im Museum

Das wird ja immer bunter!

Späte Einsicht

Landpartie

Verpackt und zugeklebt

Ein wehleidiger Baulöwe

Unverhofft kommt oft

Ein Leonardo geht auf Reisen

Ein Rückschlag und ein Lichtblick

Wiedersehen

Das Comeback des Jahres

Rätselhafte Rückgabe

Gartenspaziergänge

DANKSAGUNG

Ich danke meinen Eltern, Margaretha Mondel und Manfred Mondel, sowie meiner Ehefrau, Mag. Ulla Ornauer-Mondel, die mir beim Zustandekommen der »Anbetung der Könige« mit Rat und Tat zur Seite gestanden sind. Außerdem danke ich meiner Verlegerin Dr. Maria Seifert für das mir und meiner Arbeit entgegengebrachte Vertrauen.

PERSONEN

Benedetti Moreno: dienstältester Gemälderestaurator des Opificio delle Pietre Dure e laboratori di Restauro OPD

Bruzzo Gianni: Chefportier des OPD

Collocini Maurizio: Direktor des OPD

Collocini Marcella: Tochter des OPD-Direktors

Fiore Giovanni: Nachtportier des OPD

Gasperini Stefano: Portier des OPD

Poletti Massimo: Kaufmännischer Leiter des OPD

Rizzoli Cesare: Assistent des OPD-Direktors Maurizio Collocini

Bianchi Alessio: Experte für Riesenschlangen

Schillaci Gabriele: Kunststudent

Bertini Giuliano: Vice Brigadiere der Autobahnpolizei

Calabrese Enrico und De Luca Gianni: zwei ­Carabinieri

Carbone Davide: Chef der Spurensicherung der ­Carabinieri

Dal Fiesco Domenico: Capitano der Carabineri

Donati Marcello: Brigadiere der Carabineri

Frattini Chiara: Ermittlerin der Versicherungsgesellschaft Art Exhibition Insurance of Europe AEIOU

Ferro Giuseppe: Direktor der Uffizien

Fusso Dario: Leiter der permanenten Ausstellungen der Uffizien

Corridori Vincenzo: Brigadiere des Comando Carabinieri Tutela Patrimonio Culturale TPC

De Gennaro Colonello Andrea: Polizeipräsident von Florenz

Lezzerini Luca: Capitano des TPC

Moretti Antonio: Brigadiere des TPC

Stronati Tenente Michele: Sekretär des Polizeipräsidenten De Gennaro

Mancini Guido: Kulturminister

Marchetti Michele: Ministersekretär

Hammond Darren Francis »Francesco«: Journalist, Immobilienhändler und Kunstfreund

Hammond Sofia: Hammonds Ehefrau

Laura: Hausmädchen der Hammonds

Park Chung Hee: Lieferant des Sushi-Restaurants Pagoda

Coppola Giuseppe: Lieferant des Malereibedarfs­unternehmens Piccini

Forchetti Claudio: Marcella Collocinis Freund

Forchetti Alessandro: Bauunternehmer und Vater des Claudio Forchetti

Galuzzi Simone: Chronik-Redakteur »La Nazione«

EIN LUKRATIVES ANGEBOT

Francesco«, stellte sich der so um die 60 Jahre alte, groß gewachsene Mann bei ihm vor, nachdem Gabriele Schillaci dem nicht mehr ganz taufrischen Fiat Cinquecento seiner Freundin Giulia entstiegen war. Auf dem ebenso unscheinbaren wie verwaisten Parkplatz des rund 75 Kilometer von Bologna entfernten Provinzflughafens von Forli standen nur vereinzelt Autos. Ohne Umschweife wollte der Fremde von Schillaci wissen, ob es denn seine persönlichen Lebensumstände erlaubten, dass er sich in den kommenden drei bis sechs Monaten einzig und allein diesem einen Projekt widme. Davon war am Telefon, als ein Treffen wegen »eines lukrativen Auftrags« vereinbart worden war, freilich keine Rede gewesen. Nur davon, dass es sich um eine aufwändige und diffizile Kopie eines Renaissancegemäldes handle. Und dass man ihn, Schillaci, empfohlen habe, da er an der Fakultät für Restaurierung von Kulturgütern an der Universität Bologna zu den besten Studenten seines Fachs gehöre und mit gelungenen Kopien alter Werke von sich reden gemacht habe. Wenn das Honorar stimmt, male ich dir, was immer du willst, hatte sich Schillaci damals gedacht. Und wenn er sich darüber hinaus in der Wiederherstellung von alten Gemälden weiterentwickeln könnte, umso besser. Warum ihn Francesco, der eine unaufdringliche Eleganz ausstrahlte, für 23.00 Uhr auf den Parkplatz des Flughafens von Forli beordert hatte, war dem angehenden Restaurator allerdings schleierhaft. Aber gut, wer zahlte, schaffte schließlich an.

 

»Signore Schillaci!«, holte ihn der Mann namens Francesco wieder ins Hier und Jetzt und blickte rundum, als wollte er sich vergewissern, dass niemand in der Nähe sei. »Können Sie sich vorstellen, für mich zu arbeiten? Wenn ja, kann es in einigen Tagen losgehen.«

Die volle Konzentration auf dieses eine Projekt, das, wie Francesco ausdrücklich betonte, mit einem sehr gut dotierten Honorar belohnt werden würde, bedeutete zum einen, dass niemand auch nur ein Sterbenswörtchen darüber erfahren dürfe. Zweitens würde die Arbeit an besagtem Gemälde fernab von Bologna vonstatten gehen, und drittens müsste er sich für die Zeit des Projekts aus seinem normalen Leben ausklinken.

»Inwiefern ausklinken?«, wollte der schlanke, hochgeschossene Kunststudent von Francesco wissen.

»Sie sind für die Zeit des Projekts an einen Ort gebunden und werden keinen Kontakt nach außen haben«, erklärte Francesco. »Erzählen Sie Ihrer Freundin etwas von einem Forschungspraktikum in Buenos Aires. Dort hat Ihre Fakultät doch eine Außenstelle, oder?«

Dieser Francesco hatte sich anscheinend vorbereitet. Und das gefiel Gabriele Schillaci.

Die Geschichte hatte nun eine Wendung genommen, an der geklärt werden musste, was Francesco unter einem sehr gut dotierten Honorar verstand.

»50.000.«

»Wie bitte?«, wäre es fast aus Schillaci hervorgesprudelt. Stattdessen fragte er nur: »Euro, oder?«, um irgendetwas Sinnvolles von sich zu geben. »Natürlich. Netto. Bar auf die Hand. Und steuerfrei«, konterte Francesco trocken.

Gegenüber Giulia würde ihm schon eine glaubwürdige Ausrede einfallen, dachte sich Schillaci. Und außerdem müsste es doch möglich sein, Mittel und Wege zu finden, um ab und an mit seiner Freundin in Kontakt zu treten. Schließlich sah ihm dieser Francesco nicht gerade wie jemand aus, der sein Tun auf Schritt und Tritt verfolgen würde. Andererseits könnte sein Arbeitsort auf einer Bohrinsel liegen oder auf einem Frachtschiff oder in einer Höhle in den Bergen, einem Zelt in der Wüste … egal, 50.000 Euro waren ein Argument, das man nicht in den Wind schlagen konnte, und schließlich würde auch Giulia davon profitieren. Für eine jener Miniaturen berühmter Gemälde, die er an Wochenenden in der Innenstadt von Florenz oder in San Gimignano an Touristen verkaufte, bekam er gerade mal 150 Euro. Und davon musste er schließlich noch Material- und Fahrtkosten abziehen. Selbst die eher seltenen Aufträge, eine originalgetreue Kopie eines Caravaggio, Raffael, Leonardo oder Filippo Lippi herzustellen, brachten ihm bestenfalls 500 Euro ein. Aber er wollte sich nicht beklagen, immerhin musste er nicht für 7,50 Euro die Stunde Bistecca florentina mit Pommes frites servieren oder für noch weniger im Weingarten schuften. Brutto, wohlgemerkt, sinnierte Schillaci, während sich Francesco daranmachte, den Ort des Geschehens zu verlassen. Wie er ihn erreichen könne, wollte Schillaci noch von ihm wissen, während sie vom Lichtkegel eines Autos gestreift wurden, das gerade in den Parkplatz eingefahren war.

»Ich melde mich bei Ihnen, wenn es so weit ist«, erklärte Francesco knapp, wünschte ihm einen schönen Abend, setzte sich in einen schwarzen Jeep Cherokee und entschwand in Richtung Autobahn.

Und wenn dem jungen Schillaci die 50.000 Euro im Laufe der Wochen zu wenig sind, dann erhöhe ich eben um 10.000 Euro, dachte er sich. Und dann noch einmal um 10.000, und wenn es sein muss, um weitere 10.000. Am Geld sollte es nicht liegen. Schillaci hatte auch im persönlichen Gespräch einen guten Eindruck bei ihm hinterlassen. Sein Auftritt bestätigte nur das, was er schon über ihn in Erfahrung gebracht hatte. Und die Arbeit des 25-jährigen jungen Mannes sprach ohnehin für sich. Auch sonst wirkte der Kunststudent solide und formbar. Und Linkshänder war er auch noch. Als er zwei Stunden später in die Einfahrt zu seinem Anwesen einbog, hatte Francesco ein rundum gutes Gefühl.

INFRAROTE EINBLICKE

Die Werkstätten des Opificio delle Pietre Dure e laboratori di Restauro befinden sich in der Fortezza da Basso im Zentrum von Florenz. Die Festungsanlage aus dem 16. Jahrhundert liegt an der Viale Filippo Strozzi, in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs Santa Maria Novella. Neben der renommierten Restaurationswerkstatt beherbergt die Fortezza da Basso mit ihrer imposanten Festungsmauer auch Konzert- und Veranstaltungssäle für Kongresse und Konferenzen.

Der Vormittag des 4. April war ein Vormittag wie viele andere im toskanischen Frühjahr. Noch etwas kühl, aber freundlich. Es war fünf Minuten vor elf, als sich Darren F. Hammond, freier Redakteur der britischen Tageszeitung »The Guardian«, beim Portier des Opificio delle Pietre Dure einfand und diesem den ausgedruckten E-Mail-Verkehr mit Cesare Rizzoli aus dem Direktionssekretariat sowie einen britischen Presseausweis präsentierte. Er habe um elf Uhr einen Termin bei Direttore Collocini, erklärte Hammond, der einen dunkelgrauen Zweiteiler und ein hellblaues Button-down-Hemd ohne Krawatte trug. Nachdem der Portier den Journalisten ordnungsgemäß angekündigt und in der Besucherliste eingetragen hatte, stand Hammond – groß gewachsen, schlank und das mittelbraune kurze Haar exakt gescheitelt – Minuten später mit einer voluminösen Aktentasche unterm Arm und einem Besucherschild am Revers seines Sakkos im Büro von Direttore Maurizio Collocini. Nach der Begrüßung und dem Austausch von Höflichkeiten begab man sich gemeinsam und ohne Umschweife ins Labor für die Restaurierung von Gemälden auf Leinwand und Holz.

»Wie lange schreiben Sie schon für den ›Guardian‹?«, wollte Collocini, bekleidet mit einem perfekt sitzenden dunkelbrauen Anzug und einem rosafarbenen Hemd, auf dem Weg ins Labor wissen.

»Seit knapp drei Jahren«, antwortete Hammond. »Ich liefere regelmäßig Reportagen für die Wochenendausgabe.«

Vor allem Kultur und Reisen seien seine Themenfelder, ab und zu auch Kulinarik, ließ der Brite Collocini wissen. Vor zweieinhalb Monaten hatte Hammond eine Anfrage an den Leiter des OPD geschickt. Daraufhin hatte man ihn gebeten, eine Kopie seines Presseausweises und eine unterfertigte Beauftragung der Chefredaktion per E-Mail zu übersenden. Man würde sich bei ihm melden und bekanntgeben, wann ihm ein Termin in der Restaurationswerkstatt gewährt werde.

Nach wenigen Minuten standen der englische Journalist und der Direktor des Opificio delle Pietre Dure nun vor jenem Gemälde, über dessen Restaurierung Hammond im »Guardian« eine Reportage zu verfassen gedachte.

»Wir haben die ›Anbetung der Könige‹ jetzt seit dreieinhalb Jahren bei uns. Und ich gehe davon aus, dass wir nur noch ein paar Tage, höchstens ein bis zwei Wochen für die vollständige Wiederherstellung benötigen«, erklärte ­Collocini. »Woher kommt es eigentlich, dass Sie perfekt Italienisch sprechen?«, fuhr er fort und kniff dabei die Augen zusammen.

»Wissen Sie, ich lebe seit 15 Jahren in Italien, und meine Frau ist Italienerin, da hat man keine andere Wahl, als die Sprache zu erlernen«, schmunzelte Hammond.

»Verstehe«, lächelte Collocini wissend zurück.

Gelbe Lüftungsrohre, Infrarotkameras, große Bildschirme und gigantische Mikroskope prägten den loftartigen Raum, der ein Stockwerk unterhalb der Chefetage lag. Auf den Tischen standen zahllose Fläschchen, Tuben und Dosen, daneben lagen Pinsel, Pinzetten, Skalpelle und anderes Werkzeug in den unterschiedlichsten Größen und für die unterschiedlichsten Verwendungszwecke aufgereiht. Penible Sauberkeit und eine ebensolche Ordnung wurden hier offensichtlich großgeschrieben. Hammond fühlte sich eher an einen Operationssaal oder an ein Forschungslabor der Pharmaindustrie erinnert als an eine Restaurationswerkstätte. Wäre da nicht in der Mitte des fabrikshallengroßen Raumes der drei Meter hohe Holzrahmen, in den das aus zusammengeklammerten Holzplanken bestehende Gemälde montiert war, Hammond hätte die komplett in Weiß gekleideten Restaurateure ohne Weiteres für Krankenhauspersonal gehalten. Als er der restaurierten »Anbetung der Könige« in seiner vollen Pracht gegenüberstand, ließ er sich weder seine Ehrfurcht vor dem Meisterwerk anmerken, noch dass ihm sein Herz bis in den Hals schlug.

»Wunderschön«, entfuhr es ihm dann aber doch, und das war vor allem darauf zurückzuführen, dass er das Gemälde, das er schon Dutzende Male in den Uffizien bestaunt hatte, nun zum ersten Mal so sah, wie es Leonardo da Vinci selbst gesehen hatte: vollständig vom Schmutz der Jahrhunderte und dem vergilbten Firnis, der immer wieder zum Schutz des Bildes aufgetragen worden war, befreit.

»Finden Sie nicht auch, dass Leonardos Genie, das sich hier vor allem in der Bildkomposition und der perspektivischen Darstellung zeigt, jetzt noch deutlicher zum Vorschein kommt?«, sinnierte Collocini, ohne wirklich auf eine Antwort von Hammond zu warten.

»In der Tat«, flüsterte Hammond und tauchte immer tiefer in das Holzbild ein. Fast zu tief.

»Signore Hammond! Vorsicht!«, mahnte Collocini den Journalisten, der nahe an das Meisterwerk herangetreten war.

Hammond machte eine entschuldigende Geste, trat einen Schritt zurück und betrachtete das Werk nun aus sicherer Entfernung.

»Was würden Sie denn gerne über die Restaurierung des Bildes wissen?«

Hammond war fast geneigt, »Alles!« zu rufen, besann sich dann aber eines Besseren.

»Erzählen Sie mir doch bitte zu Beginn, wie es überhaupt zur Restaurierung des Gemäldes kam.«

Daraufhin begann Collocini zu schildern, wie ein privater Mäzen die Mittel für die Restaurierung bereitgestellt hatte, wie das Opificio delle Pietre Dure von den Uffizien – wie in solchen Fällen üblich – mit dem Projekt betraut worden war, unter welch strengen Sicherheitsvorkehrungen die »Anbetung der Könige« in die nur wenige Straßenzüge entfernte Restaurierungswerkstätte gebracht worden war, und dass sich ein Team von rund einem Dutzend Experten mit den unterschiedlichsten Spezialisierungen seit knapp 1.300 Tagen intensiv um die Wiederherstellung des Gemäldes bemühte.

»Ich kann Ihnen sagen, es ist gar nicht so einfach zu definieren, was man eigentlich restaurieren, also wiederherstellen soll. Cesare Brandi meint in seiner ›Teoria del Restauro‹, einem Standardwerk: ›Die Restaurierung muss sich die Wiederherstellung der potenziellen Einheit eines Kunstwerks zum Ziel setzen, unter der Voraussetzung, dass dies möglich ist, ohne eine historische oder künstlerische Fälschung zu begehen und ohne die Spuren der Zeit auf dem Kunstwerk zu löschen.‹ Wir, die wir für die Restaurierung des Bildes zuständig sind, tragen demnach eine riesengroße Verantwortung. Vor allem, weil es sich nicht um irgendein Bild handelt, das auf einem Dachboden gefunden worden ist und das im Zuge der Restaurierung in einen möglichen Original­zustand zurückversetzt werden soll. Hier handelt es sich um ein Gemälde, das die ganze Welt kennt und das – obwohl es unvollendet ist – eines der bedeutendsten Gemälde von Leonardo da Vinci ist, weil es für eine ganz bestimmte Phase seines Schaffens steht.«

Direttore Collocini war deutlich anzusehen, welche Bedeutung die Arbeit an der »Anbetung der Könige« für ihn und das gesamte Labor hatte und wie sehr ihn das Projekt gefangen nahm – und das obwohl schon die Werke vieler großer Renaissancekünstler durch seine Hände gegangen waren.

»Wenn Sie wollen, Signore Hammond, zeige ich Ihnen, was man zu sehen bekommt, wenn man dem Bild mit der Infrarotlampe zu Leibe rückt«, verkündete er jetzt. Und da ihm bewusst war, dass Hammond sich das Schauspiel nicht entgehen lassen würde, wies er noch im Reden einen seiner Mitarbeiter per Fingerzeig an, die Infrarotlampe in Position zu bringen und einzuschalten.

»Betrachten Sie etwa die Ruine im Hintergrund, Signore Hammond«, sagte er, und zu seinem Mitarbeiter gewandt: »Gianni, dreh das Licht bitte kurz weg und dann wieder auf das Bild. Sehen Sie, Signore Hammond, hier kann man ganz klar eine darunterliegende Skizze erkennen.«

 

»Faszinierend«, staunte Hammond.

»Unsere Aufgabe neben der eigentlichen Restaurierung«, fuhr Collocini mit zusammengekniffenen Augen fort, »ist es, zu dokumentieren, was wir vorgefunden und welche Eingriffe wir vorgenommen haben. Dokumentation ist im Rahmen der Restaurierung das Um und Auf. Alle unsere Eingriffe in das Werk müssen nachvollziehbar sein, sodass man die original erhaltenen Partien klar und deutlich von den restaurierten Partien unterscheiden kann. Und vor allem verbringen wir sehr viel Zeit damit, uns das Werk unter dem Mikroskop anzuschauen und zu analysieren, welche Maßnahmen wir setzen wollen und welche nicht.«

Hammond nickte, ohne Collocini zu unterbrechen.

»Und wissen Sie, was die effizienteste Form der Restaurierung ist?« Collocini drehte sich auffordernd zu Hammond: »Die Konservierung. Damit meine ich die ideale Luftfeuchtigkeit und Beleuchtung sowie die Vermeidung von direkter Sonneneinstrahlung, Staub und Umwelteinflüssen, so weit dies eben möglich ist.«

Dies gelte im Übrigen für jedes Kunstwerk, ob im Museum oder zu Hause an der Wand oder im Büro, fügte Collocini hinzu, während er sich kurz mit den Fingern durch die Haare fuhr: »Ich erzähle Ihnen damit wahrscheinlich nichts Neues, aber im Grund beginnt der Verfallsprozess jedes Kunstwerks genau in dem Moment, in dem es erschaffen wird.«

Hammond nickte wissend, während sein Blick weiter auf dem Gemälde ruhte.

Fünfundvierzig Minuten später war Collocini mit seinen detaillierten Ausführungen über das aufwändige Restaurierungsprojekt fertig.

»Sie würden dem Opificio delle Pietre Dure natürlich einen unheimlichen Gefallen tun, wenn Sie das, was wir hier zu leisten imstande sind, ins rechte Licht rückten«, ließ der Direttore anklingen.

»Wie Sie wissen, hat der Wettbewerb auch vor unserem Wirtschaftszweig nicht Halt gemacht. Für uns sind Projekte wie die Restaurierung der ›Anbetung der Könige‹ von hoher Bedeutung, weil sie die Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit auf uns richten und wir damit unter Beweis stellen, dass wir in Italien und auch in Europa eine der ersten Anlaufstellen für die Restaurierung von Gemälden sind.«

Hammond versicherte Collocini mit einem wissenden Lächeln, dass er die Würdigung des Opificio delle Pietre Dure nicht zu kurz kommen lassen werde. Dann bedeutete er dem OPD-Direktor mit einem Fingerzeig auf seine Armbanduhr, dass er nun langsam aufbrechen müsse. Auf dem Weg die Treppe hinunter zum Eingangsbereich vereinbarten die beiden, dass sich Hammond jederzeit telefonisch bei Collocini melden dürfe, sollten noch weitere Fragen auftauchen. Es war 12.40 Uhr, als sich die beiden vor der Portiersloge des Opificio delle Pietre Dure voneinander verabschiedeten, Hammond beim Portier seinen Besucherausweis abgab und das Gebäude durch den Haupteingang verließ.