Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden

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Neben dem Großen Rat gab es den Kleinen Rat, der am Anfang aus sechs consiglieri, Räten aus den sechs Stadtbezirken Venedigs, bestand. Diese Männer umgaben – und überwachten – den Dogen bei allen seinen Amtshandlungen. Dieser ursprünglich Kleine Rat wurde im 13. Jahrhundert um die drei Vorstände der quarantia erweitert. Im 14. Jahrhundert kam noch die sechzehnköpfige Kommission der savi, der „Weisen“ hinzu, wodurch die Signoria, die „Herrschaft“, entstand. Der signoria kam eine besondere politische Bedeutung zu und sie besaß bis zur Gründung des Senats die Funktion der obersten Staatsführung. „Die Hauptaufgabe der Signoria bestand darin, die Aufgaben eines Staatsoberhauptes mit dem Dogen zu teilen. Die Dogenberater und die Capi der Quarantia waren somit nicht nur Berater des Dogen, vielmehr konnte der Doge seine Aufgaben nur in Zusammenarbeit mit der Signoria erfüllen. Der Doge war Primus in der Signoria, gleichzeitig aber das Objekt der Kontrolle durch diese.“ (Heller)

Der Senat entstand im 13. Jahrhundert auf Grund der Schwerfälligkeit des Großen Rates und setzte sich zunächst aus 60 Mitgliedern zusammen, die natürlich alle Adelige waren. Er wurde bis zum 16. Jahrhundert schrittweise auf 300 Mitglieder erweitert. Zu seinen Mitgliedern gehörten auch die der Signoria, also auch der Doge. Der Senat war bis zum 16. Jahrhundert wichtigstes politisches Organ des Staates, in dem nahezu alle Fragen der äußeren und inneren Politik diskutiert und entschieden wurden. Er besaß umfassende Kompetenzen. Als sich schließlich erwies, dass auch der Senat zu groß und damit zu unflexibel geworden war, sah sich dieser gezwungen, einzelne Aufgabe zu delegieren. Das geschah durch Gründung von Kommissionen, die meist nur aus drei oder fünf Mitgliedern bestanden. Diese Kommissionen wurden meist als collegio bezeichnet, ihre Mitglieder hießen provveditori oder auch savi, Bezeichnungen, denen jeweils eine Kurzbezeichnung der Aufgaben folgte (z. B. provveditori alle acque, sopra gli ospedali, sopra banchi).

Der Rat der Vierzig, die quarantia, war ursprünglich eine Kommission des Großen Rates, besaß im 13. Jahrhundert umfangreiche Kompetenzen und entwickelte sich im 14. Jahrhundert zum obersten Gerichtshof Venedigs und Berufungsgericht. Im 15. Jahrhundert wurde sie in vier mit verschiedenen Zuständigkeiten verbundene Abteilungen aufgegliedert, von denen die quarantia criminale die wichtigste war. Seit dieser Zeit büßte dieses Gremium langsam an Bedeutung ein. So verfügte der Kleine Rat seit dieser Zeit über das Recht, bestimmte Verfahren an sich zu ziehen. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang auch die signori di notte, die „Herren der Nacht“. Es handelte sich dabei um einen Strafgerichtshof, der für Sicherheit und Sittlichkeit zuständig war und Gassen und Kanäle der Stadt nachts überwachte.

Der Rat der Zehn, der consiglio dei dieci, wurde 1310 nach dem Umsturzversuch Bajamonte Tiepolos zunächst als eine vorübergehende Einrichtung gegründet. Er entwickelte sich jedoch rasch zu einer hochbedeutenden Regierungsbehörde, der fünften neben Großem und Kleinem Rat, Senat und dem Rat der Vierzig. Im Jahre 1335 wurde er zur ständigen Einrichtung erklärt. Er wurde zum wichtigsten Kontroll­organ, wobei letztlich alle anderen Staatsorgane seiner Kontrolle unterlagen. Man könnte auch vom obersten Verfassungsschutz sprechen, dessen Kompetenzen faktisch uneingeschränkt waren. Es handelt sich um das Gremium der Republik, um das sich die meisten, überwiegend gruseligen Geschichten ranken.

„Die undurchsichtige Tätigkeit des Rats der Zehn, die nächtlichen Verhöre und mitunter auch Folterungen, die er im Dogenpalast durchführen ließ, das von ihm entwickelte Informations- und Erkundungssystem sowie die von ihm verwendeten – nur zum Teil finsteren – Kerker im Dogenpalast haben dieses Verfassungstribunal natürlich bald zum Gegenstand phantasievoller und abenteuerlicher Spekulationen im Volk, im Ausland und später besonders in der Literatur gemacht. Um so mehr, als im 16. Jahrhundert dann aus den Dieci die venezianische Staatsinquisition hervorging, der man besonders schreckliche Dinge nachsagte. Indessen ist völlig einwandfrei bewiesen, dass der Rat der Zehn trotz aller hinterhältigen Maßnahmen aus den Grauzonen besonders der Sicherheits- und Außenpolitik, wie sie allgemein zum zeitgenössischen Repertoire gehörten, seine Prozesse und Verfolgungen vergleichsweise korrekt und ohne auffallende Willkür betrieben hat.“ (Lebe)

Aus dem Rat der Zehn gingen 1539 die Staatsinquisitoren hervor. Deren Geschichte reicht bis in das Jahr 1310 zurück, in dem der Rat der Zehn gegründet wurde. Schon damals wählte man aus dem Kollegium zwei Inquisitoren mit einer Amtszeit von nur einem Monat, mit der Funktion von Untersuchungsrichtern, die jedoch zunächst keine besondere Machtstellung hatten. Das änderte sich erst, als historische Ereignisse die Existenz des Staates zu bedrohen schienen, wie es um die Mitte des 16. Jahrhunderts aufgrund der Expansionspolitik der Türken unter Suleiman II. dem Prächtigen geschah. Im Rahmen der kriegerischen Auseinandersetzungen kam es im September 1538 zu einer Seeschlacht zwischen den Türken und einer überlegenen christlichen Flotte bei der Insel Lefkas, die die Christen überraschenderweise verloren. Es entstand der dringende Verdacht, die Niederlage sei durch Verrat bedingt gewesen. Diesen Verdacht aufzuklären erwies sich jedoch als schwierig bzw. unmöglich, weil zu viele Personen über die Vorgänge im Rat der Zehn Bescheid wussten. „Um die Bedrohnung Venedigs durch den Verrat von Staatsgeheimnissen in Zukunft zu verhindern, war es also notwendig, dass man die besonders geheimen Angelegenheiten nur mehr einem kleinen Gremium von bloß drei Personen anvertrauen sollte.“ (Heller) Die Befugnisse dieser Staatspolizei, welche die Venezianer i tre babài nannten, zu durchschauen, ist aus heutiger Sicht ausgesprochen schwierig. Auch ihr Aufgabenbereich lässt sich nur ungefähr beschreiben. Die Inquisitoren verfolgten alle gegen den Staat begangene Verbrechen wie Hochverrat, Spionage, Beleidigung der Regierung sowie verdächtigen Kontakt zu Ausländern. Sie besaßen das Recht, Spitzel einzusetzen und zu bezahlen. Auch konnten sie Verräter von Staatsgeheimnissen verurteilen, seit 1605 auch zum Tode. Nach und nach zogen sie wesentliche Teile der Macht der Zehn an sich und waren letztlich die Institution, deren Wirken heute noch in Form vieler – erfundener oder wahrer – Gruselgeschichten in den Vorstellungen der Menschen spukt. Zur Zeit der Staatsinquisition gab es in Venedig durchaus Tendenzen, die in Richtung eines Polizeistaates gingen. So „konnten die Inquisitoren jene verurteilen, die die Republik verächtlich machten, eine Maßnahme, die für moderne Diktaturen geradezu charakteristisch werden sollte.“ (Heller) Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung konnten die Inquisitoren ihre Machtbefugnisse immer weiter ausdehnen. Seit 1612 waren sie den Capi des Rates der Zehn gleichgestellt, seit 1673 beachteten sie das Einspruchsrecht der avogadori nicht mehr, gingen auch dazu über, ihnen missliebige Personen ohne Gerichtsverfahren heimlich umbringen zu lassen. In der Spätzeit der Republik kontrollierten die Staatsinquisitoren nicht mehr nur die Staatsgerichtsbarkeit, sondern auch noch den Verkehr mit Botschaftern, das Glücksspiel, die Glasproduktion (zum Schutz vor Industriespionage), den Tabak- und Salzhandel sowie die Rekrutierung von Soldaten. Es gab allerdings auch wirksame Sperren gegen Machtmissbrauch, zum einen in Form der kurzen Amtsdauer, zum anderen weil sie nur geschlossen vorgehen konnten – jeder der Inquisitoren hatte gewissermaßen ein Vetorecht. Auch gab es später immer stärkere Bemühungen, die Machtausweitung der Inquisitoren zu steuern. Ein Licht auf deren unheimliche Machtfülle wirft die Tatsache, dass der vorletzte Doge, Paolo Renier, einmal gegen die Macht der Inquisitoren wetterte, sich aber dadurch sehr unbeliebt machte und schließlich gefragt wurde, ob er sich denn seines Lebens noch sicher wähnte, wenn er die Inquisitoren angreife. Das Gefängnis der Staatsinquisition waren im Übrigen die piombi, die Bleikammern unter dem Dach des Dogenpalastes, die u. a. auch Casanova kennenlernte.


Piazza San Marco

Markusplatz – Markuskirche – Dogenpalast – Glockenturm – Bauten an der Piazza und der Piazzetta

Wenn die Führung durch Venedig mit diesem Stadtbezirk, genauer gesagt im Umfeld von Piazza, Markusdom und Dogenpalast begonnen wird, so entspricht das einer inneren Logik, stellten doch die Piazza und ihre Umgebung sowohl das politische als auch geistige Zentrum der Republik Venedig dar. Dagegen lag das geistliche Zentrum weit draußen im äußersten Osten der Stadt, nämlich in dem Komplex von Kirche und Kloster San Pietro di Castello, während die Markuskirche nicht Dom, nicht Sitz des Patriarchen, sondern vielmehr Privatkapelle der Dogen und somit Staatsheiligtum war.

Der Sestiere di San Marco (das Stadtviertel San Marco) erschließt sich vordergründig ohne weiteres in seinen Kirchen und Museen und in seinen vielen, teils sehr exklusiven Geschäften sowie seinen teuren Hotels und Restaurants. Es macht Spaß, hier spazieren zu gehen, zu schauen und einzukaufen. In der Umgebung des Markusplatzes ist Venedig am ehesten das geblieben, was es über Jahrhunderte war, nämlich ein Zentrum von Luxus und feinster Qualität. Doch stellt sich bei näherer Betrachtung leicht das Gefühl ein, an einer Fassade entlang zu gehen, einer Fassade, die nur scheinbar einladend und offen ist. Zwar öffnen sich dem Besucher die Gebäude des Platzes mit ihren endlosen Arkadenstellungen weit und lockend, doch ist diese Offenheit nur Schein. In Wirklichkeit ist alles in sich selbst geschlossen. Man steht vor einer gewaltigen Selbstdarstellung der Republik, die über Jahrhunderte die führende Weltmacht war. Die Wenigen, die das Recht hatten, zu regieren und mitzubestimmen, haben sich und ihrem Staat hier den ihnen gemäßen Rahmen gegeben. Dieser Sachverhalt wird angesichts des touristischen Treibens auf dem zentralen Platz der Stadt mit dem früher obligatorischen Füttern der Tauben heute nicht mehr ohne weiteres deutlich. Der Markusplatz ist nicht mehr ein Forum für eine Elite, sondern ein Tummelplatz für Massen von Besuchern, deren Verhalten oft genug den gebotenen Respekt vermissen lässt. Doch derjenige, der sich auch nur ganz wenig weiter abseits wagt, findet unvermutet völlige Ruhe und Stille, eine Stille, wie sie als Stadt nur Venedig schenken kann.

 

Der Markusplatz

„Venedig bietet am Markusplatz ein meisterliches Vorbild harmonischer Ausgewogenheit. Unbestreitbar hat hier die Poesie ihre bezauberndste Manifestation erfahren. Heiterer Ernst, fruchtbarer Wechsel, Reiz des Unerwarteten, Anmut und Majestät vereinigen sich auf der Lagune zu einer einzigartigen Symphonie. Die aufeinanderfolgenden Jahrhunderte haben die gegensätzlichsten Auffassungen mit sich gebracht, die Bildung von Oppositionen und regelrechte Umstürze.“

Mit diesen Worten besingt der Architekturtheoretiker und Stadtplaner Le Corbusier die Platzanlage, die den Markusdom umgibt. Sie besteht aus der eigentlichen Piazza, die sich vor der Hauptfassade der Kirche nach Westen hin erstreckt, und der Piazzetta, die von S. Marco nach Süden zwischen Palazzo Ducale und Libreria zum Wasser hin verläuft. Von geringerer Bedeutung ist die nördlich von S. Marco gelegene Piazzetta dei Leoncini, so genannt nach den beiden von Kindern viel berittenen Löwen aus rotem Veroneser Marmor, deren Rücken mittlerweile völlig blank poliert sind.

Die Venezianer selbst suchen bis heute die Piazza eher selten auf. Früher gehörte sie im Wesentlichen den ricchi, den Reichen also, und den nobili (was nicht gleichbedeutend war). Die anderen Bewohner der Stadt lebten und arbeiteten jeweils in eng umgrenzten Gebieten und verließen diese praktisch nie. Napoleon hat von der Piazza gesagt, sie sei „der schönste Salon Europas, dem als Decke zu dienen nur der Himmel würdig ist.“ Das scheint ein Wort des höchsten Lobes zu sein, doch offensichtlich war er der Meinung, diesen Platz dennoch verändern zu müssen mit dem Abriss einer kleinen Kirche und dem Bau der jetzigen Ala Napoleonica (siehe am Ende des Kapitels). – Napoleon war alles andere als ein Freund Venedigs, weder der Republik, die zu zerstören er sich zum Ziel gesetzt hatte („io sarò un Attila per lo Stato veneto“), noch der Stadt mit ihrer Architektur und ihren politischen, sozialen und kulturellen Strukturen. Für ihn war Venedig nicht mehr als eine politische Manövriermasse, mit der er nach Gutdünken schalten und schachern konnte. Er veranlasste mit grober Hand bauliche Maßnahmen und Veränderungen, er brauchte Wohnräume und einen eigenen Ballsaal, auch wenn er nur selten in der Stadt war. Wenn er die Piazza als „Salon“ bezeichnete, so beweist das recht deutlich, wie wenig er sich der herausragenden geschichtlichen und künstlerischen Bedeutung dieses singulären Ensembles bewusst war. – Nietzsches Verse in einem seiner Gedichte klingen da weit sensibler:

Mein Glück

Du stilles Himmels-Dach, blau-licht, von Seide,

Wie schwebst du schirmend ob des bunten Bau’s,

Den ich – was sag ich? – liebe, fürchte, neide …

Die Seele wahrlich tränk’ ich gern ihm aus!

Gäb’ ich sie je zurück? –

Nein, still davon, du Augen-Wunderweide!

– mein Glück! Mein Glück!

Schon allein durch seine Weite und die Öffnung hinaus auf die Lagune ist der Markusplatz ein einmaliges Gebilde in dieser Stadt, die, abgesehen von wenigen großen campi, von Enge und Verwinkelung geprägt ist, zum entspannten Verweilen nur gelegentlich einlädt und den Blick nur selten freigibt. Wenn heute auf der Piazza meist größere Menschenmengen anzutreffen sind, so sollte sich der, der diese Tatsache als störend empfindet, klar machen, dass das immer so war. Die Gemäldegalerien der Stadt bergen zahlreiche Bilder, die dies bestätigen. Die Piazza war immer schon der Ort, wo man sich traf – das heißt der Adel, die Repräsentanten des Staates und der Regierung, die gehobene Schicht, wo man Feste feierte und Staatsakte beging, wo man sich, besonders in der Spätzeit der Republik, in den damals vierundzwanzig Cafés und im nahegelegenen Spielcasino, dem Ridotto, amüsierte, besonders natürlich im schier endlosen Karneval.

Mit den Tauben von San Marco verbinden sich im Übrigen einige Legenden. Eine von ihnen berichtet, dass den Flüchtlingen, die nach der Zerstörung der antiken Stadt Altino durch Attila in die Lagune geflohen waren, auch Schwärme von Tauben gefolgt und dass die Vögel, die heute die Piazza bevölkern, deren Nachkommen seien. – Dieser Bericht existiert auch in leicht modifizierter Form. Die Bewohner von Altino, bedroht von den Langobarden, flehten Gott um seinen Rat und Beistand an und sahen mit einem Male, wie die bei ihnen nistenden Tauben ihre Jungen mit dem Schnabel packten und mit ihnen weg von der Stadt auf die Lagune zu flogen. Die Einwohner der alten römischen Stadt sahen darin eine Warnung und folgten den Vögeln. – Eine weitere Legende weiß zu erzählen, dass einer erkrankten dogaressa ein Taubenpaar aus dem Orient mitgebracht wurde und dass sich diese Tiere dann enorm vermehrt hätten. –Schließlich gibt es noch eine Legende, der zufolge die Tauben seit 877 in der Stadt ansässig seien: „Es war ehemals der Brauch, dass die Küster von Sankt Markus am Palmsonntag nach den Gottesdiensten Tauben laufen ließen, die sie mit Papierstreifen gefesselt und auf diese Weise unfähig gemacht hatten, zu fliegen. Die Menschen auf der Piazza sollten versuchen, diese Tauben zu fangen. Die erbeuteten Tiere wurden dann gefüttert und zu Ostern verspeist. Aber einige Tauben sind immer wieder entkommen. Die flüchteten sich auf das Kirchendach, wo sie gewissermaßen als unverletzlich galten und nach und nach auf eine gewaltige Zahl anwuchsen.“ (Howells). – Alfred Polgar (1873–1955) berichtet: „An dem sonnigen Septembervormittag, an dem ich die Freude hatte, die Tauben von San Marco zu beobachten, waren dort ihrer dreißigtausendsechshundertvierzig versammelt, ein paar Sonderlinge, die auf der Piazzetta spazieren gingen, nicht mitgerechnet. Plötzlich flogen alle mitsammen auf und flatterten in großen, schiefen Ellipsen stürmisch rauschend über den Platz. Und als sie zu Boden gingen, ein gewaltiger, weicher Wirbel von Blau und Weiß und Grau, war es, als ob sie aus der Luft geschüttet würden, so dicht fielen und lagen sie zuhauf übereinander“. – Seit etwa 2010 ist das Füttern der Tauben verboten, und erstaunlicherweise wird das Verbot weitestgehend eingehalten.

Es ist nicht möglich, die Platzanlage von einem einzigen Punkt aus vollständig zu überblicken. Um sie sich zu erschließen, ist es erforderlich, sich auf ihr in verschiedene Richtungen zu bewegen, kreuz und quer zu schlendern, so dass sich immer wieder neue Perspektiven entfalten. Und wenn der Blick an den rundum verlaufenden Arkadenstellungen entlangschweift, so kann sich das Gefühl einstellen, als glitten Hände über die Saiten einer Harfe.

In der Frühzeit der Republik war die Piazza deutlich kleiner als heute. Der Platz wurde in der Mitte von einem kleinen Fluss durchquert (dieser existiert unterirdisch noch immer, man begegnet seiner Mündung in die Lagune, wenn man an der Zecca vorbei ein paar Schritte nach Westen geht), er war grasbewachsen und Bäume standen auf ihm, weswegen er auch damals den Namen brolo (Garten) trug. Auf die heutigen Ausmaße wurde er unter dem Dogen Sebastiano Ziani (1172–78) erweitert. Einen ersten festen Belag mit Ziegelsteinen erhielt der Platz 1267. Im Jahr 1392 wurde dieser erneuert, indem man Ziegelrechtecke verlegte, die von Marmorstreifen gefasst waren, eine Art des Pflasterns, die auch heute noch an einigen wenigen Stellen in Venedig zu sehen ist (z. B. vor Madonna dell’Orto). In den Jahren 1495, 1566, 1626, 1723 und zuletzt 1893 erhielt die Piazza jeweils neue Beläge, die beiden letzten dann aus Trachyt, der aus den Euganeischen Hügeln stammt. Ganz sicher wurde durch den Wechsel des Materials der Gesamteindruck, den die Piazza mit dem alten farbintensiven Belag gemacht hatte, entscheidend und nicht zum Vorteil verändert: „Statt des feinkörnigen modularen Netzes dominiert ein sich selbst genügendes großspuriges Ornament. Das Säulenpaar der Piazzetta und die Fahnenmasten vor der Kirche verlieren ihren optischen Halt, die elegante Parataxe der Arkaden der Alten Prokuratien bekommt etwas Trippelndes. Alle vor 1723 an der Piazza errichteten Bauten standen ursprünglich auf einem farbigen Boden. Für die, die einmal weiß waren, wie die pietra d’Istria-Fronten der Prokuratien, des Uhrturms oder der Libreria, wie auch für diejenigen Bauten, die mit so viel farbigem Stein und Marmor aufwarten wie der Dogenpalast und die Loggetta, hat sich die ursprüngliche Wirkung durch das neue Pflaster grundlegend verändert, und selbst der von Anfang an ungeschmückte Backsteinpfeiler des Campanile ist ein anderer geworden.“ (Huse)

Der Grundriss der Platzanlage folgt der bei venezianischen campi häufiger anzutreffenden L-Form. Der lange Schenkel dieses „L“ ist die trapezförmige Piazza direkt vor der Hauptfassade der Markuskirche, die von den schier endlosen Arkadengängen der alten (rechts) und der neuen Prokuratien (links) gefasst wird. Diese lange, nach Westen gerichtete Bahn wird durch die Ala Napoleonica mit ihrer derben, lastenden Attika abgeschlossen. Der kurze Schenkel des „L“, die Piazzetta als zweite Bahn, beginnt an dem bunten Uhrturm und zieht an der Fassade von S. Marco vorbei bis zum sogenannten Bacino, der weiten Wasserfläche zwischen Dogenpalast und der Kirche S. Giorgio Maggiore, deren Fassade trotz der Entfernung einen optischen Abschluss bewirkt. Die Piazzetta wird auf ihrer linken Seite von der Westfront des Dogenpalastes und rechts von der Libreria Sansovinos mit ihrer üppig verzierten Fassade begleitet. Im Kreuzungspunkt der beiden Platzachsen erhebt sich der mächtige, 95 Meter hohe Campanile, der gleichsam eine riesige Angel bildet, um die sich die Platzanlage dreht. Die Piazzetta war bis ins 12. Jahrhundert ein Hafenbecken, die Fläche der Piazza gehörte dem Kloster San Zaccaria, das hier Gemüse anbaute. Eine weitere sehr wichtige Bahn der Platzanlage wird nicht ohne weiteres deutlich und ist auch weniger architektonischer, als spiritueller Art. Sie geht aus von dem zierlichen Bau zu Füßen des Glockenturms, der Loggetta, reicht hinüber zum früheren Haupteingang des Dogenpalastes, der Porta della Carta, der Verbindungsstelle zwischen Kirche und Palast, und führt weiter durch den sogenannten Porticato Foscari und Arco Foscari zur Gigantentreppe im Hof des Palastes.

Ausstattung der Platzanlage: Von herausragender Bedeutung sind zunächst die beiden riesigen Granitsäulen, die ganz vorne auf der Piazzetta stehen. Sie sind Monolithe aus dem Orient und wurden 1172 aufgerichtet, angeblich vom legendären Baumeister der ersten Brücke am Rialto, einem Niccolò Barattini. Ursprünglich sollen es drei Säulen gewesen sein, doch sei gemäß der Legende eine davon beim Anlanden ins Wasser gestürzt und habe nicht mehr geborgen werden können. In den Jahren 1557 und 1809 wurde vergeblich im Lagunenboden vor der Uferbefestigung nach ihr gesucht. Diese Säulen sind Herrschafts- und Gerichtssymbole und haben ihre Vorbilder in der Antike und in Byzanz. Zwischen ihnen wurden die Hinrichtungen vollzogen. Über dieser Stelle soll übrigens ein Fluch hängen, und bei den abergläubischen Venezianern lebt die Meinung, es bringe Unglück, zwischen den Säulen hindurchzugehen. Die Legende berichtet, Marino Falier sei nach seiner Wahl zum Dogen bei der Ankunft in Venedig im dichten Nebel versehentlich zwischen den Säulen hindurchgeschritten, und tatsächlich wurde er 1355 hingerichtet. Die Säulen stehen auf Basen, deren Ecken stark verwitterte symbolische Darstellungen der Handwerke tragen, besitzen Kapitelle aus veneto-byzantinischer Zeit und tragen jeweils eine Figur.

Auf der linken Säule (Blickrichtung zur Lagune) steht ein geflügelter Löwe, also das in der Stadt allgegenwärtige Symbol der „Löwenrepublik“, wie Venedig auch bezeichnet wurde.

Wie alle Evangelisten, so besitzt auch der hl. Markus ein ikonografisches Attribut, nämlich einen Löwen. Warum der Markuslöwe geflügelt ist, begründet eine Legende, die aus Capodistria stammt. Ihr gemäß hat sich Markus, nachdem er die Niederschrift seines Evangeliums beendet hatte, dem Studium der Meteorologie gewidmet. Anscheinend war er aber mit seinen dabei erzielten Erkenntnissen nicht zufrieden, da er sich eines Tages an Gottvater mit der Bitte wandte, ihm doch noch vor seinem Tod Zutritt zum Himmel zu gewähren, damit er dort das Wesen von Blitz und Donner ergründen könne. Gottvater stimmte dem zu, und um Markus die Himmelfahrt zu erleichtern, stattete er ihn mit zwei Flügeln aus. Gleichzeitig verwandelte er ihn jedoch auch in einen Löwen, um zu verhindern, dass Markus den Menschen die Kenntnis über gutes und schlechtes Wetter übermittelte. Als geflügelter Löwe konnte Markus nicht sprechen, sondern nur brüllen. Er erkundete alle Geheimnisse des Himmels und kehrte dann auf die Erde zurück, um lange nach seinem Tod, nämlich 828 nach Venedig zu gelangen. Dort blieb er als Schutzpatron der Stadt bis 1797, dem Jahr des Untergangs der Republik. Erst danach kam er endgültig in den Himmel.

 

Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass das Gebilde auf der linken Säule in Wirklichkeit gar kein Löwe ist. Vielmehr wurden einer Chimäre, deren Herkunft nicht ganz klar ist – diskutiert werden Assyrien, Etrurien, Persien und sogar China –,

erst später Flügel und Buch hinzugefügt (das geschlossen und deshalb Symbol für den Krieg ist). Der Löwe, der in alten Zeiten vergoldet war, schaut nach Osten, also in Richtung auf das Meer und symbolisiert somit die Herrschaft Venedigs zu Wasser.

Auf der rechten Säule steht Todaro, wie die Venezianer den hl. Theodor von Euchaita nennen (es handelt sich dabei um eine Kopie, während das Original im Hof des Dogenpalastes aufbewahrt wird). Um das Jahr 300 n. Chr. erlitt er das Martyrium und wurde zum griechischen Soldatenheiligen. Im byzantinischen Heer besonders verehrt, galt er dagegen in Venedig nur als ein „mittelrangiger Heiliger“ (Lebe). Bis 828 war er der Staatspatron, dem Jahr, in dem die translatio, die Überbringung des Leichnams des hl. Markus nach Venedig stattfand. San Marco war als Evangelist natürlich bei weitem „ranghöher“, so dass der hl. Theodor nach dessen Ankunft bedeutungslos wurde. Seine Kirche lag dort, wo sich heute S. Marco erhebt, verschwand nach und nach und wurde schließlich von der Markuskirche förmlich aufgezehrt. Die Statue ist ein pasticcio, eine Mischung aus einem hellenistischen Kopf (vielleicht ein Portrait von Mithridates, dem König von Pontus) und einer römischen Gewandstatue. Das Krokodil, auf dem Todaro steht, eine Zutat aus dem frühen Quattrocento, gehört zwar zur Ikonografie des Heiligen, was auch auf Darstellungen an der nach ihm benannten Scuola Grande neben der Kirche S. Salvatore (in der Nähe der Rialtobrücke) erkennbar wird. Seine Bedeutung aber ist undeutlich geworden. (Tötschinger stellt dazu fest, der Drache sei das Symbol für den Teufel, und der Fuß des Heiligen auf ihm bedeute den Sieg über die Finsternis). Todaro hält den Schild in der rechten, also eigentlich in der „falschen“ Hand, mit der normalerweise das Schwert geführt wird, was dahingehend interpretiert wird, dass Venedig nie von sich aus angegriffen, sondern sich immer nur verteidigt, also nur dann Krieg geführt habe, wenn es dazu gezwungen war.

Im Übrigen ist „fra Marco e Todaro“ ein venezianisches Sprichwort, das den Zustand der Ratlosigkeit ausdrückt. Eine weitere, ausgesprochen drohende Redewendung ist in Venedig gebräuchlich, wenn man jemanden einschüchtern möchte und deshalb zu ihm sagt: „Ich zeige dir die Uhr“. Gemeint ist damit die Uhr am Uhrturm, ein Anblick, der für viele Menschen das Letzte war, was sie in ihrem Leben zu sehen bekamen, vor ihrer Hinrichtung nämlich.

Die Säulen waren früher mit Buden umstellt. Das vor ihnen liegende Ufer wird molo genannt, ein Wort, das so viel wie „Schutz vor der Gewalt des Wassers“ bedeutet. Hier lag das offizielle Entrée für die Besucher der Stadt, außerdem der Ankerplatz der Handelsschiffe. Heute sind am molo zahlreiche Gondeln festgemacht.

Blickt man vom Ufer zurück auf die kurze südliche Fassade von S. Marco, findet man an einem kubischen, fensterlosen Bau mit feinster vielfarbiger Marmorverkleidung, dem Tesoro, der Schatzkammer von S. Marco, in der Ecke eine Figurengruppe eingelassen. Sie ist aus rotem Porphyr gefertigt, dem Stein, der in der Antike dem kaiserlichen Hause und den Göttern vorbehalten war. Die vier Männer, die sich paarweise einander zuwenden und sich umarmen, werden als Tetrarchen, also als Kaiser Diokletian und seine drei Mitkaiser Maximian, Valerius und Constantinus Clorus gedeutet und somit dem 4. Jahrhundert zugewiesen. Die Gruppe (eine Kopie, das Original befindet sich im Museum von S. Marco) wurde in Ägypten bzw. in dortigen Porphyrsteinbrüchen der Römer gearbeitet. Sie stammt aus dem Philadelphion von Konstantinopel, wo sie sich bis 1204 befand. Bei genauer Betrachtung ist festzustellen, dass einem der vier Männer ein Fuß fehlt. Vor längerer Zeit hat man bei Grabungen in Istanbul genau diesen Fuß gefunden, ein Beweis für die Herkunft der Gruppe aus dieser Stadt.

Die Tetrarchen werden von den Venezianern als Mohren oder auch als i Mori ladroni bezeichnet. Die Legende erzählt dazu, dass einst Diebe den Schatz von S. Marco rauben wollten und dafür in Stein verwandelt wurden.

Vor der Südfront von S. Marco sind zwei reliefverzierte Marmorpfeiler zu sehen, deren Herkunft und Datierung unsicher sind. Gemäß alter Überlieferung sollen sie zwischen dem 6. und 12. Jahrhundert entstanden und Siegestrophäen der Venezianer nach einem Sieg im syrischen Akkon im Jahre 1258 sein. Tatsächlich aber stammen sie aus der Polyeuktoskirche in Konstantinopel und wurden dort 524–527 gefertigt.

Gleich daneben, an der Südwestecke von S. Marco, steht der Stumpf einer Porphyr­säule, die Pietra del Bando, deren Herkunft nicht genau benennbar ist. Sie wurde zu Zeiten der Republik als Plattform genutzt, von der aus Gesetze und Erlasse verkündet wurden. Daneben diente sie dazu, die Köpfe, die man Hochverrätern abgeschlagen hatte, drei Tage und drei Nächte auszustellen. Die Säule überstand den Einsturz des campanile im Jahre 1902 unbeschadet, was sicher der Härte des Porphyrs zu verdanken ist. Es wird berichtet, die Trümmer des Turms seien von ihr aufgehalten und umgelenkt worden, so dass sie die Kirche vor Schaden bewahrt habe, was jedoch als eine etwas romantische Interpretation anzusehen ist.

Vor der Hauptfassade der Kirche stehen drei Flaggenmasten aus Zedernholz, die früher die Fahnen von Candia (Kreta), Morea (Peloponnes) und des Königreichs Zypern trugen. Heute wehen hier an Sonn- und Feiertagen die Fahnen Italiens, der EU und Venedigs. Zwischen den Flaggenmasten wurde bis 1576 der Sklavenmarkt der Stadt abgehalten. Herrliche Arbeiten sind die Bronzesockel, die Alessandro Leopardi 1505 gegossen hat. Sie wurden stilbildend für zahlreiche Nachempfindungen des 19. Jahrhunderts, die in verschiedenen Städten Europas anzutreffen sind. Als Werke der Renaissance übernehmen sie Formen der Antike. An den Sockeln der seitlichen Masten sind Motive des Meeres wie Neptun, die Nereiden und Tritonen dargestellt. Der mittlere Sockel zeigt Justitia, das Symbol der Gerechtigkeit, sowie Pallas, die den Überfluss versinnbildlicht. Er trägt außerdem drei Medaillons mit jeweils einem Dogenportrait, welches als das von Leonardo Loredan, Doge von 1501 bis 1521, identifizierbar ist. Solche öffentlich sichtbaren Portraits waren im republikanischen Venedig völlig ungewöhnlich.

Bevor man sich den einzelnen Gebäuden zuwendet, sei eines der Grundthemen venezianischer Architektur, das der Säulenarkade, hervorgehoben. Es ist an fast allen Gebäuden von Piazza und Piazzetta konsequent verwirklicht. „Alle Bauwerke am Markusplatz, auch die Markuskirche, schließen sich nach außen nicht hermetisch ab, sondern öffnen sich nach draußen im Erdgeschoss völlig, in den oberen Geschossen weitgehend, so dass sich in den Fassaden ‚Draußen‘ und ‚Drinnen‘, öffentlicher und privater, profaner und sakraler Bereich durchdringen und gleichzeitig architektonisch zur Anschauung gebracht werden.“ (Hubala)