Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden

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Der Blick zur Lagune hin und zum sog. Bacino, das heißt zur Wasserfläche vor dem molo, bietet eine unvergleichliche Kulisse: Ganz rechts sind die Kuppeln der Salute-Kirche zu sehen, links daneben liegt die figurenbekrönte Dogana da mar. Neben dieser wiederum säumen die Palladio-Kirchen Il Redentore und Zitelle die Ufer der Giudecca, während weiter links die Kirche San Giorgio Maggiore steht. In der Ferne sind die Konturen des Lido zu sehen, und ganz zur Linken schließlich dehnt sich der Bogen der Riva degli Schiavoni weit hin bis zu den giardini publici und dem Stadtteil San Elena.



Sestiere di San Marco

Dieser Bezirk ist sicher der „feinste“ der Stadt, was dadurch bedingt ist, dass er sich zwischen der Piazza als ihrem geistigen und politischen Zentrum und dem Rialto erstreckt, dem Mittelpunkt des Geld- und Handelswesens – schließlich sagt man mit Recht, Rialto sei die „Wallstreet“ der damaligen Zeit gewesen. Nicht ohne Grund lässt Shakespeare Shylock im Kaufmann von Venedig fragen: „Was hört man Neues vom Rialto?“ und betont damit dessen überragende wirtschaftliche Bedeutung. Zudem besitzt der Sestiere eine lange Wasserfront am Canal Grande, die reichlich Platz für repräsentativ gelegene Palastbauten bot. Zu Zeiten der Republik gab es hier noch weitere Attraktionen in Form von mehreren Theatern und Spielcasinos, so z. B. den berühmten Ridotto in unmittelbarer Nachbarschaft zur Piazza in der Calle Vallaresso. Heute ist vieles vollkommen anders geworden: Entgegen der ursprünglichen politischen Bedeutung ist S. Marco heute Bischofskirche des Patriarchen. Rialto spielt nur mehr eine Rolle als der größte Markt der Stadt. Die Paläste sind fast ausschließlich zweckentfremdet und dienen allenfalls vereinzelt noch als Wohngebäude, und dann in der Regel nicht mehr für einzelne Familien, sondern aufgeteilt in viele kleinere Wohneinheiten. Die dominierende Rolle spielt heute der Tourismus in allen seinen Formen. Im Übrigen hat gerade dieser Stadtbezirk in der Zeit nach dem Untergang der Republik einschneidende bauliche Veränderungen erlitten. So wurden grobe Schneisen durch die Stadt geschlagen, z. B. die Calle Larga del XXII Marzo oder die Verbindung zwischen S. Salvatore und dem Campo S. Bartolomeo, die völlig unvenezianisch breit und gerade verlaufen und einen pompösen, in keiner Weise autochthonen Baustil aufweisen. Von dem, was einst war, können nur mehr die zahlreichen feinen Adressen eine Ahnung vermitteln, seien es die Hotels, die Restaurants oder die exklusiven Geschäfte. Im Gegensatz zu eleganten Geschäftsstraßen in Florenz oder Rom sieht hier von außen vieles zunächst eher kleinteilig und zurückhaltend aus. Bei näherer Betrachtung ist aber durchaus noch ein Abglanz von der Zeit zu erkennen, in der Venedig die Hauptstadt des Luxus und des Überflusses war.

Immer sind Gassen und Plätze ebenso wie die Piazza voll von Menschen, und in den Zeiten eines großen Besucherandrangs ist da manchmal kaum noch ein Durchkommen, es sei denn, man kennt die verborgen gelegenen Umgehungspfade. Der nämlich, dem die Stadt vertrauter ist und der es wagt, auch einmal von den Trampelpfaden abzuweichen, selbst auf die Gefahr hin, dass er sich verliefe, wird leicht Ecken und Wege finden, wo er ungestört ist und wo ihn die unvergleichliche Ruhe und Stille umgibt, wie sie als Stadt wohl nur Venedig bieten kann. Dabei sollten die Menschenmengen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Sestiere von San Marco recht weitgehend entvölkert ist, da durch die exorbitanten Preise für Miete und Kauf von Wohnraum die Gebäude fast nur noch kommerziell genutzt werden können.

► Rundgang

Piazza San Marco – Mercerie – S. Zulian – S. Salvatore – Campo S. Bartolomeo –

Rialto – Campo Manin – Campo S. Stefano – S. Zobenigo – La Fenice – S. Moisè

Der hier beschriebene Rundgang weist auf das Wesentliche dieses Stadtteils hin und ist als Anregung für die schönsten Wege gedacht. Doch sei betont, dass sich überall weitere, ähnlich faszinierende Wege öffnen, und es kann gar nicht genug empfohlen werden, sich durch sie verlocken zu lassen.

Man verlässt die Piazza unter dem Uhrturm und geht durch die Mercerie. Hier lagen die Läden der kleinen Händler, deren Waren am Markusplatz angelandet wurden, und noch heute gehören die Straßen der Mercerie zu den belebtesten und exklusivsten Geschäftsstraßen der Stadt. Gleich nach dem Uhrturm ist links oben an einer Hauswand die Büste einer Frau zu sehen, die mit einem Mörser hantiert. In den Boden darunter ist eine kleine weiße Marmorplatte mit dem Datum „15. Juni 1310“ eingelassen. An diesem Tag wurde ein Staatsstreich versucht, der sich zum Ziel gesetzt hatte, das sich immer stabiler verankernde oligarchisch-republikanische Regierungssystem zu stürzen. Geputscht haben Angehörige des Adels unter der Führung eines Bajamonte Tiepolo (ein Urenkel des Dogen Lorenzo Tiepolo, 1268–75) und seines Schwiegervaters Marco Querini. Es waren aber auch die Familien Badoer, Barozzi, Baseggio, Doro und Orio beteiligt, „allesamt ganz große Namen und alles unzufriedene Nobili, die sich vom Sturz der Regierung gesteigerten Einfluss und persönliche Pfründen versprachen.“ (Lebe) Um das zu erreichen, war eine radikale Veränderung der Verfassung geplant gemäß den „Vorbildern“, wie sie andere italienische Städte bzw. Stadtstaaten zuhauf boten. In dem geplanten Staatswesen sollte Bajamonte Tiepolo künftig als „Tyrann“ herrschen. Der Putsch scheiterte jedoch, weil die Verschwörung verraten worden war, so dass die Machthaber entsprechende Abwehrmaßnahmen vorbereiten konnten. Aus diesem Grunde war es den Aufständischen nicht möglich, die Piazza zu erstürmen, und ihr Vormarsch kam an der Stelle des heutigen Uhrturmes zum Stehen.

Gewissermaßen den Rest aber gab ihnen eine brave Bürgersfrau mit Namen Giustina (oder Lucia) Rossi. Die hatte mit ihrer Handlungsweise sicher nicht die Erhaltung der Republik im Sinne, sondern war vermutlich eher verärgert über den Lärm, der da vor ihrem Fenster herrschte. Offenbar sehr resolut, drückte sie ihr Missfallen dadurch aus, dass sie einen Mörser aus dem Fenster warf. Der traf ausgerechnet den im Kampfgetümmel hierher abgedrängten Fahnenträger der Rebellen und streckte ihn auf der Stelle nieder – und mit ihm sank das Feldzeichen zu Boden, was die Rebellen veranlasste, die Flucht zu ergreifen. Die Republik hat sich bei der Frau großzügig bedankt. Sie erhielt gemäß ihrem Wunsch das Recht, an Feiertagen die Fahne des hl. Markus an ihrem Balkon aufzuhängen. Außerdem durfte die Miete, die sie für ihren Laden und ihre Wohnung zu zahlen hatte, nicht mehr erhöht werden, was auch für alle ihre Nachkommen galt. Die Republik hat sich an diese Vereinbarung bis zu ihrem Ende gehalten und die Jahresmiete bis 1797 auf 15 Dukaten festgeschrieben.

Am Ende der Gasse biegt diese nach rechts ab und führt nach ein paar Metern auf den kleinen Campo San Zulian, an dem die gleichnamige

► Kirche S. Giuliano (S. Zulian)

liegt, deren mächtige Fassade der ravennatische Arzt und Humanist Tommaso Rangone finanziert hat. Sie wurde nach Plänen von Sansovino in den Jahren 1553–55 errichtet. Rangone ließ sich in der Fassade mit Sansovinos qualitätvoller Sitzstatue ein Denkmal errichten, das in edler Bronze ausgeführt ist und ursprünglich vergoldet war. Die Figur ist im Gestus antiker Philosophen über ihrem Sarkophag aufgestellt, ein Denkmaltypus, auf den auch Päpste für ihre Grabmäler zurückgegriffen haben (z. B. Urban VIII. in St. Peter, Rom). Es war das erste Mal, dass die Republik einer Privatperson erlaubte, sich in einer Kirchenfassade ein Denkmal zu errichten.

Dieser Mann Tommaso Rangone, dem es mittels zahlreicher Gesuche und großer Spenden gelungen war, eine solche Genehmigung zu erreichen, war eine in jeder Beziehung schillernde Persönlichkeit, auch was sein berufliches Spektrum anbetrifft, denn er war Arzt, Humanist und Astrologe. Zu Rangones Arztberuf meint Kretschmayr etwas spitz, die Medizin dieser Zeit habe sich „nur allzusehr in der Mitte zwischen Wissenschaft und Scharlatanerie“ bewegt, „und vielleicht hat sie gerade deshalb ihre seit 1515 zu einem Kollegium zusammengefassten Leute so gut ernährt wie jenen Gio­vanni da Ravenna, genannt ‚il Rangone‘, der sich von Sansovino ein Denkmal setzen lassen konnte“ und dessen Portraitstatue im Übrigen zum „Vorbild für unzählige Nachfolgerinnen“ wurde. Dabei hatte Rangone noch deutlich hochfahrendere Vorstellungen für seine Verewigung, da er ursprünglich bestrebt war, sich ein Standbild errichten zu lassen, nicht irgendwo, sondern auf der Piazza selbst und zwar vor San Geminiano. Erst ein Veto der Aufsichtsbehörde bereitete diesen Plänen ein Ende. Doch sein Standbild in einer Kirchenfassade war ihm noch nicht genug. Denn als er 1562 Vorsteher der Scuola Grande di San Marco wurde, beantragte er, auch in der Fassade dieser scuola ein Denkmal für sich errichten zu dürfen, was jedoch abgelehnt wurde. Auch später noch tat Rangone wirklich alles, was in seiner Macht stand, um „unsterblich“ zu werden. So hat er, uralt geworden, seine Funeralien bis ins kleinste Detail arrangiert. Da gab es dann einen pompösen Trauerzug, und zwar nicht direkt von der Piazza, an der er wohnte, nach San Zulian, sondern auf weiten Wegen durch die ganze Stadt. Die Glocken jeder Kirche, an denen der Sarg vorbeikam, läuteten und die Priester traten aus ihren Kirchen mit Kreuz und Weihwasser heraus, um ihn zu segnen. Sein Grab erhielt er, wie er es gewünscht hatte, im Chor von San Zulian.

Fassade: Diese hat zwei Stockwerke, die von einem Dreiecksgiebel mit zentraler Serliana überfangen werden. Vertikal ist sie in drei Abschnitte unterteilt. Das Untergeschoss gliedern kraftvoll zwei kannelierte Freisäulen zu Seiten des Portals, über dem die Statue Rangones auf dem Sarkophag sitzt. Die Gliederung im Obergeschoss erfolgt in analoger Weise, jedoch durch Pilaster. Das Innere stellt sich als Saalbau mit einfacher horizontaler Gliederung dar, dem sich dem Eingang gegenüber ein dreiteiliges Presbyterium anschließt. Besonders schön ist der geschnitzte und vergoldete Soffitto, der 1585 entstand und eine interessante Ecklösung aufweist. Er gibt gegenüber den Soffitti im Dogenpalast eine Vorahnung des nahenden Barock. Das Mittelbild mit der „Glorie des Titelheiligen“ stammt vom jüngeren Palma.

 

Ausstattung: Das erste Altarbild rechts Christus wird von den Engeln in den Himmel getragen malte Paolo Veronese. Interessant ist die Architektur des zweiten Altares rechts, der einer scuola gehörte und nach einem Entwurf Alessandro Vittorias gearbeitet wurde. Die Formensprache der Renaissance ist hier ins Üppige, Dekorative abgewandelt, und auch hier sind erste Anklänge des Barock zu spüren. Die sich anbahnende Veränderung wird am leichtesten im direkten Vergleich mit dem ihm an der linken Seitenwand gegenüberliegenden Altar verständlich. Ist dort alles klar und schlicht, so herrscht hier Vielfalt, sowohl was die Linienführung (siehe die eigenartige Schwingung des Rundgiebels) als auch die Vielschichtigkeit (starke Verkröpfung der Bekrönung) betrifft. Es ist nicht ganz einfach, den Altaraufbau als Ganzes, als Einheit zu begreifen, da das Auge keinen rechten Ruhepunkt findet und beständig abgelenkt wird. Die zum Altar gehörenden Figuren – besonders schön ist der David rechts, der an die Gestaltungsweise Michelangelos denken lässt – und das Antependium sind eigenhändige Werke Vittorias aus den Jahren 1583/84. Das Altarbild malte der jüngere Palma, ebenso das des Altares in der rechten Trabantenkapelle des Presbyteriums. Dieser Altar zeigt, ebenso wie das Hochaltarretabel, eine architektonische Modifikation des zweiten Seitenaltars. Es wurde hier das übliche Ädikulaschema im Sinne eines „Protobarocks“ verändert, der typisch ist für die Gestaltungsweise der venezianischen Baukunst kurz vor dem Ende des 16. Jahrhunderts und in dem sich Formen der Renaissance mit denen des Manierismus verbinden. Das Gewölbe der linken Seitenkapelle des Presbyteriums ist mit schönem Stuck aus der Werkstatt Vit­torias geschmückt. Das Pietà-Relief auf dem Altar wurde von Girolamo Campagna gearbeitet, während die seitlichen Terrakottafiguren von Vittoria geschaffen wurden.

Hinter der Kirche liegt der Campo della Guerra. Dieser Name rührt angeblich von einem Kampf her, der hier gegen eine Kolonne von Aufständischen bei der Tiepolo-Verschwörung stattgefunden habe. Später gab es hier dann Stock- und Faustkämpfe – wie auch an anderen Stellen der Stadt, so auf den Ponti della Guerra, die bei Gesuati, bei S. Marziale, bei S. Fosca und bei S. Barnabà liegen.

Von der Kirchenfassade aus gesehen weiter nach rechts durch die Mercerie gehend, gelangt man zu dem breiten Ponte dei Bareteri. Diese Brücke hat ihren Namen von den bareteri, den Mützenmachern (ital. berretta, die Mütze). Das Handwerk war weit verbreitet und das Produkt wurde wegen seiner Feinheit und der Dauerhaftigkeit der Farben überallhin exportiert. In der Nähe der Brücke lagen mehrere Geschäfte, in denen die Mützen angeboten wurden.

Steigt man von der Brücke gleich wieder rechts über einige Stufen zu einem Sottoportico hinunter, so kommt man zum Corte Lucatello. Der pozzo dieses Hofes wäre nicht weiter beachtenswert, wäre mit ihm nicht eine Legende verbunden, die der „Dame im weißen Kleide“: In einem Jahr mit ungewöhnlicher Trockenheit begann der Brunnen zu versiegen, was die Anwohner des Hofes mit großer Sorge verfolgten. Sie sahen sich veranlasst, sich Wasser heimlich zu besorgen, womit sie sich natürlich einigen Ärger einhandelten. Eines Abends, schon sehr spät, begab sich ein Schiffer, mit einem Kupfereimer versehen, zu dem Brunnen, wo er eine Frau fand, die ganz in Weiß gekleidet war. Überrascht wie er war, überliefen den armen Mann Schauer der Angst, da zu dieser Zeit Geschichten in der Stadt kursierten, dass zu einer bestimmten Stunde in dunklen Nächten die Gassen von bösartigen Hexen bevölkert seien. Die Frau erriet die Ängste des Mannes und sagte zu ihm: „Vor mir musst du keine Angst haben. Aber es könnte passieren, dass dein Blut auf diesem Boden fließt, wenn du nicht rasch nach Hause gehst.“ Der Schiffer, immer erstaunter, nahm sie nicht ernst und wollte sie wegschicken. Darauf begann sie, ihn anzuflehen, doch unbedingt ihrem Rat zu folgen. Während dieses Zwiegesprächs und während der Schiffer sich dem Brunnen nähern wollte, sprang plötzlich ein anderer Mann aus der Dunkelheit hervor und überfiel den Schiffer mit einem Messer in der Hand. Der Kampf dauerte nur kurz und der Schiffer fiel schwer verwundet zu Boden. Nun plötzlich besann sich der Attentäter, fiel wegen seiner Mordtat in Verzweiflung und flehte alle Heiligen um Hilfe an. Die weiß gekleidete Frau hingegen nahm das Messer und ließ von der noch verschmierten Klinge drei Blutstropfen in den Brunnen fallen. Im gleichen Augenblick füllte sich die Zisterne mit so viel Wasser, dass sie überfloss. Dann nahm die Frau ihr Taschentuch, tauchte es ins Wasser und wusch damit die Wunden des Schiffers, die sich sofort verschlossen und vernarbten. Darauf befahl sie den beiden Männern, nach Hause zu gehen, und versicherte ihnen, dass der Brunnen künftig Wasser im Überfluss haben werde. Im Gehen wollten die beiden der Frau danken, doch die hatte sich in Nichts aufgelöst. Auch heute noch, in dunklen Neumondnächten, erscheint die Dame in Weiß manchmal ganz flüchtig in dem Hof. Es heißt, dass ihr Körper dort begraben liege. Er sei in die Wände des pozzo eingemauert worden, als die zugehörige Zisterne angelegt wurde. Auf diese Weise sollte ein Mord verschleiert werden, den ein Adeliger, der Geliebte der Frau, an ihr begangen hatte.

Am jenseitigen Fuß des Ponte dei Bareteri, etwas verborgen unter einer Arkadenstellung, liegt das Französische Kulturinstitut. Es ist in einem Casino aus der Zeit des Rokoko untergebracht, das im Grundriss einem Palazzo en miniature gleicht und kostbar ausgestattet ist. Zu diesem Casino gehört auch ein sogenannter liagò, ein erkerähnliches Gebilde, von denen es früher recht viele in der Stadt gab. Heute sind sie fast nur mehr an Gebäuden zu sehen, die am Canal Grande stehen. Solche casini wurden als Absteige benützt, u. a. um sich dort vor Ratssitzungen umzukleiden, aber auch um den gewaltigen Dimensionen der eigentlichen Paläste einmal entkommen zu können. Sie schossen nach 1774, als die Republik den Ridotto, das berühmte Spielcasino in der Calle Vallaresso schloss, wie Pilze aus dem Boden. 1797 gab es davon etwa 136, sie waren gewissermaßen Statussymbole geworden, und in manchen Familien besaßen die Ehepartner jeweils ein eigenes. Daneben dienten sie sicher auch noch anderen Zwecken – Corto Maltese bezeichnet sie als „luogi più frivoli“, geht dabei aber nur auf das Glücksspiel ein, dem man hier frönte. Doch trafen sich die Damen hier auch, um Konversation zu machen, die Leute auszurichten, sich die Zeit zu vertreiben – und natürlich, um Liebeshändel anzuzetteln. Denn hier war man weit weg von den ehelichen Verpflichtungen und außerdem geschützt vor indiskreten Blicken. Unliebsame Überraschungen brauchte die Besitzerin dieses Casinos nicht zu befürchten. Es gab nämlich ein Loch im Boden (es existiert heute noch), durch das man sehen konnte, wer am Tor Einlass begehrte. Daneben wird überliefert, dass das Casino einen geheimen Ausgang besessen haben soll, der sich unter der nahen Brücke mit einer versteckten Pforte zum Wasser öffnete.

Geht man geradeaus bis zum Ende der calle, so bildet diese dort eine Nische, an deren Ende die Mauer einen sogenannten capitello, eine Art Tabernakel trägt. Er birgt, wie viele solcher capitelli, die überall in der Stadt anzutreffen sind, eine Madonna mit Kind.

Der Capitello in der Merceria gilt seit langem als wundertätig, genauer seit dem Jahre 1492, als in der Nähe der Kirche San Giuliano ein riesiger Brand ausbrach. Der breitete sich mit rasender Geschwindigkeit in Richtung Rialto aus, und es wurde schon befürchtet, dass sich ein Großbrand wie im Jahre 1105 wiederholen könnte, durch den damals ein Drittel der Stadt in Schutt und Asche gelegt wurde. Doch die lodernden Flammen, die scheinbar bereits die Herrschaft über alles gewonnen hatten, sanken in dem Augenblick, in dem sie den capitello erreicht hatten, plötzlich in sich zusammen und verloschen binnen kurzer Zeit vollkommen. Die Volksmeinung führte dieses rätselhafte Ereignis auf die göttliche Gnade zurück.

Die Gasse biegt nun zuerst nach rechts und gleich wieder nach links, um sich nach etwa fünfzig Metern links in den Campo S. Salvatore zu öffnen. Die gleichnamige

► Kirche S. Salvatore

ist mit Ausnahme ihrer Fassade vollständig von Gebäuden umgeben. Ein erster Kirchenbau entstand an dieser Stelle, die als humbilicus, als „Nabel“ der Stadt angesehen wurde, schon im 7. Jahrhundert (der Legende nach wurde sie vom hl. Magnus gegründet, nachdem diesem Christus selbst erschienen war und die Errichtung der Kirche von ihm gefordert hatte) und besaß möglicherweise stilistische Züge des Heiligen Grabes in Jerusalem. Im 12. Jahrhundert entstand eine erste Klosterkirche. 1257 wurden die Reliquien des hl. Theodor, des ersten Patrons der Stadt und somit des „Vorgängers“ des hl. Markus, hierher überführt, was für die Kirche eine starke Aufwertung bedeutete. Das jetzige Bauwerk entstand 1507–34. Die Grundsteinlegung erfolgte an einem hochbedeutenden Datum, nämlich am 25. März. Das war „der Tag der Verkündigung Mariä, des Heiles der Menschheit, der Erschaffung der Welt, der Kreuzigung Christi und zugleich der Gründungstag Venedigs.“ (Concina) Die Bauleitung lag zunächst bei Giorgio Spavento, eigentlicher Architekt war aber Tullio Lombardo, in der Schlussphase betreute dann Sansovino den Bau.

Fassade: Diese entstand erst in den Jahren 1663–1700, was für italienische Kirchen nicht ungewöhnlich ist: Die Kirchenfassade wurde immer zuletzt gebaut – falls die Gemeinde noch oder wieder genug Geld zur Verfügung hatte – selbst wenn sie dann in einem völlig anderen Baustil entstand. Man findet aber auch viele Kirchen, die ohne Schaufassade geblieben sind. Vom campo aus ist die barocke Fassade nur im steilen Aufblick zu betrachten und deshalb schwer zu erfassen. Sie ist horizontal zweigeteilt, wobei der untere Abschnitt doppelt so hoch ist wie der obere, vertikal ist sie in drei Abschnitte gegliedert. Das Mittelintervall wird von einem kleinen Dreiecksgiebel überfangen. Im Erdgeschoss stehen in der Mitte auf hohen Sockeln Säulen, die ein kräftiges Gebälk tragen, ein Motiv, das im Innenraum in modifizierter Form aufgegriffen und weiterentwickelt wird. Das Obergeschoss wird dagegen durch Pilaster gegliedert. Dem von einer Säulenädikula gefassten Portal antwortet oben ein Fenster mit einem Doppelbogen.

Inneres: „Das Innere ist von großartiger und freier Wirkung, von monumentaler Ruhe und Klarheit des Aufbaus, von schönen, unmittelbar wirksamen Proportionen und einer Lichtsituation, die in Venedig einzig dasteht.“ (Hubala) Wesentlichen Anteil an der Lichtfülle haben die Laternen der drei großen Kuppeln, die erst 1574 unter Scamozzi dazukamen. Es wird in diesem Bauwerk das Lieblingsthema der venezianischen Sakralarchitektur, das des Zentralkuppelraumes, erneut vorgetragen. Dabei ist S. Salvatore nichts anderes als die Übersetzung der Architektur von S. Marco in die Formensprache der Renaissance, worauf schon Francesco Sansovino, der Sohn des großen Architekten und Bildhauers hingewiesen hat. Ungewöhnlich für Venedig war bei dieser Neuinterpretation des Innenraumes von S. Marco die Gliederung der weißen Flächen und Gewölbe mit Architekturelementen aus grauem Gestein, ein Motiv, das aus der Toskana stammt. Der grundlegende architektonische Gedanke ist der einer Kuppel über quadratischem Grundriss mit vier kleinen seitlichen Kuppelräumen, die wie die „5“ des Spielwürfels (quincunx) angeordnet sind, wobei weitgespannte Tonnen den Raum zwischen den kleinen Kuppeln übergreifen, diese verbinden und gleichzeitig die Zentralkuppel an vier Seiten flankieren. Hier sind – wie in S. Marco – drei dieser Systeme so ineinander gehängt, dass eine Tonne zwischen zwei Hauptkuppeln zu jeweils zwei Systemen gehört. In der Längsachse wird der Raum durch die Dreiergruppe der Apsiden abgeschlossen. Das Querhaus lädt nur wenig aus und ist glatt geschlossen. Wesentlich für die Raumwirkung ist die horizontale Gliederung durch die gleichgeformten Sockel der Pfeiler und insbesondere durch die mächtige Attikazone, die über den ganzen Raum rundum hinwegläuft und ihn so wie ein Gürtel zusammenfasst. Der Fußboden wiederholt und erklärt den Grundriss des Bauwerks und bringt gleichzeitig Farbe und Wärme in den Raum.

 

Ausstattung: Im ersten weiten Intervall rechts steht das Grabmal für den Prokurator Andrea Dolfin und dessen Ehefrau Benedetta (um 1600), deren Portraitbüsten Campagna schuf. Von ihm stammen auch die Skulpturen (Muttergottes mit Kind und Engeln) auf dem zweiten Seitenaltar. Rechts neben der zweiten Hauptkuppel befindet sich das Grabmal des Dogen Francesco Venier (1554–56), der ursprünglich in S. Francesco della Vigna „con poca pompa“ („mit geringem Pomp“) bestattet werden wollte. Doch hat er später dann doch den Wunsch nach einem repräsentativen Grabmal in San Salvatore geäußert. Seine Familie hat Sansovino, den in dieser Zeit sicherlich bedeutendsten Architekten der Stadt, mit der Ausführung beauftragt. Es wurde eines seiner Hauptwerke, das er in den Jahren 1557/58 schuf. Sansovino griff hier auf Tullio Lombardos Architekturgedanken des Grabmals für Giovanni Mocenigo in SS. Giovanni e Paolo (venezianisch Zanipolo) zurück und entwickelte ihn weiter. Die Architektur leitet sich vom Triumphbogen-Schema ab und ist hier in ein vollkommenes Gleichgewicht gebracht. Das Grabmal ist zwischen die seitlich angrenzenden Nebenkuppeljoche gespannt und steht mit seiner schlichten Sockelzone fest auf dem Boden des Kuppeljoches – eine Beobachtung, die relativiert wird durch die von zierlichen Konsolen getragenen Sitzbank, wodurch der Eindruck eines „Schwebens“ entsteht. Die Gliederung des Grabmals ist an die Raumarchitektur angepasst, sie berücksichtigt sowohl die Höhe der Piedestale der Raumpfeiler als auch die der Attika. Die Architektur erscheint durch die Säulenstellung (das mittlere Interkolumnium hat dieselbe Breite wie das Fenster über dem Grabmal) und die leicht vorspringende Bogenstellung elastisch, atmend, fast lebendig. Sie ist in verschiedenfarbigen Marmorsorten ausgeführt, wodurch das Werk, das außerdem reich mit Ornamenten versehen ist, polychrom wirkt. Das Figurenprogramm ist dagegen relativ sparsam. Es beschränkt sich auf die Liegefigur des Dogen, auf zwei Tugendpersonifikationen (Caritas und Glaube) in den seitlichen Interkolumnien sowie auf die Pietà in der Lünette, die von Vittoria gearbeitet wurde und ein fast wörtliches Zitat von Michelangelos Pietà in Sankt Peter in Rom ist. Eigenhändig hat Sansovino die Statue „Glaube“ rechts ausgeführt, deren Gestaltung unmittelbar von antiken römischen Gewandfiguren abgeleitet ist, „vielleicht die schönste Frauenstatue der venezianischen Renaissance-Skulptur“ (Hubala).

Einen absoluten Höhepunkt, – dies betrifft nicht nur die Kirche, sondern die Kunst der Stadt insgesamt – stellt die Verkündigung dar, ein Spätwerk Tizians aus den Jahren 1560–66, das über dem nächsten Altar im originalen, herrlichen Rahmen hängt, den Sansovino selbst gearbeitet hat. Es fällt auf, dass das Geschehen auf einer um zwei Stufen erhöhten Fläche stattfindet. Diese Stufen beziehen sich exakt auf die Architektur des umgebenden Raumes (die erste Stufe entspricht der Oberkante des Postaments der Pilaster, die zweite Stufe deren Basis). Es ist nicht ganz einfach, sich mit diesem Bild zu arrangieren und sich in ihm zurechtzufinden, da das Auge keinen rechten Ruhepunkt findet und unstet zwischen den beiden Protagonisten und der Wolke der Engel hin und her wandert. Alles ist so geheimnisvoll dargestellt, wie es das Thema selbst ist. Die Figuren treten aus einem dichten Geflecht von Farben hervor, sind eingetaucht in helles Licht, das vom Himmel niederschießt gleich der Taube, die sich Maria nähert. Diese sitzt rechts und weicht vor dem Sturm, der da auf sie zubraust, etwas zur Seite hin aus. Farblich ist Maria stark zurückgenommen und in das traditionelle Rot und Blau gekleidet. Sie lüftet mit ihrer rechten Hand einen hauchzarten Schleier, „denn es geschah – nach Gregorios von Nyssa, der das Mysterium der Inkarnation verständlich zu machen suchte – durch das Wort, dass Gott durch das Gehör in den Mutterleib eindrang, aus dem sodann in Reinheit der Sohn Gottes hervorging.“ (Pedrocco) Freudigkeit und Bereitschaft liegen in Miene und Haltung Marias. In ihrer Linken hält sie ein halb geöffnetes Buch, in dem man das Wort „signu(m)“ erkennen kann, ein Hinweis auf Jesaja 7,14, wo es heißt: „Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.“ Gabriel dagegen tritt mit schimmernden Flügeln und wie von Licht erfüllt auf, von dem unklar ist, wovon es ausgeht (es scheint von vorne und links zu kommen). Er hält die Arme gekreuzt, was als Zeichen der Anbetung zu verstehen ist, und schreitet kraftvoll und gleichzeitig werbend auf Maria zu, um unwiderstehlich vom Willen Gottes und dessen Beschluss zu künden. Schräg rechts oben findet sich die wesentliche Lichtquelle in diesem Bild, die noch heller leuchtet als Gabriel. Es ist die Taube, von der die Gloriole der Engel, die den Himmel über dem Geschehen erfüllt, ihr Licht erhält. Alles außerhalb dieser Lichtpunkte ist undeutlich, ist erfüllt von webenden Farben und Farbnebeln (wobei dieser Eindruck durch die Maltechnik von Tizians Spätstil, in dem er pastose Farbe in immer neuen Lagen über- und gegeneinandersetzt, noch zusätzlich verstärkt wird). Rätselhaft ist das glühende Rot im Hintergrund neben der Säulenstellung, das als brennender Dornbusch gedeutet wird, auf den sich auch die Worte beziehen, die rechts auf der zweiten Treppenstufe stehen: „IGNIS ARDENS NON COMBURENS – Feuer, das brennt, aber nicht verzehrt“. Ein schönes Detail ist die Vase am rechten unteren Bildrand mit einem trockenen Zweig, der durch göttliche Intervention aufblüht – ein Symbol für die ewige Jungfräulichkeit. Das Bild hat weit über seine Zeit hinaus gewirkt und den Barock beeinflusst.

Es bleibt zu erwähnen, dass einigen Zeitgenossen der Stil von Tizians Verkündigung etwas zu unkonventionell erschien, dies so sehr, dass sie es einfach für unvollendet erklärten und sogar die Autorschaft Tizians in Zweifel zogen. Diesbezüglich berichtete 1648 Ridolfi, dass der alte Künstler darüber beträchtlich verstimmt gewesen sei und deswegen seine Signatur„Tizianus fecit“ mit einem zweiten „fecit“ ergänzt habe, um die Eigenhändigkeit zu betonen. Diese Interpretation ist praktisch in allen Werken zu lesen. Allerdings ergab sich bei einer 1988/89 durchgeführten Restaurierung des Bildes, dass diese These nicht haltbar ist. Es ließ sich nämlich beweisen, dass das zweite „fecit“ nicht von Tizian stammt, sondern Zutat einer früheren Restaurierung ist.

An der Stirnwand des rechten Querhausarmes ist seit dem Ende des 16. Jahrhunderts Catarina Cornaro beigesetzt, die zuvor ihr Grab in SS. Apostoli hatte.

Sie hatte den Titel einer „Tochter der Republik“ erhalten, damit sie Königin von Zypern werden konnte. Als solche durfte sie diese Insel dann der Republik schenken, nachdem ihr Ehemann überraschend in noch jugendlichem Alter gestorben war. Das Kind, das aus dieser Ehe stammte, starb nur wenig später, und beide Todesfälle geschahen unter so dubiosen Umständen, dass prompt der Verdacht auf Giftmorde geäußert wurde. In jedem Fall aber kamen sie der Republik durchaus gelegen.

Auf dem Hochaltar steht ein weiteres Gemälde Tizians, das meist als Himmelfahrt Christi bezeichnet wird und aus den Jahren 1560–65 stammt. Das Thema, eigentlich eine trasfigurazione, ist dargestellt als ein stilles Schweben in blendendem Licht, in dem Christus von Aposteln und Propheten umgeben ist. (Hubala hat auf die kompositorische Nähe zu Raffaels Interpretation des gleichen Themas, heute in der Vatikanischen Pinakothek, hingewiesen.) Das Bild war früher nur vom 3. bis 15. August und an hohen Feiertagen zu sehen, während sonst ein Paliotto aus dem 14. Jahrhundert gezeigt wurde, ein Altaraufsatz, der aus getriebenem Silber und Niello gefertigt ist. Um diesen heute zu sehen, muss man sich an den Mesner wenden, ansonsten wird er nur in der Karwoche und an Christi Himmelfahrt gezeigt. Auch auf ihm ist die Transfiguration dargestellt, und zwar in der Mitte der Tafel. Dort wird Christus von Aposteln flankiert, während in drei weiteren Reihen Heilige in Nischen und Evangelisten mit ihren Symbolen zu sehen sind.