Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Rechts hinten betritt man die Sala della Quarantia Civile Nuova (Gerichtshof, der für die terraferma, die Besitzungen auf dem Festland, zuständig war). Die Gemälde dieses Raumes beziehen sich thematisch auf das Richteramt.

Hinter dieser Sala öffnet sich ein weiterer Riesenraum, die Sala dello Scrutinio, die unter dem Dogen Francesco Foscari (1423–38) erbaut wurde und deren ursprünglicher Zweck unbekannt ist. Lange Zeit (bis 1553) barg er die von Kardinal Bessarion gestiftete Bibliothek, bevor die libreria Sansovinos fertiggestellt war. Später tagten hier die Ausschüsse des Großen Rates, besonders die Wahlkommissionen (z. B. die für die Wahl des Dogen) – scrutinio bedeutet im Venezianischen „Abstimmung“. Ein enger funktioneller Zusammenhang zwischen diesem Saal und der Sala del Maggior Consiglio kann somit angenommen werden, wofür auch die Ähnlichkeit der Ausstattung der beiden Räume spricht. Dominierend ist auch hier der soffitto, wobei die Rahmung der längsrechteckigen und querovalen Gemälde noch üppiger, „barocker“, ist. Dagegen steht die Qualität der Bilder hinter denen in der Sala del Maggior Consiglio zurück. Hingewiesen sei lediglich auf Die Einnahme Paduas 1405 von F. Bassano, ein Queroval im soffitto über der Eingangswand. Unterhalb der Decke wird die Galerie der Dogenportraits fortgesetzt. An den Wänden hängen weitere Historienbilder, unter ihnen eine riesige Darstellung der Seeschlacht von Lepanto 1571 von A. Vicentino und an der gleichen Wand gleich neben dem Eingang die Einnahme von Zara 1346 von J. Tintoretto mit höchst eindrucksvoller Komposition und dichter Darstellung des Kampfgeschehens. An der Schmalseite über dem Tribunal ist das Jüngste Gericht des jüngeren Palma zu sehen, der im Wettbewerb um den Platz im vorangehenden Saal, den heute das Paradies Tintorettos einnimmt, unterlegen war. In der Bildkomposition lehnt sich Palma deutlich an Tintoretto an. Früher, so heißt es, sei hier einmal ein Gemälde Tintorettos mit gleichem Thema zu sehen gewesen, das 1577 jedoch verbrannt sei.

Zu der Entstehung dieses verlorenen Gemäldes gibt es eine kleine Geschichte. Tintoretto habe nämlich eines Tages, als er an dem Bild mit der für ihn typischen Schnelligkeit arbeitete, Besuch von einigen Senatoren und anderen Würdenträgern bekommen, die ihm eine Zeitlang bei der Arbeit zuschauten. Sie meinten schließlich, dass andere Maler wie zum Beispiel Bellini bedächtiger und akkurater in ihrer Maltechnik gewesen seien. „Das mag durchaus sein“, soll Tintoretto geantwortet haben, „aber diese anderen Künstler hatten auch keine solchen lästigen Typen zwischen den Beinen gehabt, wie ich jetzt.“ So habe er gesprochen und dann noch schneller weitergemalt als zuvor.

An der gegenüberliegenden (westlichen) Schmalseite findet sich ein eigenartiges Monument, ein Triumphbogen, den der Senat für Francesco Morosini, den Peloponnesiaco, als Dank für die Wiedergewinnung der Peloponnes 1694 errichten ließ (möglicherweise nach Plänen von A. Tirali). Das Auftauchen eines persönlichen Ehrenmonuments im Dogenpalast ist etwas Einzigartiges. Bis dahin stand die einzelne Persönlichkeit nie im Zentrum von Darstellungen, sondern hatte nur dienenden Charakter vor San Marco, seinem Löwen oder vor Venezia, also vor den Symbolen der Republik.

Man kehrt durch die Sala del Maggior Consiglio zurück, passiert den Raum für die Quarantia criminale (Gerichtshof für Strafprozesse) und erreicht anschließend den Corridoio, eine breite Galerie, die sich nach links zum Innenhof des Palastes öffnet. An ihm sind zwei Räume gelegen, in denen eine kleine Galerie mit Gemälden des Niederländers Hieronymus Bosch (ca. 1450–1516) eingerichtet ist. Diese Bilder stellen für den Venedigbesucher eine ziemliche Überraschung dar, da keine Verbindungen mit der venezianischen Kunst erkennbar sind. „Alle Bilder zeigen die für H. Bosch charakteristische Verbindung von genauer Naturbeobachtung auf der einen Seite mit einer ins Surreale hinüberspielenden Traumhaftigkeit auf der anderen Seite.“ (Th. Droste).

Die offizielle Führungslinie weist über einen längeren schmalen Gang zur Seufzerbrücke und von dort in die Prigioni und anschließend wieder auf den Korridor, in dessen rechter Ecke eine Treppe in den kleinen Hof neben der Gigantentreppe führt, in den Cortile dei Senatori. Von dort verlässt man den Dogenpalast durch den Arco Foscari, um durch die Porta della Carta auf die Piazzetta zu gelangen.

Erwähnt sei noch, dass heute im Erdgeschoss des Süd- und Westflügels, im Museo dell’Opera, diejenigen Originale der Architekturteile des Dogenpalastes untergebracht sind, die 1876 abgenommen und durch Kopien ersetzt wurden, so z. B. zahlreiche Säulen und Kapitelle.

► Der Glockenturm

Der Porta della Carta, dem früheren Zugang zum Dogenpalast unmittelbar gegenüber ragt der Campanile in den Himmel, der mit 95 Metern höchste Kirchturm der Stadt. „Freistehend wie die meisten Glockentürme der Stadt und wie diese der Kirche und dem Platz gemeinsam dienend, ist der Campanile der ‚Herr des Hauses‘ („el paròn de caxa“), wie ihn die Venezianer treffend bezeichnen, Wahrzeichen der Stadt und Symbol des Gemeinsamen schlechthin. Er verkörperte für die Venezianer nicht nur den Ort des Wohnens als Heimat, sondern auch den Blick auf die Weite des Meeres und stellt die Richtung allen Strebens, das sich irdischer Grenzen bewusst bleibt, nach oben nämlich, unerschütterlich fest.“ (Hubala).

Geschichte: Der Legende nach wurde mit seiner Errichtung 912 begonnen, und zwar am Sankt Markus-Tag, dem 25. April. Erste Fundamente stammen schon aus dem 9. Jahrhundert, über denen sich ein mächtiger Ziegelbau erhob. Dieser wurde im 12. Jahrhundert erhöht, erhielt 1156–72 ein erstes Klangarkadengeschoss und im 15. Jahrhundert ein weiteres. Nach 1500 kam der Pyramidenhelm dazu. Bekrönt wurde das Ganze 1517 mit der drei Meter hohen, mit Goldblech verkleideten Holzfigur des Erzengels Gabriels, die sich frei im Winde dreht. Während der Kriege gegen die Genuesen im 14. Jahrhundert waren fünf Kanonen in der Glockenstube aufgestellt. Gleich nach der Vollendung des Bauwerks hatte man die Turmspitze mit vergoldetem Messing überzogen. Das war zwar recht praktisch für die Schifffahrt, die sich bis weit aufs Meer hinaus an diesem Leuchtzeichen orientieren konnte, doch schlug der Blitz so häufig ein, dass das Blech schließlich durch eine Außenfläche aus farbigen Steinen ersetzt werden musste. Dadurch wurden die Blitzeinschläge zwar seltener, führten aber auch weiterhin zu erheblichen Schäden. So wurde im Jahre 1745 die Engelsstatue getroffen, so dass sie auf die Buden stürzte, die den campanile an dessen Fuß umgaben. Im Jahre 1776 wurde erstmals ein Blitzableiter angebracht, der conduttore elettrico. Bis 1537 stand der Glockenturm im Verbund mit dem Vorgängerbau der heutigen Neuen Procuratien. Erst als Sansovino anfing, die Libreria zu errichten, hat er die südliche Front der Piazza zurückgenommen und dadurch den Turm freigestellt.

Die mehrfachen Erhöhungen des Turms hatten wohl dessen Statik ungünstig beeinflusst, außerdem hatte man irgendwann einmal Bauteile im Inneren des unteren Turmabschnittes beseitigt. All das führte letztlich dazu, dass der Turm am 14. Juli 1902 einstürzte. Die Statue des Erzengels Gabriel rollte vor das Hauptportal der Basilika „come portato da una forza superiore“, was als gutes Omen dafür angesehen wurde, dass der Kirche selbst nichts geschehen werde. Als einzige der Glocken blieb die Marangona erhalten. Von ihr erzählt man sich, dass sie aus Metall von höchster Qualität gegossen worden war und dass sie mit Sicherheit eine der ältesten Glocken auf dieser Erde sei. 1204 sei sie aus Konstantinopel nach Venedig gebracht worden, und schon die zeitgenössischen Dokumente sprechen von einem uralten Instrument, dessen Guss auf das 4. bis 6. Jahrhundert zurückgehen könne. Sie läutet jetzt um 12 Uhr und – als einzige der Stadt – um 24 Uhr.

Marangon ist die venezianische Bezeichnung für falegname, was „Zimmermann, Schreiner“ bedeutet. Aus den Trümmern des Campanile wurden auch sechs Hemden geborgen, die am Tag vor dem Einsturz noch gebügelt worden waren und sich in einem so gut wie unberührten Zustand befanden. Diese Hemden wurden beim Festbankett anlässlich der Einweihung des neuen Turmes (am 25. April 1912, auf den Tag genau tausend Jahre nach der ersten Grundsteinlegung) von sechs Gästen getragen. Außerdem hatte ein alter Mann eine wunderschöne Schale aus Muranoglas aus den Trümmern gezogen und aufbewahrt, die völlig unbeschädigt geblieben war. Am Tag der Einweihung durfte er die Schale mit einem köstlichen Wein füllen und dann den Inhalt des Glases auf die Erde gießen, somit einen Ritus vollziehen, der an Opferszenen der Antike erinnert. Das Glas wird heute im Museo Vetrario auf Murano aufbewahrt und gilt als ein kostbares Symbol für die unsterbliche Seele Venedigs.

Nach dem crollo, dem Einsturz, beschloss der Magistrat der Stadt umgehend die Rekonstruktion des Turms: „com’era dov’era – wie er war und wo er war“ sollte er wieder errichtet werden. Schon im Jahre 1885 hatte der Ausgräber des Forum Romanum, Giacomo Boni, das Fundament des Turms untersucht und dabei festgestellt, dass es noch völlig intakt war. Überraschend war damals, dass das Fundament „nicht tiefer als etwa 28 Fuß war“ (Varè), also bei einer Turmhöhe von 320 Fuß nur etwas mehr als neun Meter. „Er entdeckte sieben Lagen Steine, auf die das folgte, was er ein ‚zatterone‘ aus Holz nannte, eine Art Floß, und schließlich Pfeiler wie bei einem vorgeschichtlichen Pfahlbau, ... wohingegen die lokale Legende davon sprach, dass das Fundament viel tiefer hinunterreichte und sich dann unter dem Pflaster der Piazza nach allen Seiten wie ein Stern ausbreitete.“

Der campanile wurde zwar „wo er war“ wieder aufgebaut, zum Teil wurde auch das alte Material wieder verwendet. Jedoch wurde die Form des Turmes etwas verändert, sie wurde kompakter und massiger, was sich ohne weiteres bei einem Vergleich mit Darstellungen auf älteren Gemälden erkennen lässt.

 

Exakt, wie die Venezianer sind, haben sie über Gewichte und verwendete Materialien genau Buch geführt. So beträgt das Gewicht des Turmes 8.900 Tonnen ohne, 12.970 Tonnen mit Fundament. Verwendet wurden 1.530 Kubikmeter istrischer Kalkstein neben den alten Blöcken, 1.204.000 Ziegelsteine, 11.860 Doppelzentner Zement, 39,38 Tonnen Metall für die Armierung des Stahlbetons, 6,23 Tonnen Eisen für die Glockenstube und die Aufhängung der Glocken und 4,5 Tonnen Kupfer für das Dach.

Trotzdem schwingt sich der massive Mauerbau mit erstaunlicher Leichtigkeit empor. Seine Wandflächen sind nur durch lange Lisenen gegliedert und durch vereinzelte weiß gefasste Fensterchen unterbrochen. Dieser Eindruck der Leichtigkeit wird durch das blendende Weiß der Glockenstube verstärkt, über der sich der Helm förmlich im Licht des Himmels auflöst, so dass der Erzengel Gabriel auf der Turmspitze zu schweben scheint. Der Ausblick von der Glockenstube über Stadt und Lagune auf die Adria auf der einen, bis hin zu den Dolomiten, die bei gutem Wetter deutlich zu sehen sind, auf der anderen Seite, gehört zu den stärksten Eindrücken, die die Stadt vermitteln kann. „Es war um Mittag und heller Sonnenschein, dass ich ohne Perspektiv Nähen und Fernen genau erkennen konnte. Die Flut bedeckte die Lagunen, und als ich den Blick nach dem sogenannten Lido wandte ... sah ich zum ersten Mal das Meer und einige Segel darauf...“, schreibt Goethe in seiner „Italienischen Reise“. Galilei benützte den großen Glockenturm als Plattform für seine astronomischen Studien und entdeckte von hier aus am 21. August 1609 die Trabanten des Jupiter.

Früher war der Turm von Holzbuden umgeben, in denen auch Weinhändler ihre Verkaufsstände hatten. Die Bezeichnung ombra (ein wichtiges Wort in Venedig!), die für ein kleines Glas Wein oder eine ähnliche Menge eines anderen alkoholischen Getränkes steht, kommt vermutlich daher, dass die Weinhändler mit ihren Ständen im Schatten des Turms mitgewandert sind, um ihre Getränke möglichst kühl zu halten – „andare al ombra“ in der ursprünglichen Bedeutung des Ausdrucks, der heute eher eine kleine Kneipentour bedeutet.

Zu Füßen des campanile liegt feingliedrig und elegant die Hauptwache, die Loggetta. Sie steht in einer langen italienischen Bautradition: „Offene Bogenhallen auf Pfeilern oder Säulen, wo sich die Vornehmen treffen und Geschäfte besprechen, finden sich in allen oberitalienischen Städten und stellen ein antikes Fossil in mittelalterlicher oder neuerer architektonischer Gestaltung dar, lagen gewöhnlich an Platz- oder Straßenecken und sind auch für den Markusplatz seit dem 14. Jahrhundert bezeugt.“ (Hubala). Die Loggetta, die möglicherweise einen Vorgängerbau hatte, wurde 1537–40 von Jacopo Sansovino errichtet, während der Vorbau mit der Balustrade erst später entstand und das Bronzegitter 1733–35 hinzukam. Architektonischer Grundgedanke des Bauwerkes ist der des antiken Triumphbogens. Er wurde hier mit drei gleich hohen und gleich weiten Bögen gestaltet, denen Säulen vorgestellt wurden, die wiederum eine mächtige, reliefgeschmückte Attika tragen. Die vier wundervollen Bronzefiguren in den Nischen, die als Sinnbilder der Tugenden des Staates Minerva, Apollo, Merkur und Pax darstellen, schuf Sansovino selbst. Das Mittelrelief in der Attika symbolisiert die Gerechtigkeit in der Gestalt Venedigs. Die beiden seitlichen Reliefs stehen für die Herrschaft über Zypern (Aphrodite) und Candia = Kreta (Zeus). Die Errichtung Bauwerkes kostete den Staat die vergleichsweise geringe Summe von 400 Dukaten. Im Innern der Loggetta versammelte sich nach 1589 während der sonntäglichen Sitzungen des Großen Rates die Palastwache. Im Übrigen war die Loggetta das einzige bauliche Opfer des crollo. Obwohl der Campanile sie vollständig unter sich begraben hatte, konnte sie aus den Trümmern perfekt rekonstruiert werden.

Die Bauten an der Piazza und der Piazzetta

Die Piazza vor der Markuskirche wird gefasst von den Alten Prokuratien rechts, den Neuen Prokuratien links und auf der Westseite begrenzt durch die sogenannte Ala Napoleonica, den später erbauten Napoleon-Flügel – hier stand bis zum Ende der Republik, korrespondierend mit S. Marco, die Kirche S. Geminiano von Sansovino, der ursprünglich in dieser Kirche auch begraben war.

Das Amt der Prokuratoren, das wohl auf das 11. Jahrhundert zurückgeht, war das begehrteste nach dem des Dogen und diente häufiger als Sprungbrett zur Dogenwürde. Zum Aufgabenbereich der Prokuratoren gehörten zunächst Verwaltung und Pflege von San Marco und seines immensen Schatzes. Später weiteten sich die Amtsbefugnisse auf einen großen Teil der Innenverwaltung des Staates, seines Immobilienbesitzes und seines sozialen Wohnungsbaus aus.

Der Bau der Procurazie Vecchie wurde um 1500 vermutlich nach Plänen von Mauro Codussi begonnen und seit 1517 von Bartolomeo Bon geleitet. Sie weisen auf einer Länge von 142 Metern eine fast unendlich erscheinende Reihung von fünfzig Arkaden im Erdgeschoss bzw. jeweils einhundert Bogenfenstern in den beiden Obergeschossen auf, wirken aber trotz dieser Ausmaße feingliedrig. Dieser Eindruck wird durch die konsequente Anwendung des für Venedig charakteristischen Motivs der Bogenarkade und durch die zarte Ausformung der Architekturglieder (Säulen, Bögen) erreicht.

Die Procurazie Nuove gegenüber wurden 1583 von Vincenzo Scamozzi begonnen und 1616–40 von Baldassare Longhena, dem Erbauer der Kirche Santa Maria della Salute, vollendet. Auch hier wurde das Motiv der Arkadenreihe übernommen, wobei das dritte Stockwerk einen Wechsel von Rund- und Giebelfenstern zeigt. Die Procuratie Nuove stellen eine Fortsetzung der an der Piazzetta gelegenen Markusbibliothek Sansovinos dar, deren Architektur sie übernehmen. In dem Flügel der Neuen Prokuratien ist heute das Museo Civico Correr zur Stadtgeschichte untergebracht.

Mit den beiden procuratie stehen sich zwei unterschiedliche architektonische Auffassungen gegenüber, die zu Zeiten der Republik an der Westseite der Piazza fast direkt aufeinandertrafen und nur durch die schlichte Renaissancefassade der Kirche S. Geminiano voneinander getrennt waren. Die Alten Prokuratien vertraten eine demonstrativ alt-venezianische Richtung, die Neuen Prokuratien waren dagegen alla romana gestaltet.

Ihr heutiges Aussehen erhielt die Piazza erst nach dem Ende der Republik ab 1807, als Napoleon die ursprüngliche Bebauung an ihrer Westseite mit der Kirche S. Geminiano niederlegen ließ, um einen neuen westlichen Flügel, die Ala Napoleonica, wie sie heute zu sehen ist, aufführen zu lassen. Das Gebäude beinhaltet ein monumentales Treppenhaus und einen großen Saal im Obergeschoss sowie den Zugang zu den für Napoleon bestimmten Privatgemächern, die in der Procurazie Nuove eingerichtet wurden. Napoleon hat die Fertigstellung der Räume aber nicht mehr erlebt – der österreichische Statthalter benutzte sie bis 1866.

Die Fassade des Bauwerks übernimmt in zwei Stockwerken die Architekturgedanken von Sansovino und Scamozzi. Darüber lastet schwer eine mächtige Attika, der auch der Statuenschmuck nur wenig von ihrer erdrückenden Wucht zu nehmen vermag. Gerade dieses architektonische Merkmal bringt ein der venezianischen Kunstauffassung zuwiderlaufendes Moment in die Stadt, und es ist ohne weiteres möglich zu studieren, wie empfindlich die architektonische Sensibilität Venedigs durch ein solches Bauwerk gestört wird. Ursprünglich war sogar an einen am Pariser Louvre orientierten Palast mit hohem Sockel oder an einen Durchgang zur Stadt mit riesiger Tempelfassade gegenüber der Staatskirche der besiegten Serenissima gedacht. Bei Betrachtung der entsprechenden Entwürfe bleibt nur zu konstatieren, dass Venedig letztlich noch einigermaßen gut weggekommen ist.

Die vielen Läden unter den Arkaden bestanden immer schon, doch gab es früher weit mehr Cafés als heute (es waren einmal mehr als zwanzig). Das älteste Café, das unverändert bis in die Gegenwart existiert, ist das Café Florian, gegründet 1720 von einem gewissen Floriano Francesconi, der es zunächst „Venezia trionfante“ nannte, ein Name, der sich jedoch nicht lange hielt. Illustre Geister verkehrten hier, so Goethe, Marcel Proust, Thomas Mann, Ernest Hemingway. Auch Mark Twain verbrachte hier viele seiner glücklichsten Stunden. Ebenso berühmt sind das Gran Café Quadri gegenüber und das Café Lavena, in dem Richard Wagner Stammgast war.

Am östlichen Ende der Procuratie Vecchie, schräg gegenüber der Fassade von S. Marco, befindet sich der Torre dell’Orologio, der aus einem Turm sowie zwei Flügelbauten besteht und der 1496–1506 vermutlich nach einem Entwurf von Codussi errichtet wurde. In der Zeit des Baubeginns an diesem Uhrturm stand die Serenissima eigentlich vor dem Bankrott. Doch sollten die feindlichen Spione mit der Errichtung eines so aufwendigen Bauwerks über diese Tatsache hinweggetäuscht werden. Der Turm hat zwei Funktionen: Mit ihm beginnt, wie schon beschrieben, die nach Süden gerichtete Bahn zum molo hin, und außerdem mündet hier die belebteste Geschäftsstraße der Stadt, die Merceria auf die Piazza. Von großer Bedeutung ist das alte Uhrwerk, das der Turm birgt und das die Zeit auf zwei Uhrblättern anzeigt. Das zur Merceria hin gelegene Blatt ist einfacher und zeigt nur die Stunden an. Weitaus aufwendiger ist die Anlage, die auf die Piazza zeigt. Im Zentrum findet man die Erde, was dem geozentrischen Weltbild der Entstehungszeit entspricht. Sie wird umkreist vom Mond, der die jeweiligen Phasen anzeigt, sowie von der Sonne. Diese ist am Uhrzeiger angebracht, der auf die Stundenzahlen weist und außerdem mit dem Zodiacus korrespondiert. Die Anlage ist in ziemlich reduzierter Form auf uns gekommen. Ursprünglich umkreisten die Erde auch noch die fünf damals bekannten Planeten, wobei ihre jeweiligen Umlaufzeiten exakt den tatsächlichen astronomischen entsprachen. Zum alten Bestand gehörten auch die Heiligen Drei Könige, die ursprünglich jede Stunde um die Sitzfigur der Madonna kreisten und sich vor ihr verneigten. Sie wichen im 17. Jahrhundert der „digitalen“ Anzeige der Zeit, die heute zu Seiten der Madonna zu sehen ist. Die Statue der Madonna im dritten Stockwerk stammt vermutlich von Pietro Lombardo und seiner Werkstatt. Darüber steht vor blauem, bestirntem Hintergrund der Markuslöwe, vor dem bis 1797 in Analogie zur Porta della Carta die Statue des Dogen Agostino Barbarigo kniete, der den Uhrturm errichten ließ. Ein besonderer Akzent für das Gesamtbild der Piazza sind die beiden mori von 1497, zwei kolossale Bronzefiguren auf der Terrasse des Turms, die mit Hämmern auf einer Glocke die Stunden schlagen. Es handelt sich um zwei Männer verschiedenen Alters, die der Legende nach Kain und Abel sein sollen.

Die Mori verursachten eines Tages einen Unfall, von dem Thomas Coryate (1577–1617) berichtet: „Ganz oben stehen neben einer Uhr die sehr kunstvoll und naturgetreu ausgeführten Bronzefiguren von zwei Wilden. Bei dieser Uhr ereignete sich am 25. Juli, einem Montag, um etwa neun Uhr morgens, ein tragischer und beklagenswerter Unfall. Ein Mann, dem die Sorge für diese Uhr oblag, war mit der Glocke beschäftigt, um bei seiner täglichen Gewohnheit das, was fehlerhaft sein sollte, in Ordnung zu bringen. Da traf ihn plötzlich einer der beiden wilden Männer, die jede Viertelstunde ausholen, um die große Glocke anzuschlagen, mit seinem bronzenen Hammer so heftig auf den Kopf, dass er auf den Platz hinunterfiel und tot liegenblieb und keinen Laut mehr von sich gab.“ Ferner berichtet eine Legende, dass die beiden Männer, die die berühmte Uhr mit den komplizierten Tierkreiszeichen auf dem Markusplatz konstruiert hatten, später auf Anordnung des Staates hin geblendet wurden, damit sie nicht noch einmal eine solche Uhr für einen anderen Auftraggeber bauen konnten (nach Morris).

Ein paar Schritte vom Uhrturm nach rechts steht an der Piazzetta dei Leoncini die kleine, profanierte Kirche S. Basso. Das Bauwerk besitzt keine große Bedeutung, ist aber eine liebenswürdige „Nebenstimme“ im Architektur-Konzert der Stadt. Die kleine Piazzetta dei Leoncini hat ihren Namen von den beiden Löwen aus rotem Veroneser Marmor, die schon von unzähligen Kindern beritten wurden und deren Rücken dadurch blankpoliert sind. Auf dieser Piazzetta fand früher der mercato delle erbe (Kräutermarkt) statt. Ihre Stirnseite wird durch den klassizistischen Patriarchen-Palast begrenzt und abgeschlossen. Die Errichtung dieses Gebäudes wurde notwendig, als die Cappella Ducale, also S. Marco, Kathedrale und Bischofskirche wurde. Architekt war Lorenzo Santi, ein damals sehr bekannter und erfolgreicher Künstler. Zu beneiden war er um diesen Auftrag sicher nicht, da er sich auf einem extrem schwierigen Terrain bewegen musste angesichts der Tatsache, dass das Gebäude neben S. Marco und unmittelbar an der Piazza entstehen sollte. Wie schwierig das Projekt war, beweist die Tatsache, dass Santi etwa zwanzig verschiedene Entwürfe erarbeitet hatte, die alle unendliche Diskussionen und Polemiken auslösten. Noch im späteren 19. Jahrhundert meinte Tassini, der Palast, der zwischen 1837 und 1850 entstand, mache „wahrlich der Architektur unserer Tage wenig Ehre“ – ein Urteil, das heute als zu hart erscheint.

 

Die Piazzetta dei Leoncini war einmal Schauplatz eines Wunders. Ein Sklave sollte hier einst zur Bestrafung durch Feuer geblendet werden, doch ließ das der hl. Markus nicht zu. Er stürzte sich kopfüber in die versammelte Menge hinein und ließ den glühenden Brand gefrieren.

► Die Staatsbibliothek

Folgt man der oben genannten Bahn vom Uhrturm nach Süden in Richtung auf die beiden Säulen, so erhebt sich auf der rechten Seite der Piazzetta die Libreria Vecchia di San Marco oder Libreria Marciana, wie sie heute heißt. Jakob Burckhardt bezeichnete dieses Bauwerk, mit dessen Errichtung Sansovino 1537 begonnen hatte, als das „prächtigste profane Bauwerk Italiens“, und Kretschmayr spricht von dem „anmutigsten Heim, das je einer Bibliothek gebaut worden ist“. Mit ihr sollte für die kostbare Büchersammlung, die Kardinal Bessarion 1468 dem Staate geschenkt hatte, ein würdiger Rahmen geschaffen werden. Solche Schenkungen hatten in Venedig bereits Tradition, denn schon 1362 hatte Francesco Petrarca seine Bibliothek der Stadt vermacht: „Es wünscht Franziskus, den heiligen Evangelisten Markus, wenn es Christus so genehm ist, zum Erben zu haben für eine unbestimmte Anzahl von Büchern, die er jetzt besitzt oder die er vielleicht besitzen wird. Die Bücher sollen nicht verkauft und nicht zerstreut, sondern an einer dafür zu bestimmenden Stelle verwahrt werden, die vor Brand und Regen geschützt ist ...“. Petrarca wollte mit diesem Vermächtnis ein Vorbild geben und andere Bürger der Stadt anregen, diesem Beispiel zu folgen, wie es dann auch geschah. Auf diese Weise kam eine hochbedeutende Sammlung zusammen, die heute nur für Forschungszwecke zur Verfügung steht.

Als Kuriosum wird in der Marciana der sogenannte Fondo Tursi aufbewahrt. Ein gewisser Angiolo Tursi war nämlich auf den Gedanken verfallen, alle Bücher zu sammeln, in denen das Wort „Venedig“ auftauchte, und sei es auch nur einmal. Dabei war es ihm gleichgültig, ob sich das jeweilige Buch auch wirklich mit Venedig beschäftigte. Es ist anzunehmen, dass auf diese Weise eine gewaltige Sammlung entstand.

1545 stürzte das Gewölbe des zentralen Saales ein. Sansovino wurde für den entstandenen Schaden verantwortlich gemacht, letzteres nicht ohne Grund. Wurden doch „gemauerte Wölbungen … in der Stadt wegen der dünnen Mauern auf unsicherem Baugrund nur selten und niemals in den Obergeschossen realisiert“, schreibt Wolters, der Sansovino der Dickköpfigkeit zeiht und meint, er habe es den provinziellen Venezianern eben einmal zeigen wollen. Für seinen Fehler wanderte der zunächst ins Gefängnis und kam erst durch eine gemeinsame Intervention Tizians, Aretinos und des kaiserlichen Gesandten wieder frei. Die Vollendung des Bauwerks zog sich hin, 1554 war es bis zur 16. Arkade vollendet, während die letzten sieben Arkaden erst 1582–88 unter Scamozzi entstanden, der mit der Verlängerung des Gebäudes möglicherweise Sansovinos ursprüngliche Intentionen außer Acht ließ. Vermutlich sollten die Arkaden ursprünglich nur bis zu dem Punkt geführt werden, der in einer Flucht mit der Südfassade des Dogenpalastes liegt, also bis zum 17. Joch, mit dem Sansovino seine Arbeiten auch beendet hatte. Noch um 1560 stand zwischen Libreria und Zecca ein zierlicher Bau, die sogenannte Beccaria, wodurch ein Aufeinandertreffen dieser zwei recht heterogenen Fassaden vermieden wurde. Durch die Verlängerung der Libreria stehen die beiden Gebäude nunmehr unmittelbar nebeneinander, ein Zustand, durch den „das Auge beleidigt wird“, wie Huse schreibt und fortfährt: „Wie auch sonst an der Piazza, hätte Sansovino bestehende Zusammenhänge geklärt, verstärkt, auch neu gewichtet, aber immer mit einem ausgeprägten Sinn für die Potentiale des Ortes, an dem er baute. So hätten hier mit Münze und Bibliothek zwei der Bauten, die seit der Antike zu einem Forum gehörten, einen Raum gefasst, der den vor der Südseite des Palazzo weitergeführt hätte. Aus dem Ufer wäre wirklich ein Platz geworden, eine Bereicherung nicht nur für das Gefüge der Plätze um S. Marco, sondern auch eine Klärung der Bezüge zum Canal Grande und zum Bacino di San Marco.“

Grundidee der Architektur der Libreria ist wiederum die Venedig seit Jahrhunderten prägende Arkadenwand mit offener, tonnengewölbter Arkadenhalle, wobei Sansovino, der in Rom geschult war, dortige Vorbilder wie Colosseum und Marcellustheater aufgriff und umsetzte. Bei der Pfeilerarkatur im Erdgeschoss sind den Pfeilern dorische Halbsäulen vorgeblendet, während im Obergeschoss Säulen ionischer Ordnung stehen. Diesen großen Ordnungen sind in beiden Geschossen Bogenstellungen bzw. Bogenfenster einbeschrieben, die im Erdgeschoss von Pfeilern, im Obergeschoss von ionischen Säulen getragen werden. Die so entstehenden Zwickel sind mit Liegefiguren gefüllt, deren Details mit bewundernswerter Fantasie und Leichtigkeit gestaltet wurden. Über den Geschossen verläuft ein kräftiges Gebälk mit kleinen Mezzaninfenstern und opulenten Fruchtgirlanden, die zauberhafte Putti hochstemmen. Nach oben hin wird die Fassade durch eine Balustrade abgeschlossen, auf der Statuen stehen. Sie wiederholt die optische Trennung der beiden Geschosse. Alles ist „mit der gediegensten plastischen Pracht durch und durch belebt“ (J. Burckhardt), und das Bauwerk kann als „eine der vollkommensten Schöpfungen der italienischen Renaissance“ (Th. Droste) angesprochen werden.

Der südliche Teil des Gebäudes ist heute noch eine wissenschaftliche Bibliothek, die nur Fachbesuchern offen steht; der repräsentative große Bibliothekssaal im nördlichen Teil beherbergt Prachtbände und historische Weltkugeln der Seefahrernation Venedig. Er ist vom Museo Civico Correr in den Neuen Procuratien aus zugänglich.

Am Molo schließt sich die Zecca an, die staatliche Münzprägestätte (Zecca kommt vom Arabischen sicca – Münze), deren Architektur für die venezianische Formensprache ungewöhnlich verschlossen ist und die 1537–45 ebenfalls unter Sansovino entstand, und zwar als dessen erstes Werk im Umfeld der Piazza. Der verschlossene Eindruck, den das Gebäude macht, lässt sich ohne weiteres verstehen, wenn man das erhöhte Sicherheitsrisiko einer Münzanstalt berücksichtigt. Die Fassade war zunächst zweistöckig und erhielt das dritte Geschoss erst dreißig Jahre später. Im Untergeschoss steht eine verblendete Bogenreihe, die früher offen war, während die Fenster der Obergeschosse hochrechteckig sind. Der „wehrhafte“ Charakter wird durch die Rustika im Erdgeschoss und durch die von Rustikabändern umgebenen Halbsäulen in den Obergeschossen betont. Das Ganze wird von einem Zeltdach überfangen und durch eine zierliche Laterne bekrönt. Das Gebäude ist heute Teil der Bibliotheca Marciana.

Der Bereich links neben der Zecca hat sein Aussehen im Laufe der Jahrhunderte mehrfach verändert. Vor langer Zeit gab es hier an der riva vor den Gärten Käfige, in denen wilde Tiere gehalten wurden, daneben auch Schiffswerften, bis diese im Jahre 1340 ins Arsenal verlegt wurden, sowie Gefängnisse, u. a. für die Gefangenen, die im Chioggia-Krieg gegen Genua gemacht wurden. Später wurden an der Stelle mächtige Getreidespeicher mit einfachen Fassaden errichtet, die Napoleon niederlegen ließ, um Platz für einen Park, die heutigen Giardini Reali, zu bekommen und um von seinen Gemächern aus einen freien Blick auf die Lagune zu haben. Die Gärten sind heute vernachlässigt und wenig einladend. Außerdem stört die recht unansehnliche Rückseite der Procuartie Nuove, die nicht als Schauseite gedacht war, das Ensemble empfindlich.