Max Weber: Parlament und Regierung im neu geordneten Deutschland – gelbe Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski

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Z serii: gelbe Buchreihe #188
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Gegenüber den üblichen unterschiedslosen, kritiklosen und vor allem unmännlichen Verhimmelungen der Bismarckschen Politik schien es nachgerade am Platz, an diese Seite der Sache einmal zu erinnern. Denn ein großer und jedenfalls der einflussreichste Teil der populären Bismarckliteratur ist für den Weihnachtstisch des Spießbürgers zugeschnitten, der jene völlig unpolitische Art der Heldenverehrung bevorzugt, wie sie bei uns üblich geworden ist. Sie redet dieser Sentimentalität nach dem Munde und glaubt, ihrem Helden zu dienen, indem sie seine Schranken verhüllt und seine Gegner verlästert. Aber dadurch erzieht man eine Nation nicht zu eigenem politischem Denken. Bismarcks riesenhafte Größe kann sehr wohl vertragen, dass man auch die Andersdenkenden sachlich versteht und rücksichtslos feststellt: welche Folgen seine tiefe Menschenverachtung und der Umstand hatte, dass die Nation durch seine Herrschaft seit dem Jahre 1878 jener positiven Mitbestimmung ihres politischen Schicksals durch ihre gewählten Vertreter entwöhnt wurde, welche allein die Schulung des politischen Urteils ermöglicht.

Was war infolgedessen – für die uns hier interessierenden Seiten der Sache – Bismarcks politisches Erbe? Er hinterließ eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung, tief unter dem Niveau, welches sie in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vorher bereits erreicht hatte. Und vor allem eine Nation ohne allen und jeden politischen Willen, gewohnt, dass der große Staatsmann an ihrer Spitze für sie die Politik schon besorgen werde. Und ferner, als Folge der missbräuchlichen Benutzung des monarchischen Gefühls als Deckschild eigener Machtinteressen im politischen Parteikampf, eine Nation, daran gewöhnt, unter der Firma der „monarchischen Regierung“ fatalistisch über sich ergehen zu lassen, was man über sie beschloss, ohne Kritik an der politischen Qualifikation derjenigen, welche sich nunmehr auf Bismarcks leer gelassenen Sessel niederließen und mit erstaunlicher Unbefangenheit die Zügel der Regierung in die Hand nahmen. An diesem Punkt lag der bei weitem schwerste Schaden. Eine politische Tradition dagegen hinterließ der große Staatsmann überhaupt nicht. Innerlich selbständige Köpfe und vollends Charaktere hatte er weder herangezogen, noch auch nur ertragen. Und der Unstern der Nation hatte überdies gewollt, dass er neben seinem rasenden Argwohn auf alle Persönlichkeiten, die ihm irgendwie als denkbare Nachfolger verdächtig waren, auch noch einen Sohn besaß, dessen wahrlich bescheidene staatsmännische Qualitäten er erstaunlich überschätzte. Demgegenüber nun als ein rein negatives Ergebnis seines gewaltigen Prestiges: ein völlig machtloses Parlament. Er selbst hat sich bekanntlich dessen als eines Fehlers angeklagt, als er nicht mehr im Amt war und die Konsequenzen an seinem eigenen Schicksal erfahren hatte. Jene Machtlosigkeit bedeutete aber zugleich: ein Parlament mit tief herabgedrücktem geistigen Niveau. Zwar die naive moralisierende Legende unserer unpolitischen Literaten denkt sich die ursächliche Beziehung vielmehr gerade umgekehrt: weil das Niveau des Parlamentslebens niedrig gewesen und geblieben sei, deshalb sei es, und zwar verdientermaßen, machtlos geblieben. Höchst einfache Tatsachen und Erwägungen zeigen aber den wirklichen Sachverhalt, der sich übrigens für jeden nüchtern Denkenden von selbst versteht. Denn darauf: ob große Probleme in einem Parlament nicht nur beredet, sondern maßgeblich entschieden werden, – ob also etwas und wie viel darauf ankommt, was im Parlament geschieht, oder ob es nur der widerwillig geduldete Bewilligungsapparat einer herrschenden Bürokratie ist, stellt sich die Höhe oder Tiefe seines Niveaus ein.

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Kapitel II. – Beamtenherrschaft und politisches Führertum

Kapitel II. – Beamtenherrschaft und politisches Führertum

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In einem modernen Staat liegt die wirkliche Herrschaft, welche sich ja weder in parlamentarischen Reden noch in Enunziationen von Monarchen, sondern in der Handhabung der Verwaltung im Alltagsleben auswirkt, notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums. Des militärischen wie des zivilen. Denn vom „Büro“ aus leitet ja der moderne höhere Offizier sogar die Schlachten. Wie der sogenannte Fortschritt zum Kapitalismus seit dem Mittelalter der eindeutige Maßstab der Modernisierung der Wirtschaft, so ist der Fortschritt zum bürokratischen, auf Anstellung, Gehalt, Pension, Avancement, fachmäßiger Schulung und Arbeitsteilung, festen Kompetenzen, Aktenmäßigkeit, hierarchischer Unter- und Überordnung ruhenden Beamtentum der ebenso eindeutige Maßstab der Modernisierung des Staates. Des monarchischen ebenso wie des demokratischen. Dann jedenfalls, wenn der Staat nicht ein kleiner Kanton mit reihumgehender Verwaltung, sondern ein großer Massenstaat ist. Die Demokratie schaltet ja ganz ebenso wie der absolute Staat die Verwaltung durch feudale oder patrimoniale oder patrizische oder andere ehrenamtliche oder erblich fungierende Honoratioren zugunsten angestellter Beamten aus. Angestellte Beamte entscheiden über alle unsere Alltagsbedürfnisse und Alltagsbeschwerden. Von dem bürgerlichen Verwaltungsbeamten unterscheidet sich der militärische Herrschaftsträger, der Offizier, in dem hier entscheidenden Punkte nicht. Auch das moderne Massenheer ist ein bürokratisches Heer, der Offizier eine Sonderkategorie des Beamten im Gegensatz zum Ritter, Kondottiere, Häuptling oder homerischen Helden. Auf der Dienstdisziplin beruht die Schlagkraft des Heeres. Nur wenig modifiziert vollzieht sich der Vormarsch des Bürokratismus in der Gemeindeverwaltung. Je größer die Gemeinde ist oder je mehr sie durch technisch und ökonomisch bedingte Zweckverbandsbildungen aller Art unvermeidlich ihrer organischen lokalen Bodenständigkeit entkleidet wird, desto mehr. Und in der Kirche war nicht etwa das vielberedete Unfehlbarkeitsdogma, sondern der Universalepiskopat der prinzipiell wichtige Abschluss von 1870. Er schuf die „Kaplanokratie“ und machte im Gegensatz zum Mittelalter den Bischof und Pfarrer zu einem einfachen Beamten der kurialen Zentralgewalt. Nicht anders auch in den großen Privatbetrieben der Gegenwart, und zwar je größer sie sind, desto mehr. Die Privatangestellten wachsen statistisch rascher als die Arbeiter, und es ist eine höchst lächerliche Vorstellung unserer Literaten, dass sich die geistige Arbeit im Kontor auch nur im Mindesten von derjenigen im staatlichen Büro unterscheide.

Beide sind vielmehr im Grundwesen ganz gleichartig. Ein „Betrieb“ ist der moderne Staat, gesellschaftswissenschaftlich angesehen, ebenso wie eine Fabrik: das ist gerade das ihm historisch Spezifische. Und gleichartig bedingt ist auch das Herrschaftsverhältnis innerhalb des Betriebes hier und dort. Wie die relative Selbständigkeit des Handwerkers oder Hausindustriellen, des grundherrlichen Bauern, des Kommendatars, des Ritters und Vasallen darauf beruhte, dass er selbst Eigentümer der Werkzeuge, der Vorräte, der Geldmittel, der Waffen war, mit deren Hilfe er seiner ökonomischen, politischen, militärischen Funktion nachging und von denen er während deren Ableistung lebte, so beruht die hierarchische Abhängigkeit des Arbeiters, Kommis, technischen Angestellten, akademischen Institutsassistenten und des staatlichen Beamten und Soldaten ganz gleichmäßig darauf, dass jene für den Betrieb und die ökonomische Existenz unentbehrlichen Werkzeuge, Vorräte und Geldmittel in der Verfügungsgewalt, im einen Fall: des Unternehmers, im anderen: des politischen Herrn konzentriert sind. Die russischen Soldaten z. B. wollten (überwiegend) keinen Krieg mehr führen. Sie mussten aber: denn die sachlichen Kriegsbetriebsmittel und die Vorräte, von denen sie leben mussten, waren in der Verfügungsgewalt von Leuten, welche die Soldaten mit deren Hilfe ganz ebenso in den Schützengraben hineinzwangen, wie der kapitalistische Besitzer der wirtschaftlichen Betriebsmittel die Arbeiter in die Fabriksäle und Bergwerksschächte. Diese entscheidende ökonomische Grundlage: die „Trennung“ des Arbeiters von den sachlichen Betriebsmitteln: den Produktionsmitteln in der Wirtschaft, den Kriegsmitteln im Heer, den sachlichen Verwaltungsmitteln in der öffentlichen Verwaltung, den Forschungsmitteln im Universitätsinstitut und Laboratorium, den Geldmitteln bei ihnen allen, ist dem modernen macht- und kulturpolitischen und militärischen Staatsbetrieb und der kapitalistischen Privatwirtschaft als entscheidende Grundlage gemeinsam. Beide Male liegt die Verfügung über diese Mittel in den Händen derjenigen Gewalt, welcher jener Apparat der Bürokratie (Richter, Beamte, Offiziere, Werkmeister, Kommis, Unteroffiziere) direkt gehorcht oder auf Anrufen zur Verfügung steht, der allen jenen Gebilden gleichmäßig charakteristisch und dessen Existenz und Funktion als Ursache wie als Wirkung mit jener „Konzentration der sachlichen Betriebsmittel“ untrennbar verknüpft, vielmehr: deren Form er ist. Zunehmende „Sozialisierung“ bedeutet heute unvermeidlich zugleich zunehmende Bürokratisierung.

Auch geschichtlich steht aber der „Fortschritt“ zum bürokratischen, nach rational gesatztem Recht und rational erdachten Reglements judizierenden und verwaltenden Staat jetzt in engstem Zusammenhang mit der modernen kapitalistischen Entwicklung. Der moderne kapitalistische Betrieb ruht innerlich vor allem auf der Kalkulation. Er braucht für seine Existenz eine Justiz und Verwaltung, deren Funktionieren wenigstens im Prinzip ebenso an festen generellen Normen rational kalkuliert werden kann, wie man die voraussichtliche Leistung einer Maschine kalkuliert. Er kann sich mit der im populären Sprachgebrauch sogenannten „Kadijustiz“: dem Judizieren nach dem Billigkeitsempfinden des Richters im Einzelfall oder nach anderen irrationalen Rechtsfindungsmitteln und Prinzipien, wie sie in der Vergangenheit überall bestanden, im Orient noch heute bestehen, ebenso wenig befreunden wie mit der patriarchalen, nach freier Willkür und Gnade und im Übrigen nach unverbrüchlich heiliger, aber irrationaler, Tradition verfahrenden Verwaltung der theokratischen oder patrimonialen Herrschaftsverbände Asiens und unserer eigenen Vergangenheit. Der Umstand, dass diese „Kadijustiz“ und die ihr entsprechende Verwaltung, eben ihres irrationalen Charakters wegen, besonders häufig käuflich ist, gestattete zwar dem Kapitalismus des Händlers und Staatslieferanten und allen Arten des seit vier Jahrtausenden in der Welt bekannten vorrationalistischen Kapitalismus, namentlich des an der Politik, dem Krieg, der Verwaltung als solcher verankerten Abenteurer- und Raubkapitalismus, die Entstehung und Existenz (und oft gerade durch jene Qualitäten üppige Blüte). Das aber, was dem modernen Kapitalismus im Gegensatz zu jenen uralten Formen kapitalistischen Erwerbs spezifisch ist: die streng rationale Organisation der Arbeit auf dem Boden rationaler Technik, ist nirgends innerhalb derartig irrational konstruierter Staatswesen entstanden und konnte dort auch nie entstehen. Denn dazu sind diese modernen Betriebsformen mit ihrem stehenden Kapital und ihrer exakten Kalkulation gegen Irrationalitäten des Rechts und der Verwaltung viel zu empfindlich. Sie konnten nur da entstehen, wo entweder, wie in England, die praktische Gestaltung des Rechts tatsächlich in den Händen der Advokaten lag, welche im Dienste ihrer Kundschaft: der kapitalistischen Interessenten also, die geeigneten Geschäftsformen ersannen, und aus deren Mitte dann die streng an „Präzedenzfälle“, also an berechenbare Schemata gebundenen Richter hervorgingen. Oder wo der Richter, wie im bürokratischen Staat mit seinen rationalen Gesetzen, mehr oder minder ein Paragraphen-Automat ist, in welchen man oben die Akten nebst den Kosten und Gebühren hineinwirft, auf dass er unten das Urteil nebst den mehr oder minder stichhaltigen Gründen ausspeie: – dessen Funktionieren also jedenfalls im Großen und Ganzen kalkulierbar ist. [In die Kleinkinderschule gehört die charakteristische dilettantische Literatenvorstellung: das „römische Recht“ habe den Kapitalismus befördert. Jeder Student ist verpflichtet, zu wissen, dass alle charakteristischen Rechtsinstitute des modernen Kapitalismus, von der Aktie, dem Rentenpapier, dem modernen Bodenpfandrecht, dem Wechsel und allen Arten der Verkehrsurkunden an bis zu den kapitalistischen Assoziationsformen in Industrie, Bergbau und Handel dem römischen Recht völlig unbekannt und mittelalterlichen, zum erheblichen Teil spezifisch germanischen Ursprungs sind, und dass in dem Mutterland des modernen Kapitalismus, England, das römische Recht niemals Fuß gefasst hat. Das Fehlen der großen nationalen Advokatenzünfte, die in England sich dem römischen Recht widersetzten, und im Übrigen: die Bürokratisierung der Rechtspflege und Staatsverwaltung ebneten bei uns in Deutschland dem römischen Recht den Weg. Der moderne Früh-Kapitalismus ist nicht in den Musterländern der Bürokratie (die ihrerseits dort aus reinem Staatsrationalismus erwuchs) entstanden. Und auch der moderne Hochkapitalismus war zunächst nicht auf sie beschränkt, zunächst nicht einmal in ihnen vorwiegend heimisch. Sondern da, wo die Richter aus Advokaten hervorgingen. Aber heute haben sich Kapitalismus und Bürokratie gefunden und gehören intim zusammen.] –

 

Nicht anders als in Wirtschaft und staatlicher Verwaltung steht es schließlich mit dem Fortschritt zur Bürokratisierung nun auch: in den Parteien.

Die Existenz der Parteien kennt keine Verfassung und (bei uns wenigstens) auch kein Gesetz, obwohl doch gerade sie heute die weitaus wichtigsten Träger alles politischen Wollens der von der Bürokratie Beherrschten, der „Staatsbürger“, darstellen. Parteien sind eben – mögen sie noch so viele Mittel der dauernden Angliederung ihrer Klientel an sich verwenden – ihrem innersten Wesen nach freiwillig geschaffene und auf freie, notwendig stets erneute, Werbung ausgehende Organisationen, im Gegensatz zu allen gesetzlich oder kontraktlich fest umgrenzten Körperschaften. Heute ist stets Stimmenwerbung für Wahlen zu politischen Stellungen oder in eine Abstimmungskörperschaft ihr Ziel. Ein dauernder, unter einem Führer oder einer Honoratiorengruppe vereinigter Kern von Parteiinteressenten mit sehr verschieden fester Gliederung, heute oft mit entwickelter Bürokratie, sorgt für die Finanzierung mit Hilfe von Parteimäzenaten oder wirtschaftlichen Interessenten oder Amtspatronageinteressenten oder durch Mitgliedsbeiträge: meist aus mehreren dieser Quellen. Er bestimmt das jeweilige Programm, die Art des Vorgehens und die Kandidaten. Auch bei sehr demokratischer Form der Massenparteiorganisation, welche dann, wie stets, ein entwickeltes besoldetes Beamtentum zur Folge hat, ist die Masse zum mindesten der Wähler, in ziemlichem Umfang aber auch der einfachen „Mitglieder“, nicht (oder nur formell) beteiligt an der Bestimmung der Programme und Kandidaten. Die Wähler kommen vielmehr mitwirkend nur dadurch in Betracht, dass jene beiden den Chancen, dadurch deren Stimmen zu gewinnen, angepasst und danach ausgewählt werden.

Mag man nun die Existenz, die Art des Werbens und Kämpfens und die Tatsache, dass unvermeidlich Minderheiten die Formung von Programmen und Kandidatenlisten in der Hand haben, moralisierend beklagen, – beseitigen wird man die Existenz der Parteien nicht und jene Art ihrer Struktur und ihres Vorgehens höchstens in begrenztem Maße. Reglementieren kann das Gesetz, wie z. B. mehrfach in Amerika, die Form der Bildung jenes aktiven Parteikerns (ähnlich wie etwa die Bedingungen der Bildung von Gewerkschaften) und die „Kampfregeln“ auf dem Wahlschlachtfeld. Aber den Parteikampf selbst auszuschalten, ist nicht möglich, wenn nicht eine aktive Volksvertretung überhaupt fortfallen soll. Die verworrene Vorstellung, dass man es doch könne und solle, beschäftigt aber stets erneut die Literatenköpfe. Sie gehört, bewusst oder unbewusst, zu den Voraussetzungen der vielen Vorschläge, statt der oder neben den auf der Basis des allgemeinen (abgestuften oder gleichen) staatsbürgerlichen Wahlrechts gebildeten Parlamenten, Wahlkörperschaften auf „berufsständischer“ Basis zu schaffen, bei welchen korporativ zusammengefasste Berufsvertretungen zugleich Wahlkörper für das Parlament sein würden. Ein Ungedanke schon an sich in einer Zeit, wo die formelle Zugehörigkeit zu einem bestimmten Beruf (die ja wahlgesetzlich an äußere Merkmale geknüpft werden müsste) über die ökonomische und soziale Funktion bekanntlich so gut wie nichts aussagt, wo jede technische Neuerfindung und jede ökonomische Verschiebung und Neubildung diese Funktionen und damit auch den Sinn der formal gleichbleibenden Berufsstellungen und ihr Zahlenverhältnis zueinander verschiebt. Aber selbstverständlich auch kein Mittel für den erstrebten Zweck. Denn würde es gelingen, sämtliche Wähler in Berufskörperschaften von der Art etwa der heutigen Handelskammern oder Landwirtschaftskammern vertreten und aus diesen dann das Parlament hervorgehen zu lassen, so wäre selbstverständlich die Folge:

1. dass neben diesen gesetzlich zusammengeklammerten Berufsorganisationen einerseits die auf freier Werbung ruhenden Interessenvertretungen stehen würden. So, wie neben den Landwirtschaftskammern der Bund der Landwirte, neben den Handelskammern die verschiedenen Arten der freien Unternehmerorganisationen. Andererseits würden selbstverständlich die auf Werbung ruhenden politischen Parteien, weit entfernt davon zu verschwinden, Richtung und Art ihrer Werbung dem neugeschaffenen Zustand anpassen. Gewiss nicht zum Vorteil: die Beeinflussung der Wahlen in jenen Berufsvertretungen durch Wahlgeldgeber und die Ausnutzung der kapitalistischen Abhängigkeiten würden ja mindestens ebenso unkontrollierbar fortbestehen. Im Übrigen würden als selbstverständliche Folge eintreten: einerseits – 2. dass die Lösung der sachlichen Aufgaben der Berufsvertretungen nun, wo ihre Zusammensetzung die Parlamentswahlen und damit die Amtspatronage beeinflussen würde, in den Strudel der politischen Macht- und Parteikämpfe gerissen, statt der sachlich kompetenten Fachvertreter also Parteivertreter sie bevölkern würden. Andererseits – 3. dass das Parlament ein Markt für rein materielle Interessenkompromisse ohne staatspolitische Orientierung würde. Für die Bürokratie ergäbe das die gesteigerte Versuchung dazu und einen erweiterten Spielraum dafür: durch Ausspielen materieller Interessengegensätze und durch ein Patronage- und Lieferungs-Trinkgeldersystem verstärkter Art die eigene Macht zu erhalten und vor allem: jede Verwaltungskontrolle illusorisch zu machen. Denn die entscheidenden Vorgänge und Kompromisse der Interessenten würden sich ja nun, noch viel weniger kontrolliert, hinter den verschlossenen Türen ihrer unoffiziellen Konzerne abwickeln. Nicht der politische Führer, sondern der geriebene Geschäftsmann käme im Parlament ganz unmittelbar auf seine Rechnung, während für die Lösung politischer Fragen nach politischen Gesichtspunkten eine solche sogenannte „Volksvertretung“ wahrlich die ungeeignetste Stätte wäre. Das alles liegt für den Kundigen auf der Hand. Ebenso, dass derartiges kein Mittel ist, die kapitalistische Beeinflussung der Parteien und des Parlaments zu schwächen oder gar das Parteigetriebe zu beseitigen oder doch zu reinigen. Das gerade Gegenteil wäre der Fall. Die Tatsache, dass die Parteien nun einmal auf freier Werbung beruhende Gebilde sind, steht ihrer Reglementierung im Weg und wird von solchen Literatenvorstellungen, welche nur die durch staatliches Reglement geschaffenen, nicht die „freiwillig“ auf dem Kampfplatz der heutigen Gesellschaftsordnung gewachsenen Gebilde als Organisationen kennen möchten, verkannt. –

Politische Parteien können in modernen Staaten vor allem auf zwei verschiedenen letzten innerlichen Prinzipien aufgebaut sein. Entweder sie sind – wie in Amerika seit dem Wegfall der großen Gegensätze über die Verfassungsinterpretation – wesentlich Amtspatronage-Organisationen. Ihr Ziel ist dann lediglich, durch Wahlen ihren Führer in die leitende Stellung zu bringen, damit er dann seiner Gefolgschaft: dem Beamten- und Werbeapparat der Partei, die staatlichen Ämter zuwende. Inhaltlich gesinnungslos, schreiben sie, miteinander konkurrierend, jeweils diejenigen Forderungen in ihr Programm, welchen sie die stärkste Werbekraft bei den Wählern zutrauen. Dieser Charakter der Parteien ist in den Vereinigten Staaten deshalb so nackt ausgeprägt, weil dort kein parlamentarisches System besteht, vielmehr der vom Volk gewählte Präsident der Union (unter Beteiligung der gewählten Senatoren der Staaten) die Amtspatronage der ungeheuren Zahl zu vergebender Bundesämter in Händen hat. Trotz der Korruption, die es zur Folge hatte, war dies System populär, weil es die Entstehung einer Bürokratenkaste vermied. Technisch möglich aber war es, weil und solange selbst die übelste Dilettantenwirtschaft angesichts des unbegrenzten Überflusses an ökonomischen Chancen ertragen werden konnte. Die steigende Notwendigkeit, den jeder Fachschulung entbehrenden Parteischützling und Gelegenheitsbeamten durch den das Amt als Lebensberuf versehenden fachgeschulten Beamten zu ersetzen, gräbt diesen amerikanischen Parteien zunehmend Pfründen ab und lässt auch dort unentrinnbar eine Bürokratie europäischer Art entstehen.

Oder die Parteien sind vornehmlich Weltanschauungsparteien, welche also der Durchsetzung inhaltlicher politischer Ideale dienen wollen. In ziemlich reiner Form waren dies das deutsche Zentrum der siebziger Jahre und die Sozialdemokratie bis zu ihrer Durchbürokratisierung. Die Regel ist aber, dass Parteien beides zugleich sind: sie haben, sachlich politische, durch die Tradition überlieferte und mit Rücksicht auf sie nur langsam modifizierbare Ziele, erstreben aber außerdem: Ämterpatronage. Und zwar entweder die Besetzung in erster Linie der leitenden Ämter, derjenigen also, welche politischen Charakters sind, durch ihre Führer. Die Erreichung dieses Ziels durch sie im Wahlkampf ermöglicht dann den Führern und Betriebsinteressenten während der politischen Herrschaft der Partei, ihren Schützlingen Unterkunft in gesicherten Staatsstellungen zu verschaffen. Dies ist die Regel in parlamentarischen Staaten, und diesen Weg sind daher dort auch die Weltanschauungsparteien gegangen. In nichtparlamentarischen Staaten steht den Parteien die Patronage der leitenden Ämter nicht zu. Dagegen pflegen dort die einflussreichsten von ihnen in der Lage zu sein, die herrschende Bürokratie wenigstens zu nötigen, ihren Schützlingen neben den durch Konnexion mit Beamten empfohlenen Anwärtern Unterkunft in unpolitischen Staatsstellungen zu gewähren, also: Subalternpatronage auszuüben. –

Ihrer inneren Struktur nach gehen alle Parteien im Lauf der letzten Jahrzehnte mit zunehmender Rationalisierung der Wahlkampftechnik zur bürokratischen Organisation über. Die Stufen der Entwicklung, welche die einzelnen Parteien auf dem Wege dahin erreicht haben, sind verschieden, die allgemeine Richtung des Wegs aber, in Massenstaaten wenigstens, ist eindeutig. Der „Caucus“ J. Chamberlains in England, die Entwicklung der bezeichnenderweise sogenannten „Maschine“ in Amerika und die überall, auch bei uns: – am schnellsten in der Sozialdemokratie, also, und ganz natürlicherweise, gerade in der demokratischsten Partei – zunehmende Bedeutung des Parteibeamtentums sind alle in gleicher Art Stadien dieses Vorgangs. In der Zentrumspartei versieht der kirchliche Apparat: die „Kaplanokratie“, und für die konservative Partei in Preußen seit dem Ministerium Puttkamer der Landrats- und Amtsvorsteherapparat des Staates, einerlei ob offen oder verhüllt, die Dienste der Parteibürokratie.

 

Robert Viktor von Puttkamer

Auf der Qualität der Organisation dieser Bürokratien in erster Linie beruht die Macht der Parteien. Auf der Feindseligkeit dieser Parteibeamtenapparate gegeneinander weit mehr als auf Unterschieden der Programme beruhen z. B. auch die Schwierigkeiten der Parteifusionen.


Eugen Richter (* 30. Juli 1838 in Düsseldorf; † 10. März 1906 in Groß-Lichterfelde, einem Vorort von Berlin) war ein deutscher Politiker (Deutsche Fortschrittspartei, Deutsche Freisinnige Partei, Freisinnige Volkspartei) und Publizist in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs

Darin, dass von den Abgeordneten Eugen Richter und Heinrich Rickert innerhalb der deutsch-freisinnigen Partei jeder seine eigene Vertrauensmännermaschinerie beibehielt, war der spätere Zerfall dieser Partei bereits vorgebildet.


Heinrich Rickert (* 27. Dezember 1833 in Putzig; † 3. November 1902 in Berlin) war ein deutscher Journalist und führender linksliberaler Politiker.

Natürlich sieht nun eine Staatsbürokratie teilweise sehr anders aus als die einer Partei, innerhalb der ersteren wieder die zivile anders als die militärische, und sie alle wieder anders als die einer Gemeinde, einer Kirche, einer Bank, eines Kartells, einer Berufsgenossenschaft, einer Fabrik, einer Interessenvertretung (Arbeitgeberverband, Bund der Landwirte). Das Maß ferner, in welchem ehrenamtliche oder Interessententätigkeit mitbeteiligt ist, ist in allen diesen Fällen sehr verschieden. In der Partei ist der „Boss“, in der Aktiengesellschaft der Aufsichtsrat kein „Beamter“. Mitbeschließend, kontrollierend, beratend und auch gelegentlich ausführend können in den mannigfachen Formen der sogenannten „Selbstverwaltung“ allerhand Honoratioren oder gewählte Vertreter der beherrschten oder zwangsweise belasteten Interessenten den Beamten in korporativer Form oder als Einzelorgane unterstellt oder beigegeben oder übergeordnet sein. Das letztere vor allem in der Gemeindeverwaltung. Aber deren praktisch gewiss wichtige Erscheinungen sollen uns hier nicht interessieren. [Damit scheiden aus dieser Betrachtung zahlreiche Institutionen aus, auf deren Existenz wir in Deutschland durchaus mit Recht stolz sein dürfen, ja die, in einzelnen Fällen wenigstens, als vorbildlich bezeichnet werden können. – Aber ein ungeheurer Literatenirrtum ist es, sich einzubilden, die Politik eines Großstaates sei im Grunde nichts anderes als die Selbstverwaltung einer beliebigen Mittelstadt. Politik ist: Kampf.] Denn – worauf es hier allein ankommt – in der Verwaltung von Massenverbänden bildet stets das festangestellte Beamtentum mit spezialisierter Einschulung den Kern des Apparates, und seine „Disziplin“ ist absolute Vorbedingung des Erfolges. Und zwar mit zunehmender Größe des Verbandes, zunehmender Kompliziertheit seiner Aufgaben und – vor allem – zunehmender Machtbedingtheit seiner Existenz (sei es, dass es sich um Machtkämpfe auf dem Markt, auf dem Wahlkampfplatz oder auf dem Schlachtfeld handelt) in zunehmendem Maße. So auch bei den Parteien. Es ist im Parteiwesen ein zum Untergang verurteilter Zustand, wenn es, wie in Frankreich (dessen ganze Parlamentsmisere auf dem Fehlen bürokratisierter Parteien beruht) und teilweise auch bei uns, noch Parteien gibt, die an dem System der lokalen Honoratiorenverwaltung festhalten, welches ja dereinst im Mittelalter ganz universell alle Arten von Verbänden beherrschte und heute noch in kleinen und mittleren Gemeinden vorherrscht. Als Reklamemittel, und nur als solches, nicht aber als Träger der ausschlaggebenden Alltagsarbeit, kommen für die Parteien heute solche „angesehene Bürger“, „führende Männer der Wissenschaft“ und wie sie sonst genannt werden mögen, in Betracht, ganz ebenso wie etwa in den Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften allerhand dekorative Würdenträger, auf den Katholikentagen die Kirchenfürsten, auf den Versammlungen des Bundes der Landwirte echte und unechte Adelige oder in der Agitation der alldeutschen Kriegsgewinn- und Wahlprivilegsinteressenten allerhand verdiente Historiker, Biologen und ähnliche meist recht unpolitische Kapazitäten figurieren. Die reale Arbeit leisten in allen Organisationen zunehmend die bezahlten Angestellten und Agenten aller Art. Alles andere ist oder wird zunehmend Appretur und Schaufenster.

Wie die Italiener und nach ihnen die Engländer die moderne kapitalistische Wirtschaftsorganisation, so haben die Byzantiner, nach ihnen die Italiener, dann die Territorialstaaten des absolutistischen Zeitalters, die französische revolutionäre Zentralisation und schließlich, alle anderen übertreffend, die Deutschen die rationale, arbeitsteilige, fachmäßige bürokratische Organisation aller menschlichen Herrschaftsverbände, von der Fabrik bis zum Heer und Staat, virtuosenhaft entwickelt und sich nur in der Technik der Parteiorganisation von anderen Nationen, insbesondere den Amerikanern, vorläufig und teilweise übertreffen lassen. Der jetzige Weltkrieg aber bedeutet vor allem den Siegeszug dieser Lebensform über die ganze Welt. Er war ohnehin im Gange. Universitäten, technische und Handelshochschulen, Gewerbeschulen, Militärakademien, Fachschulen aller sonst denkbaren Art (sogar Journalistenschulen!), – das Fachexamen als Voraussetzung aller lohnenden und dabei vor allem „gesicherten“ privaten und öffentlichen Amtsstellungen, – das Examensdiplom als Grundlage aller Ansprüche auf soziale Geltung (Connubium und soziales Commercium mit den zur „Gesellschaft“ sich rechnenden Kreisen), – das „standesgemäße“, sichere, pensionsfähige Gehalt, wenn möglich: die Aufbesserung und das Avancement nach der Anciennität: – dies war bekanntlich schon vorher die eigentliche, von dem Frequenzinteresse der Hochschulen gemeinsam mit der Pfründensucht ihrer Zöglinge getragene „Forderung des Tages“. Im Staat wie außerhalb des Staates. Hier geht uns die Konsequenz für das politische Leben an. Denn dieser nüchterne Tatbestand der universellen Bürokratisierung verbirgt sich in Wahrheit auch hinter den sogenannten „deutschen Ideen von 1914“, hinter dem, was die Literaten euphemistisch den „Sozialismus der Zukunft“ nennen, hinter dem Schlagwort von der „Organisation“, der „Genossenschaftswirtschaft“ und überhaupt hinter allen ähnlichen Redewendungen der Gegenwart. Stets bedeuten sie (auch wenn sie das gerade Gegenteil erstreben) im Resultat: die Schaffung von Bürokratie. Gewiss ist die Bürokratie bei weitem nicht die einzige moderne Organisationsform, so wie die Fabrik bei weitem nicht die einzige gewerbliche Betriebsform ist. Aber beide sind diejenigen, welche dem gegenwärtigen Zeitalter und der absehbaren Zukunft den Stempel aufdrücken. Der Bürokratisierung gehört die Zukunft, und es verstand (und versteht) sich von selbst, dass die Literaten ihren Beruf, die Beifallssalve der gerade aufsteigenden Mächte zu sein, in diesem Fall ganz ebenso wie im Zeitalter der Manchesterlehre erfüllten (und erfüllen). Beide Male mit der gleichen Arglosigkeit.