Das Leben des Klim Samgin

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Klim dachte, wenn diese Frau gesund würde, würde sie etwas Entsetzliches begehen. Doch Doktor Somow beruhigte ihn, er fragte den Doktor:

»Wird Glafira Issajewna bald aufstehen?«

»Zusammen mit allen – am Tage des Gerichts«, antwortete träge Doktor Somow.

Wenn Doktor Somow etwas Schlimmes und Düsteres sagte, glaubte Klim ihm.

Wenn die Kinder zu sehr lärmten und trampelten, kam von unten, von den Samgins, der Vater Warawka herauf und schrie in die Tür:

»Ruhe, ihr Wölfe! Das ist ja nicht zum Aushalten! Wera Petrowna hat Angst, daß die Decke einstürzt.«

»Entern!« kommandierte Boris. Alle stürzten auf seinen Vater los und kletterten ihm auf den Rücken, auf die Schultern und auf den Nacken.

»Sitzt ihr gut?« fragte er.

»Fertig!«

Warawka nahm den Kindern ihr Ehrenwort ab, daß sie ihn nicht kitzeln würden und rannte alsdann im Trab rund um den Tisch, wobei er derartig stampfte, daß das Geschirr im Büfett rasselte, und die Kristallzapfen der Lampe jammervoll klirrten.

»Putz ihn weg!« schrie Boris, und nun begann der allerschönste Augenblick des Spiels: Warawka wurde gekitzelt. Er brüllte, quiekte, lachte, seine winzigen scharfen Äuglein traten angstvoll aus den Höhlen. Eins nach dem andern riß er sich die Kinder vom Körper und schleuderte sie auf das Sofa. Sie sprangen von neuem auf ihn herauf und bohrten ihm die Finger zwischen die Rippen und die Knie.

Klim beteiligte sich nie an diesem rohen und gefahrvollen Spiel. Er hielt sich abseits, lachte und hörte die tiefen Schreie Glafiras:

»So ist es recht! Schlagt ihn tüchtig!«

»Ich ergebe mich!« brüllte Warawka und warf sich aufs Sofa, seine Feinde unter sich quetschend. Man auferlegte ihm ein Lösegeld in Gestalt von Törtchen und Konfekt, Lida kämmte sein zerzaustes Haar und glättete, ihren Finger anfeuchtend, die zottigen Brauen des Vaters, der, nachdem er bis zur Erschöpfung gelacht hatte, jetzt komisch schnaufte, sich mit dem Tuch das schwitzende Gesicht abwischte und kläglich beteuerte:

»Nein, ihr seid keine ehrlichen Leute!«

Hierauf begab er sich ins Zimmer seiner Frau. Sie zischte ihn schon von weitem an, zog die Lippen schief und ihre Augen, die sich im Zorn weiteten, wurden immer tiefer und schrecklicher. Warawka murmelte gezwungen:

»Was ist los? Das sind doch Einbildungen. Hör auf. Schon gut. Ich bin doch kein Greis.«

Das Wörtchen »Einbildungen« war Klim vertraut und verschärfte seine Abneigung gegen die kranke Frau. Ja, natürlich bildete sie sich etwas Böses ein, Klim beobachtete, daß Glafira nachlässig und unfreundlich und oft sogar grob zu den Kindern war. Man konnte glauben, daß sie sich für Boris und Lida nur dann interessierte, wenn sie gefährliche Kunststücke vollführten und riskierten, sich Arme und Beine zu brechen. In solchen Augenblicken heftete sie ihre Augen auf die Kinder, furchte die dichten Brauen, preßte die violetten Lippen fest aufeinander, kreuzte die Arme und krallte die Finger in ihre knochigen Schultern. Klim war überzeugt, wenn die Kinder gefallen wären und sich verletzt hätten, wäre ihre Mutter in jubelndes Gelächter ausgebrochen.

Boris lief in zerrissenen Hemden, struppig und ungewaschen umher, Lida war schlechter gekleidet als die Somows, obgleich ihr Vater wohlhabender war als der Doktor. Klim schätzte die Freundschaft des Mädchens immer höher, es gefiel ihm, schweigend ihrem lieben Geplauder zu lauschen und seine Pflicht, gescheite und unkindliche Dinge zu sagen, zu vergessen.

Doch sobald der schöne Stutzer Igor Turobojew erschien, geputzt, wie ein Bild aus einem Modejournal, unangenehm höflich, doch ebenso gewandt und kühn wie Boris, verließ Lida Klim und wich, ein gehorsames Hündchen, dem neuen Kameraden nicht von der Seite. Das war unbegreiflich, um so mehr, als Boris und Turobojew sich gleich am ersten Tag ihrer Bekanntschaft erzürnt und einige Tage später so grausam geprügelt hatten, daß Blut und Tränen flossen. Klim sah zum erstenmal, wie erbittert Knaben raufen können. Er beobachtete ihre wutentstellten Gesichter, das nackt hervortretende Bestreben, einander so schmerzhaft wie möglich zu schlagen, er hörte ihre schrillen Schreie, ihr Keuchen, – und all das schüchterte ihn so sehr ein, daß er ihnen noch mehrere Tage nach dem Kampf ängstlich auswich und davon durchdrungen war, er, der sich nicht schlagen konnte, sei ein ganz besonderer Junge. Igor und Boris wurden schnell Freunde, wenngleich sie sich beständig zankten und jeder, ohne sich selbst zu schonen, dem anderen eigensinnig zu beweisen suchte, daß er mutiger und stärker sei als der Freund. Boris rannte wild aufgeregt umher, etwas Krampfhaftes ergriff Besitz von ihm, als haßte er, in allen Spielen Sieger zu sein, und fürchte, daß er es nicht schaffen werde.

Durch Turobojews Kommen wurde Klim noch mehr in den Hintergrund gedrängt. Man stellte ihn seinem Bruder Dmitri gleich. Doch den gutmütigen, plumpen Dmitri liebte man, weil er sich befehlen ließ, niemals stritt, nie beleidigt war und geduldig und ohne Geschick die bescheidensten und unvorteilhaftesten Rollen spielte. Man mochte ihn auch, weil er plötzlich und in einer Weise, die Klims brennenden Neid erregte, die Aufmerksamkeit der Kinder zu erobern wußte: er erzählte ihnen von Vogelnestern, Schlupflöchern, Raubtierhöhlen, vom Leben der Bienen und Wespen – stets mit gedämpfter Stimme, und auf seinem breiten Gesicht, in den guten grauen Augen spielte dabei ein seliges Lächeln.

»Dieser Wood ist viel schöner als Main-Reed«, sagte er seufzend. »Und dann kenne ich noch den Brehm.«

Turobojew und Boris verlangten von Klim, daß er sich ihrem Willen ebenso gehorsam fügte wie sein Bruder. Klim gab zum Schein nach, aber mitten im Spiel erklärte er:

»Ich mache nicht mehr mit.«

Und ging weg. Er wollte zeigen, seine Unterwürfigkeit sei nur die Herablassung des Klugen, daß er unabhängig zu sein wünsche und verstehe und über diese ganzen netten Kindereien erhaben sei. Aber niemand verstand ihn, und Boris rief aufgebracht:

»Geh zum Teufel, wir haben dich satt!«

Sein sommersprossiges, spitznasiges Gesicht bedeckte sich mit roten Flecken, die Augen funkelten zornig. Klim fürchtete, gleich würde Warawka ihn schlagen.

Lida blickte ihn scheel von der Seite an und runzelte die Stirn. Die Somows und Alina, die Lidas Verrat bemerkt hatten, wechselten verstohlene Blicke und flüsterten miteinander, und dies alles erfüllte Klims Herz mit nagender Trauer. Doch der Knabe fand Trost in dem Bewußtsein, daß man ihn nicht liebte, weil er klüger war als alle, und hinter diesem Trost tauchte wie sein Schatten der Stolz auf und der Wunsch, zu belehren und Kritik zu üben:

»Kann man denn nichts Unterhaltenderes ausdenken?«

»Denk was aus, aber stör' nicht«, sagte bissig Lida und drehte ihm den Rücken zu.

»Wie grob sie geworden ist«, dachte kummervoll Klim.

Er erfand für sich eine Manier zu gehen, die, wie er sich einbildete, ihm Wichtigkeit verlieh. Er schritt, ohne die Knie einzudrücken, und versteckte die Hände auf dem Rücken, wie der Lehrer Tomilin. Auf die Kameraden blickte er mit zugekniffenen Augen.

»Warum plusterst du dich so auf?« fragte ihn Dmitri. Klim lächelte verachtungsvoll, ohne ihn einer Antwort zu würdigen. Er konnte den Bruder nicht leiden und hielt ihn für einen Esel.

Turobojew, kalt, sauber und höflich, blickte Klim ebenfalls an, indem er seine dunklen unfreundlichen Augen zukniff – blickte herausfordernd. Sein allzu schönes Gesicht verzog sich zu einer besonders ärgerlichen Grimasse, wenn Klim sich Lida näherte. Aber das Mädchen sprach mit Klim lässig und stets auf dem Sprung, wegzulaufen. Sie trat von einem Fuß auf den anderen und schielte beständig zu Igor hin. Turobojew und sie verwuchsen immer inniger miteinander. Sie gingen Hand in Hand. Klim schien, sogar wenn sie sich dem Spielen hingaben, spielten sie nur für einander und sahen und bemerkten niemand.

Wenn sie Verstecken spielten und Lida die Kinder fangen mußte, lief ihr merkwürdigerweise immer Igor in die Arme.

»Mogelei!« rief Klim, und alle stimmten ihm zu. »Ja, ihr mogelt!« Turobojew zog seine schönen Augenbrauen ganz hoch und versicherte:

»Aber meine Herrschaften, sie ist doch schwach.«

»Nein«, regte Lida sich auf, »gar nicht!«

»Ich bin auch schwach«, erklärte beleidigt Ljuba Clown, doch Turobojew, der sich die Augen zugebunden hatte, war schon dabei zu fangen.

Einmal geschah es, daß Dmitri auf der Flucht vor Lidas Händen ihr einen Stuhl vor die Beine warf. Das Mädchen schlug mit dem Knie an das Stuhlbein und stieß einen Schmerzensschrei aus, Igor verfärbte sich und packte Dmitri an der Kehle:

»Idiot, du spielst unfair.«

Und als eines Tages bemerkt wurde, daß Iwan Dronow den Mädchen forschend unter die Röcke blickte, verlangte Turobojew energisch, daß Dronow nicht mehr mitspielen durfte.

Iwan Dronow nannte sich nicht nur selber beim Nachnamen, auch seine Großmutter mußte ihn mit »Dronow« anreden. Mit seinen krummen Beinen, dem vorstehenden Bauch, dem plattgedrückten Schädel, der breiten Stirn und den großen Ohren, war er von betonter und doch anziehender Häßlichkeit. In seinem breiten Gesicht, in dessen Mitte der rote Pickel der Nase kaum zu sehen war, glänzten schmale, trübblaue, sehr flinke und gierige Äuglein. Gier war die auffälligste Eigenschaft Dronows. Mit ungemeiner Gier sog er die Luft in seine feuchte Nase, als müsse er an Luftmangel ersticken. Gierig und mit verblüffender Geschwindigkeit aß er, wobei er laut mit den grellroten Lippen schmatzte. Er sagte Klim:

»Ich bin ein armer Mensch, ich muß viel essen.«

Auf Drängen Großvater Akims bereitete Dronow sich gemeinsam mit Klim zum Gymnasium vor und legte während des Unterrichts bei Tomilin eine fieberhafte Hast an den Tag. Klim erschien auch diese als Gier. Wenn er den Lehrer fragte oder ihm antwortete, sprach Dronow sehr schnell, er sog die Worte gleichsam in sich hinein, als wären sie heiß und verbrannten ihm Lippen und Zunge, Klim drang wiederholt in den Kameraden, den der »richtige Greis« ihm aufgezwungen hatte:

 

»Weshalb bist du so gefräßig?«

Dronow rieb sich die Nase, schielte mit den irren Augen zur Seite und schwieg beharrlich.

Doch in einem günstigen Augenblick senkte er geheimnisvoll seine hohe, schrille Stimme und verriet:

»Ich habe einen hungrigen Wrum im Bauch.«

»Wurm«, verbesserte Klim.

»Deiner heißt Wurm und meiner Wrum.«

Und hastig flüsternd gestand er, seine Tante sei eine Zauberin und habe ihn behext: sie habe ihm den Wurm »Wrum« in den Bauch getrieben, damit ihn, Dronow, Zeit seines Lebens unersättlicher Hunger quäle. Er vertraute Klim ferner an, daß er im selben Jahr geboren sei, als sein Vater gegen die Türken kämpfte, in Gefangenschaft geriet und den türkischen Glauben annahm, und daß er jetzt ein reicher Mann sei, daß aber seine Tante, die Hexe, als sie davon erfuhr, die Mutter und die Großmutter aus dem Haus gejagt habe. Seine Mutter wolle gerne in die Türkei, aber seine Großmutter lasse sie nicht fort.

Klim, der bemerkte, daß Dronow seinen hungrigen Wurm »Wrum« nannte, glaubte ihm nicht. Doch wie er so dem geheimnisvollen Flüstern zuhörte, sah er staunend einen ganz anderen Jungen vor sich: das flache Gesicht des Enkels der Amme verschönte sich, die Augen irrten nicht mehr umher, in den Pupillen entzündete sich das bläuliche Feuer einer Seligkeit, die Klim nicht verstand. Beim Abendessen teilte Klim Dronows Erzählung dem Vater mit. Der Vater äußerte gleichfalls eine rätselhafte Freude:

»Du hörst, Wera? Was für eine Phantasie! Ich sagte immer, der Bengel sei hochbegabt.«

Aber die Mutter sagte Klim, ohne dem Vater zuzuhören, wie sie das oft tat, kurz und trocken, Dronow habe sich das alles ausgedacht: eine Tante, die eine Hexe sei, habe er gar nicht, sein Vater sei tot, er sei verschüttet worden, als er einen Brunnen grub. Die Mutter habe in einer Zündholzfabrik gearbeitet und sei gestorben, als Dronow vier Jahr alt war. Nach ihrem Tode verdingte die Großmutter sich als Amme zu dem Bruder Mitja. Das sei alles.

»Trotzdem, Wera«, sagte der Vater, »bedenke doch . . .«

Dmitri Samgin lächelte breit und sagte:

»Klim lügt auch gern.«

Der Vater wandte sich zu ihm hin:

»Das hast du recht plump ausgedrückt, Mitja, man muß zwischen Lüge und Phantasie unterscheiden.«

Jetzt trat Warawka ein, nach ihm erschien der »richtige Greis«. Man begann zu diskutieren, und Klim vernahm wieder einmal nicht wenig, was ihn im Recht und in der Notwendigkeit, sich etwas auszudenken, bestärkte, gleichzeitig jedoch ein Interesse für Dronow in ihm wachrief, das der Eifersucht ähnelte. Gleich am nächsten Tag fragte er Iwan:

»Warum hast du das mit der Tante gelogen? Du hast doch gar keine Tante gehabt.«

Dronow sah ihn wütend schief von der Seite an und erwiderte:

»Und du schwatz nicht Dinge, die du nicht verstehst. Deinetwegen hat mich die Großmutter bei den Ohren genommen. Klatschbase!«

Jeden Morgen um neun Uhr stiegen Klim und Dronow zu Tomilin ins Zwischengeschoß hinauf und saßen bis Mittag in dem kleinen Zimmer, das einer Rumpelkammer glich in die man in unordentlichem Durcheinander drei Stühle, einen Tisch, einen eisernen Waschständer, ein knarrendes Holzbett und einen Haufen Bücher geworfen hatte. In diesem Zimmer war es immer heiß, es roch muffig nach Katzen und nach Taubenmist. Durch das ovale Fenster sah man die Wipfel der Bäume im Garten, ausgeputzt mit Reif oder Schnee wie mit Wattebäuschen. Hinter den Bäumen ragte der graue Wachturm der Feuerwehr in die Höhe, auf seinem runden Dach bewegte sich ein Mensch in grauer Joppe eintönig und langsam im Kreise. Hinterm Wachturm war die Leere des Himmels.

Der Lehrer empfing die Kinder mit einem unbestimmten, stummen Lächeln. Zu jeder Tageszeit sah er aus wie ein Mensch, der eben aufgewacht ist. Er pflegte sich sogleich mit dem Gesicht nach oben auf das Bett zu legen, das Bett ächzte traurig. Die Finger in den ungepflegten roten Büscheln seiner straffen, rauhen Haare vergraben, das kupferbraune, gespaltene Bärtchen gegen die Zimmerdecke gerichtet und ohne seine Schüler anzusehen, fragte er ab und erzählte leise, doch mit verständlichen Worten. Aber Dronow fand, der Lehrer spreche »hinterm Ofen hervor«.

Manchmal und zumeist während der Geschichtsstunde stand Tomilin auf und ging im Zimmer auf und ab, sieben Schritte – vom Tisch zur Tür und zurück. Mit gesenktem Kopf vor sich auf die Füße stierend, scharrte er mit seinen abgetragenen Pantoffeln den Boden und versteckte die Hände auf dem Rücken, wobei er die Finger so fest zusammenpreßte, daß sie dunkelrot anliefen.

Klim Samgin sah, daß Tomilin Dronow lieber und gewissenhafter unterrichtete als ihn.

»Also, Wanja«, fragte er von der Tür her und zupfte sich sein Hemd zurecht. »Was tat Alexander Newski?« Dronow antwortete rasch und bestimmt:

»Der heilige und rechtgläubige Fürst Alexander Newski rief die Tataren ins Land und schlug mit ihrer Hilfe die Russen.«

»Warte mal, was ist das? Woher hast du das?« staunte der Lehrer und bewegte seine buschigen Augenbrauen. Der Mund stand ihm lächerlich offen.

»Das haben Sie gesagt.«

»Ich? Wann?«

»Am Donnerstag.«

Der Lehrer schwieg eine Weile, glättete sich das Haar mit der flachen Hand, trat dann zum Tisch und sagte strenge:

»Das braucht ihr euch nicht zu merken.«

Er hatte die Angewohnheit, laut mit sich selbst zu sprechen. Oft, wenn er einen geschichtlichen Stoff behandelte, versank er eine oder zwei Minuten in tiefes Sinnen und begann dann sehr leise und unverständlich zu reden. In solchen Augenblicken stieß Dronow Klim mit dem Fuß an, blinzelte mit dem linken Auge, das unruhiger war als das rechte, zum Lehrer hin und grinste boshaft. Dronows Lippen glichen denen der Fische: sie waren abgeplattet und hart wie Knorpel. Nach der Stunde fragte Klim:

»Weshalb hast du mich angestoßen?«

»Hi hi!« schluckte aufgeregt Dronow. »Das mit dem Newski hat er gelogen, ein Heiliger wird sich auch mit den Tataren anfreunden! Weil er gelogen hat, – darum brauchen wir es uns auch nicht zu merken. Ein feiner Lehrer. Er lehrt einen etwas, aber merken soll man es sich nicht.«

Wenn er von Tomilin sprach, dämpfte Iwan Dronow die Stimme, sah sich ängstlich nach allen Seiten um und kicherte, und Klim fühlte, während er ihm zuhörte, daß Iwan seinen Lehrer mit Wonne haßte, und daß es ihm Freude bereitete zu hassen.

»Mit wem, glaubst du, unterhält er sich? Mit dem Teufel.«

»Es gibt keine Teufel«, wies Klim ihn streng zurecht.

Dronow sah ihm voll Verachtung in die Augen, spuckte über die linke Schulter, unterließ es aber zu streiten.

Klim, der Dronow eifersüchtig beobachtete, nahm wahr, daß Dronow danach strebte, ihn zu überflügeln, und sein Ziel leicht erreichen würde. Er sah, daß der frische Junge die Erwachsenen überhaupt nicht liebte und sie mit der gleichen Wollust haßte wie seinen Lehrer. Seine dicke, seelengute Großmutter, die sich rührend mit ihm abgab, brachte er zum Weinen mit seinen Bosheiten: er schüttete ihr Asche oder Pfeffer in ihre Tabakdose, verbog ihre Stricknadel, löste die Strumpfmaschen auf, warf den Wollknäuel den Kätzchen zum Spielen vor oder beschmierte den Faden mit Öl und Leim. Die alte Frau züchtigte ihn, bekreuzigte sich aber dann lange vor dem Ikonenwinkel und flehte unter Tränen:

»Mutter Gottes, verzeih mir um Christi willen das Leid, das ich der Waise zugefügt habe!«

Und seufzend steckte sie ihrem Enkel ein Stück Kuchen oder Süßigkeiten zu:

»Da – iß, Dronow, du mein Peiniger.«

»Dein Vater ist aber komisch«, sagte Dronow Klim. »Ein richtiger Vater ist grimmig, oh!«

Vor Wera Petrowna wand Dronow sich wie ein zutrauliches Hündlein. Klim beobachtete, daß der Enkel der Kinderfrau sie ebenso fürchtete wie den Großvater Akim, daß er aber am meisten Angst vor Warawka hatte:

»Der Teufel!« nannte er ihn und erzählte über ihn: Warawka sei ursprünglich Fuhrmann und später Pferdedieb gewesen, davon sei er reich geworden. Klim war sprachlos. Er wußte genau, daß Warawka der Sohn eines Gutsbesitzers und in Kischinew geboren war, in Petersburg und Wien studiert hatte und dann in diese Stadt gekommen war, in der er bereits das siebente Jahr lebte. Als er dies empört Dronow vorhielt, schüttelte der ungestüm den Kopf und murmelte:

»Wien – das gibt es, von dort kommen die Stühle, aber Kischinew existiert vielleicht nur im Geographiebuch . . .«

Klim empfand oft, daß von den seltsamen Einfällen Dronows, von seinen offenkundigen plumpen Lügen eine abstumpfende Wirkung auf ihn ausging. Es schien ihm manchmal, Dronow lüge nur, um ihn zu verhöhnen. Seine gleichaltrigen Kameraden haßte Dronow eher noch heftiger als die Erwachsenen, besonders seitdem die Kinder es ablehnten, mit ihm zu spielen. Beim Spiel glänzte er durch viele scharfsinnige Einfälle, war aber feige und benahm sich gegen die Mädchen roh, vor allem gegen Lida. Er nannte sie verächtlich eine Zigeunerin, kniff sie und suchte sie so hinzuwerfen, daß ihr Schamgefühl verletzt wurde.

Wenn die Kinder auf dem Hof tollten, saß Iwan Dronow als ein Ausgestoßener auf der Küchentreppe. Er hatte die Arme auf die Knie gestützt, preßte seine Hand an die Backenknochen und verfolgte mit von Schmerz verdunkelten Augen die Spiele der Herrenkinder. Selig kreischte er, wenn jemand hinfiel oder sich so verletzte, daß er sich vor Schmerz wand.

»Drück ihn feste!« feuerte er an, wenn Warawka und Turobojew sich prügelten. »Hau ihn gegen das Schienbein!«

Wenn im Garten gespielt wurde, stand Dronow am Zaun, stemmte den Bauch gegen das Gitter und steckte seinen Kopf durch die Stäbe. So stand er und rief von Zeit zu Zeit:

»Faß sie! – Hinterm Kirschbaum hat sie sich versteckt! – Von links mußt du herankommen . . .!«

Er suchte auf jede Weise die Spielenden zu stören. Mit berechneter Langsamkeit schlenderte er über den Hof und sah dabei angestrengt auf den Boden.

»Ich habe eine Kopeke verloren!« klagte er, auf seinen krummen Beinen schwankend, darauf bedacht, mit den Kindern so zusammenzustoßen, daß sie ihn umwarfen. Dronow kauerte dann an der Erde, jammerte und drohte:

»Ich beschwere mich!«

Zwei oder drei Wochen war Ljuba Somow mit Iwan innig befreundet, sie gingen zusammen spazieren, versteckten sich in den Winkeln und tuschelten geheimnisvoll und lebhaft. Doch bald – eines Abends – kam Ljuba in Tränen gebadet zu Lida gelaufen und schrie empört:

»Dronow ist ein Dummkopf!«

Warf sich aufs Sofa, vergrub ihr Gesicht in den Händen und wiederholte:

»Ach, was für ein Dummkopf!«

Ohne jemand von dem Geschehenen ein Wort zu sagen, stürmte Lida, die tief errötet war, in die Küche, kehrte zurück und verkündete triumphierend und wild:

»Er hat sein Teil bekommen!«

Noch drei Tage danach lief Dronow mit Beulen auf der Stirn und unterhalb des linken Auges herum.

Ja, Dronow war ein unangenehmer, ein abscheulicher Junge. Klim sah aber, daß sowohl der Vater und der Großvater als auch der Lehrer von seinen Fähigkeiten begeistert waren, und witterte in ihm den Rivalen. Neid, Eifersucht und Sorge verzehrten ihn. Gleichwohl zog ihn Dronow an, und oft genug verschwanden die unfreundlichen Gefühle für diesen Knaben, um einem plötzlichen Interesse und der Zuneigung für ihn Platz zu machen.

Es gab Augenblicke, in denen Dronow aufblühte und ein ganz anderer wurde. Versonnenheit nahm von ihm Besitz, er bekam gleichsam Haltung und vertraute Klim mit sanfter Stimme wunderbare Wachträume und Märchen an. So erzählte er einmal, aus dem Brunnen im Hof sei ein riesiger, wie ein Schatten leichter und durchsichtiger Mann gestiegen, durchs Tor hinaus und die Straße hinab gewandert. Als er am Glockenturm vorbeigegangen, sei dieser schwarz geworden und habe sich nach links und rechts geneigt wie ein schlanker Baum im Windstoß.

»Und neulich, bevor der Mond aufging, flog ein ungeheurer schwarzer Vogel über den Himmel, flog an einen Stern heran und pickte ihn auf, flog zu einem zweiten und pickte ihn auch auf. Ich schlief nicht, saß auf dem Fenster und plötzlich wurde mir unheimlich. Ich lief ins Bett, zog die Decke über den Kopf, und, weißt du, mir taten die Sterne so leid, – ich dachte, morgen ist der Himmel ganz leer . . .«

 

»Das denkst du dir aus«, sagte Klim nicht ohne Neid.

Dronow widersprach nicht. Klim begriff, daß er sich alle diese Dinge ausdachte. Aber er erzählte mit einer so überzeugenden Ruhe von seinen Visionen, daß Klim wünschte, die Lügen möchten Wahrheit sein. Zuletzt war Klim sich selbst über sein Verhältnis zu diesem Jungen, der ihn immer heftiger bald anzog, bald abstieß, im unklaren.

Die Aufnahmeprüfung bestand Dronow glänzend. Klim fiel durch. Das traf ihn so hart, daß er, heimgekehrt, den Kopf in den Schoß der Mutter vergrub und laut schluchzte. Die Mutter beruhigte ihn freundlich, sagte ihm viel liebe Worte und lobte ihn sogar:

»Du bist ehrgeizig, das ist gut.«

Abends hatte sie Streit mit dem Vater. Klim hörte sie zornig sagen:

»Du solltest endlich begreifen, daß ein Kind kein Spielzeug ist.«

Nach einigen Tagen aber fühlte der Knabe, daß seine Mutter aufmerksamer und freundlicher geworden war. Sie fragte ihn sogar:

»Liebst du mich?«

»Ja«, sagte Klim.

»Sehr?«

»Ja«, wiederholte er überzeugt. Die Mutter drückte seinen Kopf fest an ihre weiche, duftige Brust und sagte strenge:

»Du sollst mich sehr lieben.«

Klim erinnerte sich nicht, daß seine Mutter ihn früher schon einmal danach gefragt hätte. Sich selbst würde er ihre Frage kaum mit solcher Bestimmtheit beantwortet haben können wie ihr. Unter allen Erwachsenen war Mama die Unzugänglichste, über sie konnte man sich so wenig Gedanken machen wie über eine Heftseite, die noch unbeschrieben war. Alle im Hause fügten sich ihr gehorsam, selbst der »richtige Greis« und die eigensinnige Maria Romanowna – die »Tyrannenmieze«, wie Warawka sie hinter ihrem Rücken nannte. Die Mutter lachte selten und redete wenig, sie hatte ein strenges Gesicht, dichte dunkle Brauen über sinnenden blauen Augen, eine lange spitze Nase und kleine rosige Ohren, Sie flocht ihr mondblondes Haar in einen schweren Zopf und legte ihn sich in Kränzen um den Kopf, was sie sehr groß, viel größer als der Vater, erscheinen ließ. Ihre Hände waren immer heiß. Es war für jedermann klar, daß ihr von allen Männern Warawka am besten gefiel. Sie unterhielt sich mit ihm am liebsten und lächelte ihm viel häufiger zu als den anderen. Alle Bekannten sagten, sie nehme erstaunlich an Schönheit zu.

Auch der Vater veränderte sich – unmerklich, aber stark. Er wurde noch quecksilbriger und zupfte sich sein dunkles Bärtchen, was er früher nicht getan hatte. Seine Taubenaugen blinzelten kurzsichtig und blickten so verloren, als habe er etwas vergessen, woran er sich auf keine Weise erinnern könne. Er war noch redseliger geworden und seine Stimme noch schreiender und betäubender. Er redete über Bücher, Dampfschiffe, Wälder, Feuersbrünste, über den dummen Gouverneur und die Volksseele, über die Revolutionäre, die sich grausam getäuscht hatten, über den wunderbaren Menschen Gleb Uspenski, der »durch alles hindurchsah«. Er redete immer von etwas Neuem und stets mit einer Hast, als fürchte er, daß ihm morgen jemand verbieten würde, davon zu sprechen.

»Wunderbar!« rief er. »Erstaunlich!«

Warawka gab ihm den Spitznamen »Wanja, der Staunende!«

»Du bist wahrhaftig ein Meister im Staunen, Iwan!« sagte Warawka und spielte mit seinem üppigen Bart.

Seine Frau hatte er ins Ausland gebracht, Boris nach Moskau auf eine vorzügliche Schule, die auch Turobojew besuchte. Lida wurde von einer großäugigen alten Frau mit einem grauen Schnurrbart abgeholt und reiste mit ihr in die Krim zu einer Traubenkur. Aus dem Ausland kehrte Warawka verjüngt und spottlustiger denn je zurück. Er hatte gleichsam an Schwere verloren, trat aber im Gehen noch lauter auf und verweilte häufig vor dem Spiegel, mit seinem Bart liebäugelnd, den er so zurechtgestutzt hatte, daß die Ähnlichkeit mit einem Fuchsschweif noch auffälliger wurde. Er begann sogar in Versen zu reden. Klim hörte, wie er zur Mutter sagte:

»Da ich der Finsternis des Irrtums

Mit heißem Wort der Überredung

Die gefallene Seele entriß,

natürlich, damals war ich ein Idiot . . .«

»Das ist wohl nicht ganz richtig und sehr roh ausgedrückt, Timofej Stepanowitsch«, tadelte die Mutter. Warawka pfiff wie ein Gassenjunge und sagte dann scharf:

»Eine zarte Wahrheit gibt es nicht.«

Beinahe an jedem Abend hatte er Streit mit Maria Romanowna, und sogleich zankte sich auch Wera Petrowna mit ihr. Die Hebamme fuhr in die Höhe, reckte sich kerzengerade auf und sagte ihr mit finster gerunzelten Augenbrauen:

»Wera, besinne dich!«

Der Vater lief aufgeregt zu ihr hin und schrie:

»Beweist denn nicht England, daß das Kompromiß ein Erfordernis der Zivilisation ist?«

Die Hebamme polterte:

»Hören Sie auf, Iwan!«

Darauf lief der Vater zu Warawka:

»Du mußt zugeben, Timofej, in einem gewissen Augenblick verlangt die Evolution einen entscheidenden Schlag . . .«

Warawka schob ihn mit einer Bewegung seiner kurzen, starken Hand beiseite und rief, spöttisch lachend:

»Nein, Maria Romanowna, nein!« Der Vater ging zum Tisch, um Doktor Somow beim Biertrinken Gesellschaft zu leisten, und der halbbezechte Doktor knurrte:

»Nadson hat recht: die Feuer sind heruntergebrannt und . . . wie heißt es doch weiter?«

». . . die Zeit der Blüte ist dahin«, half der Vater nach, verständnisvoll mit dem schon ein wenig kahlen Schädel nickend. Nachdenklich trank er sein Bier und schrumpfte gleichsam zusammen.

Auch Maria Romanowna ergraute unversehens, magerte ab und fiel zusammen. Ihre Stimme sank, bekam einen hohlen, zersprungenen Klang und verlor das Herrische. Ihre immer schwarz gekleidete Gestalt rief Wehmut hervor. An sonnigen Tagen, wenn sie über den Hof ging oder im Garten mit einem Buch in der Hand auf und ab wandelte, schien ihr Schatten schwerer und dunkler zu sein als der aller anderen Menschen, er kroch hinter ihr her wie eine Verlängerung ihres Trauerkleides und entfärbte die Blumen und das Gras. Die Streitigkeiten mit Maria Romanowna endeten damit, daß sie hinter dem Wagen, der ihre Sachen fortbrachte, den Hof verließ, – fortging, ohne jemandem Lebewohl zu sagen, in hoheitsvoller Haltung wie immer, in der einen Hand einen Reisesack mit Instrumenten tragend, mit der anderen einen grünäugigen schwarzen Kater an ihre flache Brust drückend.

Gewöhnt, die Erwachsenen zu beobachten, sah Klim, daß unter ihnen etwas Rätselhaftes und Beängstigendes anhub. Es war, als setzten sie sich auf andere Stühle als die, auf denen sie zu sitzen gewohnt waren. Der Lehrer veränderte sich gleichfalls zum Schlechten. Noch immer blickte er auf alles mit den komischen Augen eines Menschen, den man eben aufgeweckt hat, aber jetzt beleidigt und mürrisch, und bewegte dabei die Lippen, als müsse er gleich losschreien, traue sich aber nicht. Klims Mutter sah er genau so an wie Großvater Akim einen falschen Zehnrubelschein, den ihm jemand in die Hand gesteckt hatte. Er sprach mit ihr nur noch in unehrerbietigem Ton. Eines Abends betrat Klim den Salon in dem Augenblick, als Mama auf dem Flügel spielen wollte, und hörte die groben Worte Tomilins:

»Das ist nicht wahr, ich habe gesehen, wie er . . .«

»Was willst du, Klim?« fragte eilig die Mutter, der Lehrer verschränkte die Arme auf dem Rücken und ging, ohne seinen Schüler anzusehen, hinaus.

Einige Tage darauf jedoch, in der Nacht, als Klim aufgestanden war, um das Fenster zu schließen, sah er den Lehrer und die Mutter durch den Garten kommen. Mama wehrte mit den Zipfeln ihres blauen Schals die Mücken ab, der Lehrer rauchte und schüttelte seine kupferbraune Mähne. Das Mondlicht war schwerflüssig wie Öl, sogar der Rauch der Zigarette färbte sich in ihm golden. Klim wollte gerade rufen: »Mama, ich schlafe noch nicht!« Aber da schien Tomilin über etwas zu stolpern, fiel auf die Knie, fuchtelte drohend mit den Armen in der Luft herum, stieß einen brüllenden Laut aus und umarmte die Beine der Mutter. Die prallte zurück, stieß seinen zottigen Kopf von sich und ging, nervös den Schal zerreißend, fort. Der Lehrer sank schwer in eine hockende Stellung, sprang dann auf, fuhr sich in die straffen Haare, strich sie glatt und eilte Mama, mit den Armen fuchtelnd, nach. In diesem Augenblick rief Klim angstvoll: