Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner

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Und zwischen den Zähnen murmelte er noch:

»Außerdem habe ich wirklich keine rühmliche Figur abgegeben.«

Die beiden Gehilfen kamen nach und nach wieder zu Bewusstsein, ihre Gesichter waren so stumpfsinnig wie die von Menschen, die aus einem hypnotischen Schlaf erwachen. Sie machten erstaunte Augen, versuchten zu verstehen. Als Ganimard sie ausfragte, erinnerten sie sich an nichts.

»Ihr habt doch jemanden sehen müssen.«

»Nein.«

»Denkt mal nach.«

»Nein, nein.«

»Und ihr habt nichts getrunken?«

Sie überlegten, dann sagte der eine von ihnen:

»Doch, ich habe etwas Wasser getrunken.«

»Wasser aus dieser Karaffe?«

»Ja.«

»Ich auch«, erklärte der andere.

Ganimard roch an dem Wasser, probierte es. Es hatte keinen besonderen Geschmack, keinen Geruch.

»Los«, sagte er, »wir verlieren unsere Zeit. Man kann nicht in fünf Minuten die Probleme lösen, die Arsène Lupin stellt. Aber bei Gott, ich schwöre, dass ich ihn erwischen werde. Ich gewinne die zweite Runde. Der Sieg ist mein.«

Am gleichen Tag reichte Baron Cahorn gegen den in der Santé inhaftierten Arsène Lupin Klage wegen schweren Diebstahls ein. Diese Klage bereute der Baron noch oft, als er den Malaquis den Polizisten, dem Staatsanwalt, dem Untersuchungsrichter, den Journalisten und allen Neugierigen, die sich überall dort einschleichen, wo sie nicht sein sollten, ausgeliefert sah.

Die Affäre erregte die Öffentlichkeit. Sie hatte sich unter so besonderen Umständen zugetragen, und der Name Arsène Lupins steigerte die Fantasie so sehr, dass fantastische Geschichten die Spalten der Zeitungen füllten und bei den Lesern Glauben fanden.

Der erste Brief Arsène Lupins, den die Zeitung Echo de France veröffentlichte (niemand erfuhr jemals, wer der Zeitung den Text in die Hand gespielt hatte), jener Brief, in dem der Baron so unverschämt vor dem, was ihn bedrohte, gewarnt worden war, erregte ganz besonders die Gemüter. Sofort wurden fantastische Erklärungen aufgestellt. Man erinnerte an das Vorhandensein der berühmten Kellergewölbe. Und die beeinflusste Staatsanwaltschaft unternahm ihre Ermittlungen in dieser Richtung.

Das Schloss wurde von oben bis unten durchsucht, jeder Stein beklopft. Man prüfte die Täfelungen und die Kamine, die Fensterrahmen und die Deckenbalken. Bei Fackelschein untersuchte man die gewaltigen Kellerräume, in denen die Herren von Malaquis früher ihre Munition und Vorräte aufbewahrten. Selbst das Innere der Felsen wurde durchröntgt. Alles war vergeblich. Nicht die kleinste Spur eines Kellergewölbes wurde gefunden. Es gab keinen geheimen Weg.

Gut, erwiderte man von allen Seiten, aber die Möbel und Gemälde lösen sich nicht wie Gespenster in nichts auf. So etwas wird durch Türen oder Fenster fortgetragen, und die Leute, die das vornehmen, gehen ebenfalls durch Türen oder Fenster ein und aus. Wer sind diese Leute? Wie sind sie hereingekommen? Und wie sind sie wieder fortgegangen?

Die von ihrer Ohnmacht überzeugte Staatsanwaltschaft von Rouen bat um die Unterstützung von Pariser Kriminalbeamten. Herr Dudouis, der Chef des Sicherheitsdienstes, schickte seine besten Polizeispione von der Eisernen Brigade. Er selbst hielt sich zwei Tage im Malaquis auf. Auch er erreichte nicht mehr.

Also bestellte er Inspektor Ganimard zu sich, dessen Dienste schätzen zu lernen er schon oft Gelegenheit hatte.

Ganimard hörte schweigend der Darstellung seines Vorgesetzten zu, schüttelte nur den Kopf und sagte:

»Ich glaube, dass man mit der Durchsuchung des Schlosses auf der falschen Spur ist. Die Lösung liegt woanders.«

»Und wo?«

»Bei Arsène Lupin.«

»Bei Arsène Lupin! Wenn wir das annehmen, geben wir seine Beteiligung an der Affäre zu.«

»Ich gebe sie zu. Mehr noch, ich halte sie für vollkommen sicher.«

»Aber, das ist doch absurd. Arsène Lupin sitzt im Gefängnis.«

»Arsène Lupin sitzt im Gefängnis, gut. Er wird bewacht, ich gebe es zu. Aber selbst wenn er Eisen an den Füßen, Ketten an den Handgelenken und einen Knebel im Mund hätte, würde ich meine Meinung nicht ändern.«

»Und woher haben Sie diese Überzeugung?«

»Weil nur Arsène Lupin der Mann ist, ein Ding von dieser Größe zu drehen, und zwar so zu drehen, dass es gelingen muss … wie es gelungen ist.«

»Nichts als Worte, Ganimard.«

»Die wahr sind. Es ist zwecklos, nach Kellergewölben, Drehscheiben und anderen Albernheiten dieser Art zu suchen. Der Kerl gebraucht keine so uralten und abgenutzten Spielereien. Er ist ein Mann von heute oder eher noch von morgen.«

»Und was beschließen Sie?«

»Ich bitte Sie nur um die Erlaubnis, eine Stunde mit ihm zu verbringen.«

»In seiner Zelle?«

»Ja. Auf der Rückreise von Amerika haben wir uns auf der Überfahrt sehr gut verstanden, und ich glaube sagen zu können, dass er dem, der ihn hat verhaften können, einige Sympathie entgegenbringt. Wenn er mir, ohne sich bloßzustellen, Auskünfte geben kann, wird er nicht zögern, mir eine unnütze Reise zu ersparen.«

Es war kurz nach Mittag, als Ganimard in Arsène Lupins Zelle geführt wurde. Dieser lag auf seinem Bett, hob kurz den Kopf und stieß einen Freudenschrei aus.

»Also, das ist eine echte Überraschung. Der liebe Ganimard, hier!«

»Er persönlich.«

»Ich habe mir viel in meiner selbstgewählten Zurückgezogenheit gewünscht … aber nichts so leidenschaftlich, wie dich zu sehen.«

»Zu gütig.«

»Aber nein doch, ich empfinde für dich die größte Hochachtung.«

»Ich bin stolz darauf.«

»Ich habe es immer gesagt: Ganimard ist unser bester Detektiv. Er taugt fast so viel – du siehst, ich bin ehrlich, er taugt fast so viel wie Sherlock Holmes. Aber wirklich, ich bin untröstlich, dir nur diesen Schemel anbieten zu können. Und keine Erfrischung, kein Glas Bier! Entschuldige bitte, ich bin hier nur vorübergehend.«

Ganimard setzte sich lächelnd, und der Gefangene, froh, sprechen zu können, fuhr fort:

»Mein Gott, wie gut, ein ehrliches Gesicht vor sich zu haben! Ich habe genug von diesen Schnüffler- und Spitzelgesichtern, die zehnmal am Tag meine Taschen und meine bescheidene Zelle untersuchen, um sicherzugehen, dass ich keine Flucht vorbereite. Zum Teufel! Was die Regierung für Wert auf mich legt!«

»Sie hat allen Grund.«

»Aber nein! Ich wäre so glücklich, wenn man mich in meinem kleinen Winkel ruhig leben lassen würde.«

»Mit den Einnahmen der anderen.«

»Nicht wahr? Das wäre so einfach. Aber ich schwätze, ich rede dummes Zeug, und du hast es vielleicht eilig. Also zum Thema, Ganimard! Was verschafft mir die Ehre des Besuches?«

»Die Affäre Cahorn«, erklärte Ganimard ohne Umschweife.

»Moment! Eine Sekunde … Ich habe so viele Affären! Ich muss in meinem Gehirn erst die Akte der Affäre Cahorn finden. Ah, ja, ich habe es. Affäre Cahorn, Schloss des Malaquis, Seine-Inférieure. Zwei Rubens, ein Watteau und einige kleinere Gegenstände.«

»Kleinere!«

»Ach, mein Gott, das alles ist von zweitrangiger Bedeutung. Es gibt Besseres. Aber es genügt, dass die Sache dich interessiert … Sprich doch, Ganimard.«

»Muss ich dir erklären, wie weit wir mit unserer Untersuchung sind?«

»Nicht nötig. Ich habe heute früh die Zeitungen gelesen. Ich erlaube mir sogar die Bemerkung, dass ihr nicht gerade schnell vorankommt.«

»Genau deswegen wende ich mich an dich.«

»Voll und ganz zu deinen Diensten.«

»Zunächst das: Die Affäre ist von dir eingefädelt worden.«

»Von A bis Z.«

»Der Brief mit der Drohung? Das Telegramm?«

»Sind von mir. Ich muss sogar irgendwo die Posteinlieferungsscheine haben.«

Arsène öffnete die Schublade eines kleinen Tisches aus weißem Holz, der mit dem Bett und dem Schemel die ganze Einrichtung bildete. Er entnahm ihr zwei Zettel und reichte sie Ganimard.

»Das ist doch die Höhe«, rief dieser aus, »ich glaubte dich ständig bewacht und für nichts und wider nichts durchsucht. Und du liest Zeitungen, du sammelst Einlieferungsscheine der Post …«

»Pah! Diese Leute sind so dumm! Sie trennen das Futter von meiner Jacke auf, untersuchen die Sohlen meiner Schuhe, horchen die Wände dieses Raumes ab, aber keiner von ihnen kommt auf die Idee, dass Arsène Lupin so einfältig sein könnte, ein so leichtes Versteck zu wählen. Genau damit habe ich gerechnet.«

Ganimard lachte:

»Was für ein komischer Bursche! Du bringst mich aus der Fassung. Also los, erzähl mir das Abenteuer.«

»Oho, wie du rangehst! Dich in alle meine Geheimnisse einweihen … dir meine kleinen Einfälle enthüllen … Das ist bedenklich.«

»Habe ich mich zu Unrecht auf deine Gefälligkeit verlassen?«

»Nein, Ganimard, und da du darauf bestehst …«

Arsène Lupin durchmaß mit großen Schritten zwei-, dreimal seine Zelle, dann blieb er stehen:

»Was hältst du von meinem Brief an den Baron?«

»Ich glaube, dass du dich amüsieren, ein wenig aufschneiden wolltest.«

»Aha, aufschneiden! Ich versichere dir, Ganimard, ich hielt dich für gescheiter. Vertu ich meine Zeit mit solchen Kindereien, ich, Arsène Lupin! Hätte ich diesen Brief geschrieben, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, den Baron ohne Brief auszuplündern? Aber versteht doch endlich, du und die anderen, dass dieser Brief der notwendige Ausgangspunkt ist, die Triebfeder, die alles ins Rollen gebracht hat. Lass uns der Reihe nach vorgehen, und, wenn du willst, den Diebstahl des Malaquis zusammen vorbereiten.«

»Ich höre.«

»Also, nehmen wir ein streng verschlossenes, verriegeltes Schloss, wie das des Barons Cahorn. Soll ich die Partie aufgeben und auf die Schätze, die ich haben will, unter dem Vorwand verzichten, dass das Schloss, in dem sie sich befinden, unerreichbar ist?«

 

»Natürlich nicht.«

»Soll ich den Ansturm wie früher an der Spitze einer Truppe Abenteurer versuchen?«

»Kindisch.«

»Soll ich mich heimlich einschleichen?«

»Unmöglich.«

»Dann bleibt nur noch eine Möglichkeit, die einzige nach meiner Meinung: mich vom Eigentümer des besagten Schlosses einladen zu lassen.«

»Die Möglichkeit ist originell.«

»Und so einfach! Nehmen wir an, dass der besagte Eigentümer eines Tages einen Brief bekommt, in dem er vor dem gewarnt wird, was ein Mann namens Arsène Lupin, ein bekannter Einbrecher, gegen ihn einfädelt. Was wird er tun?«

»Er schickt den Brief zum Staatsanwalt.«

»Der sich über ihn lustig macht, da eben derselbe Lupin gegenwärtig hinter Schloss und Riegel sitzt. Also, Entsetzen des guten Mannes, der bereit ist, jeden, der ihm in die Hände läuft, um Hilfe zu bitten, nicht wahr?«

»Daran besteht kein Zweifel.«

»Und wenn er zufällig in einem Käseblatt liest, dass ein berühmter Kriminalbeamter in der Sommerfrische im Nachbarort weilt …«

»Wendet er sich an diesen Kriminalbeamten.«

»Du sagst es. Aber nehmen wir andererseits an, dass Arsène Lupin in Voraussicht dieses unvermeidlichen Schrittes einen seiner fähigsten Freunde gebeten hat, sich in Caudebec niederzulassen, Verbindung mit einem Redakteur der Reveil aufzunehmen, der Zeitung, die der Baron abonniert hat, und verlauten zu lassen, dass er der und der ist, nämlich ein berühmter Kriminalbeamter, was geschieht dann?«

»Dass der Redakteur in der Zeitung Reveil die Anwesenheit des besagten Kriminalbeamten in Caudebec verkündet.«

»Richtig, und da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder beißt der Fisch – ich meine Cahorn – nicht an, dann geschieht nichts. Oder, und das ist die wahrscheinlichere Hypothese, er eilt zitternd herbei. Und so fleht mein Cahorn einen meiner Freunde um Hilfe gegen mich an.«

»Es wird immer origineller.«

»Natürlich verweigert der Pseudo-Kriminalbeamte zunächst seine Hilfe. Darauf folgt das Telegramm von Arsène Lupin.

Entsetzen des Barons, der meinen Freund von Neuem anfleht und ihm soundsoviel dafür bietet, wenn er ihn bewacht. Der Freund nimmt an, bringt zwei Burschen aus unserer Bande mit, die nachts, während Cahorn von seinem Beschützer bewacht wird, eine Reihe von Gegenständen durch das Fenster transportieren und sie mit Hilfe von Seilen in eine zu diesem Zweck gemietete Schaluppe gleiten lassen.

Das ist so einfach wie Lupin.«

»Das ist herrlich«, rief Ganimard, »und ich kann die Kühnheit des Einfalls und die Scharfsinnigkeit der Einzelheiten nicht genug bewundern. Aber ich kann mir kaum einen so berühmten Kriminalbeamten vorstellen, durch dessen Namen der Baron dermaßen hätte beruhigt werden können.«

»Es gibt einen, es gibt nur einen.«

»Welchen?«

»Den des berühmtesten, des persönlichen Feindes Arsène Lupins, kurz, des Inspektors Ganimard.«

»Ich!«

»Du selbst, Ganimard, deswegen wird es ja so delikat: Wenn du dorthin fährst und der Baron sich entschließt, auszuplaudern, wirst du zu dem Schluss kommen, dass es deine Pflicht ist, dich selbst zu verhaften, wie du mich in Amerika verhaftet hast. He! Die Revanche ist köstlich: Ich lasse Ganimard durch Ganimard verhaften!«

Arsène Lupin lachte aus vollem Hals. Der ziemlich verärgerte Inspektor biss sich auf die Lippen. Ihm schien der Spaß keinen solchen Freudentaumel zu rechtfertigen.

Der Eintritt eines Wärters gab ihm Zeit, sich wieder zu fassen. Der Mann brachte die Mahlzeit, die sich Arsène Lupin durch Sondergenehmigung von einem benachbarten Restaurant bringen ließ. Nachdem er das Tablett auf den Tisch gestellt hatte, entfernte er sich. Arsène setzte sich zurecht, brach sein Brot, aß zwei, drei Brocken und fuhr fort:

»Aber sei ruhig, mein lieber Ganimard, du wirst nicht dorthin fahren. Ich will dir eine Sache anvertrauen, die dich in Erstaunen versetzen wird: Die Affäre steht kurz davor, zu den Akten gelegt zu werden.«

»Was?«

»Kurz davor, zu den Akten gelegt zu werden, sagte ich.«

»Das ist nicht möglich, ich habe gerade den Chef des Sicherheitsdienstes verlassen.«

»Und? Weiß Herr Dudouis mehr über mich als ich? Du wirst erfahren, dass Ganimard – entschuldige –, dass der Pseudo-Ganimard sehr gute Beziehungen zu dem Baron aufrechterhalten hat. Dieser, und das ist der Hauptgrund, warum er nichts gestanden hat, hat ihn mit der sehr delikaten Aufgabe betraut, mit mir geschäftlich zu verhandeln, und zu dieser Stunde ist es mit Hilfe einer bestimmten Summe wahrscheinlich, dass der Baron wieder in den Besitz seiner lieben Kleinigkeiten gekommen ist. Als Gegenleistung wird er seine Klage zurückziehen. Also, kein Diebstahl mehr. Also muss die Staatsanwaltschaft wohl oder übel aufgeben …«

Ganimard betrachtete den Häftling verblüfft.

»Und woher weißt du das alles?«

»Ich habe gerade das Telegramm erhalten, das ich erwartete.«

»Du hast eben ein Telegramm erhalten?«

»Im Augenblick, lieber Freund. Aus Höflichkeit wollte ich es nicht in deiner Gegenwart lesen. Aber wenn du erlaubst …«

»Du machst dich über mich lustig, Lupin.«

»Sei so gut, mein Lieber, und schlag vorsichtig das obere Ende von diesem weichen Ei. Du wirst selbst feststellen, dass ich mich nicht über dich lustig mache.«

Mechanisch gehorchte Ganimard und schlug das Ei mit der Messerklinge auf. Ein überraschter Schrei entfuhr ihm. Die leere Schale enthielt ein blaues Blatt Papier. Auf Arsènes Bitte faltete er es auseinander. Es war ein Telegramm, oder eher der Teil eines Telegramms, von dem man die Stempel der Post abgerissen hatte. Er las:

»Vertrag abgeschlossen. Hunderttausend Piepen ausbezahlt. Alles in Ordnung.«

»Hunderttausend Piepen?« fragte er.

»Ja, hunderttausend Francs. Das ist wenig, aber die Zeiten sind schlecht … Und ich habe so viele Ausgaben. Wenn du mein Budget kennen würdest … ein Großstadtbudget!«

Ganimard stand auf. Seine schlechte Laune war verflogen. Er überlegte einige Sekunden, durchging die ganze Affäre noch einmal in Gedanken, um einen schwachen Punkt zu finden. Dann sprach er in einem Ton, der offen die Bewunderung des Kenners durchblicken ließ:

»Gott sei Dank gibt es kein Dutzend von deiner Sorte, sonst könnten wir uns alle zur Ruhe setzen.«

Arsène Lupin setzte eine bescheidene Miene auf:

»Pah, ich musste mich zerstreuen, meine freie Zeit totschlagen … umso mehr, als die Sache nur gelingen konnte, während ich im Gefängnis saß.«

»Wie?« rief Ganimard: »Dein Prozess, deine Verteidigung, die Untersuchung, alles das genügt dir also nicht zur Zerstreuung?«

»Nein, denn ich habe beschlossen, meinem Prozess nicht beizuwohnen.«

»Aha!«

Arsène Lupin wiederholte bedächtig:

»Ich werde meinem Prozess nicht beiwohnen.«

»Wirklich?«

»O nein, mein Lieber! Glaubst du, dass ich auf dem feuchten Stroh krepieren will? Du beleidigst mich. Arsène Lupin bleibt nur so lange im Gefängnis, wie es ihm gefällt, keine Minute länger.«

»Es wäre vielleicht klüger gewesen, gar nicht erst hineinzugehen«, wandte der Inspektor ironisch ein.

»Ah, der Herr verspottet mich? Der Herr erinnert sich daran, dass er die Ehre gehabt hat, meine Verhaftung zu bewirken? Du solltest wissen, mein ehrwürdiger Freund, dass niemand, du nicht mehr als ein anderer, hätte Hand an mich legen können, wenn mich nicht eine weitaus interessantere Sache in diesem kritischen Augenblick beschäftigt hätte.«

»Du verblüffst mich.«

»Eine Frau schaute mich an, Ganimard, und ich liebte sie. Verstehst du, was in dieser einfachen Tatsache liegt: von einer Frau angeschaut zu werden, die man liebt? Alles andere war mir unwichtig, das schwöre ich dir. Darum bin ich hier.«

»Schon ziemlich lange; du erlaubst mir doch diese Feststellung?«

»Ich wollte es eigentlich vergessen. Lach nicht. Das Abenteuer war so entzückend gewesen, ich denke noch mit Rührung daran. Außerdem habe ich etwas schwache Nerven. Das Leben ist heutzutage so gehetzt. In gewissen Augenblicken muss man das, was man eine Kur der Zurückgezogenheit nennt, machen können. Dieser Ort ist der geeignetste, den es für Kuren dieser Art gibt. Man erlebt hier die Kur der Santé in vollem Ausmaß.«

»Arsène Lupin«, warf Ganimard ein, »du machst dich über mich lustig.«

»Ganimard«, versicherte Lupin, »wir haben heute Freitag. Nächsten Mittwoch rauche ich um vier Uhr nachmittags in der Rue Pergolèse meine Zigarre bei dir.«

»Ich erwarte dich.«

Sie drückten sich die Hände wie zwei gute Freunde, die sich nach ihrem wahren Wert schätzen, und der alte Kriminalbeamte wandte sich zur Tür.

»Ganimard!«

Er drehte sich um.

»Was ist los?«

»Ganimard, du vergisst deine Uhr.«

»Meine Uhr?«

»Ja, sie hat sich in meine Tasche verirrt.«

Er gab sie ihm unter Entschuldigungen zurück.

»Verzeih… eine schlechte Gewohnheit … Weil sie mir meine weggenommen haben, habe ich noch lange keinen Grund, dich deiner zu berauben. Umso mehr, als ich hier einen Chronometer habe, über den ich mich nicht beklagen kann und der meinen Bedürfnissen vollauf entspricht.«

Er zog aus der Schublade eine große goldene Uhr, kompakt und praktisch, die eine schwere Kette schmückte.

»Und die, aus welcher Tasche kommt die?« fragte Ganimard. Arsène Lupin untersuchte lässig die Initialen.

»J. B. … Wer zum Teufel kann das sein? Ah! Ja, ich erinnere mich: Jules Bouvier, mein Untersuchungsrichter, ein reizender Mensch.«

ARSÈNE LUPINS FLUCHT

Als Arsène Lupin seine Mahlzeit beendet und aus seiner Tasche eine prächtige Zigarre mit goldener Bauchbinde gezogen hatte, die er vergnügt musterte, wurde die Tür der Zelle geöffnet. Er hatte gerade noch Zeit, die Zigarre in die Schublade zu werfen und sich vom Tisch zu entfernen. Der Wärter trat ein und forderte ihn zum üblichen Spaziergang auf.

»Ich habe dich erwartet, mein lieber Freund«, rief Lupin, wie immer gut gelaunt.

Sie verließen den Raum. Kaum waren sie hinter der nächsten Ecke verschwunden, als zwei Männer in die Zelle drangen und sie sorgfältig durchsuchten. Der eine war Inspektor Dieuzy, der andere Inspektor Folenfant.

Man wollte endlich weiterkommen. Es bestand kein Zweifel: Arsène Lupin stand mit der Außenwelt in Verbindung und korrespondierte mit den Mitgliedern seiner Bande. Noch am Vortag hatte die Zeitung Le Grand Journal diese an ihren juristischen Mitarbeiter gerichteten Zeilen veröffentlicht:

»Sehr geehrter Herr!

In diesen Tagen erschien ein Artikel, in dem Sie über mich Äußerungen gemacht haben, die durch nichts gerechtfertigt sind. Einige Tage vor Eröffnung meines Prozesses werde ich Sie aufsuchen, um Rechenschaft dafür zu verlangen.

Hochachtungsvoll Arsène Lupin.«

Es war Arsène Lupins Handschrift. Also verschickte er Briefe. Also erhielt er welche. Also war es sicher, dass er die von ihm so arrogant angekündigte Flucht vorbereitete.

Die Lage war unhaltbar. Im Einverständnis mit dem Untersuchungsrichter begab sich der Chef des Sicherheitsdienstes, Herr Dudouis, persönlich in die Santé, um mit dem Gefängnisdirekter notwendige Maßnahmen zu beraten. Gleich nach seiner Ankunft schickte er zwei Männer in die Zelle des Häftlings.

Sie hoben jede einzelne Fliese hoch, zerlegten das Bett, taten alles, was in solchen Fällen unternommen wird, und entdeckten schließlich nichts. Sie wollten ihre Suche gerade aufgeben, als der Wärter herbeieilte und sagte:

»Die Schublade … sehen Sie in der Tischschublade nach. Als ich hereinkam, schien es mir, als stieße er sie zu.« Sie sahen nach, und Dieuzy rief aus:

»Bei Gott, dieses Mal haben wir ihn, unseren Kunden!«

Folenfant hielt ihn zurück.

»Halt, mein Kleiner, der Chef wird die Inventur machen.«

»Aber die Luxuszigarre …«

»Lass die Havanna, wir wollen den Chef benachrichtigen.«

Zwei Minuten später durchwühlte Herr Dudouis die Lade. Er fand zunächst ein Bündel Zeitungsartikel, die aus der Zeitung Argus de la Presse geschnitten waren und Arsène Lupin betrafen; weiter fand er einen Tabaksbeutel, eine Pfeife, sogenanntes »Zwiebelschalenpapier« (ein sehr dünnes, geschmeidiges weißes Papier) und schließlich zwei Bücher.

 

Er las die Titel. Es waren Der Kult der Helden von Carlyle, eine englische Ausgabe, und eine entzückende Elzevirausgabe des römischen Philosophen Epiktet mit zeitgemäßem Einband, eine deutsche Übersetzung, die im Jahre 1634 in Leiden erschienen war. Als er sie durchblätterte, stellte er fest, dass alle Seiten zerlesen, unterstrichen und mit Anmerkungen versehen waren. Handelte es sich um vereinbarte Zeichen oder hatte er sie nur aus Begeisterung für das Buch hineingeschrieben?

»Wir werden uns das noch näher ansehen«, sagte Herr Dudouis.

Er untersuchte den Tabaksbeutel und die Pfeife. Als er die prächtige Zigarre mit der goldenen Bauchbinde in die Hand nahm, rief er:

»Donnerwetter, er lebt gut, unser Freund, eine Henri Clay!«

Mit der mechanischen Bewegung des Rauchers hielt er sie an sein Ohr und ließ sie krachen. Im selben Augenblick entfuhr ihm ein unterdrückter Ausruf. Die Zigarre war unter dem Druck seiner Finger weich geworden. Er prüfte sie aufmerksam und erkannte sofort etwas Weißes zwischen den Tabakblättern. Mit einer Nadel zog er vorsichtig eine dünne Papierrolle heraus, die kaum die Größe eines Zahnstochers hatte. Es war ein Brief. Er rollte ihn auseinander und las diese mit der zierlichen Handschrift einer Frau geschriebenen Worte:

»Die Minna hat den Platz der anderen eingenommen. Acht von zehn sind vorbereitet. Wenn man mit der Fußkante dagegen stößt, hebt sich die Platte von unten nach oben. Von zwölf bis sechzehn jeden Tag. H-P wird warten. Aber wo? Sofortige Antwort. Seien Sie beruhigt, Ihre Freundin wacht über Sie.«

Herr Dudouis überlegte einen Augenblick.

»Das ist klar genug … die Minna … die acht Abteilungen … Von zwölf bis sechzehn, das heißt von mittags bis vier Uhr …«

»Aber dieser H-P, der wartet?«

»H-P muss hier die Bezeichnung für das Auto sein. H-P, ›horse power‹, bezeichnet man im Sportlerjargon nicht so die Kraft eines Motors? Ein vierundzwanzig H-P ist ein Auto mit vierundzwanzig Pferdestärken.«

Er erhob sich.

»Der Häftling war gerade mit dem Essen fertig?«

»Ja.«

»Und da er diese Nachricht noch nicht gelesen hat, wie der Zustand der Zigarre beweist, ist es wahrscheinlich, dass er sie eben erst erhalten hat.«

»Wie?«

»In seiner Nahrung, in einem Brot oder einer Kartoffel versteckt, was weiß ich!«

»Unmöglich, er hatte nur deswegen die Erlaubnis erhalten, sich sein Essen kommen zu lassen, weil wir ihm eine Falle stellen wollten, aber wir haben nichts gefunden.«

»Wir werden heute Abend Lupins Antwort suchen. Jetzt lassen Sie ihn nicht in seine Zelle. Ich will dieses dem Untersuchungsrichter bringen. Wenn er meiner Ansicht ist, lassen wir den Brief sofort fotokopieren, und in einer Stunde können Sie außer diesen Gegenständen eine gleiche Zigarre mit der Originalnachricht in die Schublade zurücklegen. Der Häftling darf nichts ahnen.«

Ziemlich neugierig kehrte Herr Dudouis in Begleitung des Inspektors Dieuzy am Abend in die Kanzleistube der Santé zurück. Auf einem Ofen in der Ecke standen drei Teller.

»Hat er gegessen?«

»Ja«, antwortete ihm der Direktor.

»Dieuzy, schneiden Sie diese Makkaronireste in ganz dünne Streifen und öffnen Sie den Brocken Brot … Nichts?«

»Nein, Chef.«

Herr Dudouis untersuchte die Teller, die Gabel, den Löffel, schließlich das Messer, ein vorschriftsmäßiges Messer mit runder Klinge. Er drehte den Knauf nach links, dann nach rechts. Bei der rechten Drehung gab er nach und ließ sich losschrauben. Das Messer war hohl und diente einem Blatt Papier als Versteck.

»Pah! Für einen Mann wie Arsène ist das nicht sehr gewitzt. Aber wir wollen keine Zeit verlieren. Sie, Dieuzy, werden jetzt in dem Restaurant Ermittlungen anstellen.«

Dann las er:

»Ich verlasse mich auf Sie, H-P soll von Weitem folgen, jeden Tag. Ich werde vorausgehen. Bis bald, liebe und bewundernswerte Freundin.«

»Endlich!« rief Dudouis und rieb sich die Hände. »Ich glaube, die Sache ist gut im Zuge. Ein kleiner Handschlag von unserer Seite, und die Flucht gelingt … jedenfalls so weit, dass wir die Komplizen schnappen können.«

»Und wenn Ihnen Arsène Lupin unter den Händen entwischt?« warf der Direktor ein.

»Wir werden mit der nötigen Anzahl Männer ans Werk gehen. Wenn er jedoch zu geschickt ist … tja, dann hat er Pech gehabt! Wenn sich der Chef zu sprechen weigert, werden sicher die anderen der Bande reden.«

Tatsächlich sprach Arsène Lupin nicht viel. Seit Monaten bemühte sich Herr Jules Bouvier, der Untersuchungsrichter, vergeblich, etwas aus ihm herauszubekommen. Die Verhöre beschränkten sich auf uninteressante Unterredungen zwischen dem Richter und dem Anwalt Danval, einem der Stars seines Berufes, der über den Angeklagten übrigens fast nicht mehr wusste als irgendein Unbeteiligter.

Von Zeit zu Zeit ließ sich Arsène Lupin höflich herab:

»Aber ja, Herr Untersuchungsrichter, wir sind uns einig: Der Diebstahl in der Lyoner Kreditbank, der Diebstahl in der Rue de Babylone, die Ausstellung falscher Banknoten, die Affäre mit den Versicherungspolicen, der Einbruch in den Schlössern von Armesnil, Gouret, Imblevain, Groselliers, Malaquis, für das alles stehe ich zu Ihren Diensten.«

»Könnten Sie mir also erklären …«

»Unnötig, ich gebe alles zusammen zu, alles, und sogar zehnmal mehr, als Sie ahnen.«

Des Kampfes müde hatte der Richter diese langweiligen Verhöre aufgegeben. Als er von den beiden Briefen erfuhr, nahm er sie wieder auf. Und regelmäßig wurde Arsène Lupin mittags in einem Gefängniswagen mit noch anderen Häftlingen von der Santé ins Polizeigebäude gefahren. Um drei oder vier Uhr wurden sie zurückgebracht.

Doch eines Nachmittags verlief diese Rückkehr anders als gewöhnlich. Da die anderen Häftlinge der Santé noch nicht verhört worden waren, beschloss man, zunächst Arsène Lupin zurückzubringen. Er stieg also allein in den Wagen.

Diese Gefängniswagen, die in der Volkssprache auch »Grüne Minna« genannt werden, sind durch einen schmalen Gang in der Mitte geteilt, sie enthalten zehn Abteilungen: fünf auf der rechten und fünf auf der linken Seite. Jede dieser kleinen Zellen ist so angelegt, dass man in ihnen gerade sitzen kann und die fünf Gefangenen durch parallel laufende Scheidewände voneinander getrennt sind. Ein am äußersten Ende sitzender Wärter beobachtet den Gang.

Arsène wurde in die dritte Zelle auf der rechten Seite gebracht, und das schwere Auto fuhr los. Er stellte fest, dass sie den Quai de l‘Horloge verließen und am Palais de Justice vorbeikamen. Auf der Mitte der Brücke Saint-Michel stieß er wie jeden Tag mit dem rechten Fuß an die Blechplatte, die seine Zelle verschloss. Sofort klinkte etwas auf, die Platte verschob sich unmerklich. Er konnte feststellen, dass er sich genau zwischen den Rädern befand.

Er wartete lauernd. Der Wagen kletterte im Schritttempo den Boulevard Saint-Michel hinauf. An der Kreuzung Saint-Germain hielt er an. Das Pferd eines Lastkarrens war auf dem Pflaster zusammengebrochen. Durch die Unterbrechung des Verkehrs entstand in Sekundenschnelle ein Durcheinander von Droschken und Omnibussen.

Arsène Lupin streckte den Kopf heraus. Ein anderer Gefängniswagen stand neben seinem. Er richtete sich wieder auf, stieg mit dem Fuß auf eine Speiche des Rades und sprang zur Erde.

Ein Kutscher sah ihn, lachte laut und wollte rufen. Aber seine Stimme ging in dem Lärm der wieder anfahrenden Wagen unter. Außerdem war Arsène Lupin schon weit.

Er war einige Schritte gelaufen; auf dem linken Bürgersteig drehte er sich um, warf einen kurzen Blick um sich und schien Witterung aufzunehmen wie jemand, der noch nicht genau weiß, in welche Richtung er sich wenden soll. Dann hatte er einen Entschluss gefasst, steckte die Hände in die Hosentaschen und ging mit der sorglosen Miene eines Müßiggängers den Boulevard hinauf.

Das Wetter war lau, ein schönes, warmes Herbstwetter. Die Cafés waren voll. Er setzte sich auf eine Terrasse und bestellte ein Bockbier und ein Paket Zigaretten. In kleinen Schlucken leerte er sein Glas, rauchte ruhig eine Zigarette, steckte eine zweite an. Schließlich stand er auf und bat den Kellner, den Inhaber zu holen.

Als dieser kam, sagte Arsène Lupin so laut, dass alle ihn hörten: »Es tut mir leid, mein Herr, ich habe mein Portemonnaie vergessen. Vielleicht ist mein Name Ihnen so bekannt, dass Sie mir auf einige Tage Kredit geben: Mein Name ist Arsène Lupin.« Der Inhaber sah ihn an und glaubte an einen Scherz. Aber Arsène wiederholte:

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