Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner

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Und die überwältigende Minute kam. Wenn ich hundert Jahre leben sollte, so werde ich keine Einzelheit vergessen.

»Wie bleich Sie sind, Miss Nelly«, sagte ich zu meiner Gefährtin, die sich halb ohnmächtig auf meinen Arm stützte.

»Und Sie!« antwortete sie mir. »Oh! Sie sind so verändert!«

»Bedenken Sie doch! Diese Minute ist so ergreifend, und ich bin glücklich, sie an Ihrer Seite zu erleben, Miss Nelly. Ich glaube, dass Ihre Erinnerung manchmal bei diesem Augenblick …«

Sie, aufgeregt und fiebrig nervös, wie sie war, hörte nicht zu. Die Gangway wurde heruntergelassen. Bevor wir die Erlaubnis bekamen, sie zu überschreiten, stiegen Leute an Bord, Zollbeamte, Männer in Uniform, Briefträger.

Miss Nelly stammelte:

»Wenn man feststellt, dass Arsène Lupin während der Überfahrt geflohen ist, wäre ich nicht erstaunt.«

»Vielleicht hat er den Tod der Schmach vorgezogen und sich lieber in den Atlantik gestürzt, als verhaftet zu werden.«

»Spotten Sie nicht«, sagte sie ärgerlich.

Plötzlich fuhr ich zusammen; auf ihre Frage antwortete ich: »Sehen Sie dort den kleinen alten Mann am Ende der Gangway stehen?«

»Mit einem Regenschirm und einem olivgrünen Gehrock?«

»Das ist Ganimard.«

»Ganimard?«

»Ja, der berühmte Kriminalbeamte, der geschworen hat, dass Arsène Lupin durch ihn verhaftet wird. Oh, jetzt verstehe ich, warum man von dieser Seite des Ozeans keine Auskünfte bekommen hat. Ganimard war dort. Er mag es nicht, wenn sich jemand um seine Angelegenheiten kümmert.«

»Also ist es sicher, dass Arsène Lupin gefasst wird?«

»Wer weiß? Es scheint, dass Ganimard ihn niemals anders als verstellt und verkleidet gesehen hat. Falls er nicht seinen Pseudonamen kennt …«

»Oh«, sagte sie mit jener ein wenig grausamen Neugier der Frau, »wenn ich doch bei der Verhaftung dabei sein könnte.«

»Fassen wir uns in Geduld. Sicher hat Arsène Lupin die Anwesenheit seines Feindes schon bemerkt. Er wird es wohl vorziehen, unter den Letzten an Land zu gehen, wenn die Augen des Alten müde sind.«

Die Passagiere begannen, das Schiff zu verlassen. Auf seinen Regenschirm gestützt, mit gleichgültigem Gesicht, schien Ganimard nicht auf die Menge zu achten, die sich zwischen den beiden Geländern drängte. Ich bemerkte, dass ihm ein Offizier des Schiffes, der hinter ihm stand, von Zeit zu Zeit Auskünfte gab.

Der Marquis de Raverdan, der Major Rawson, der Italiener Rivolto zogen vorbei und andere, viele andere … Und ich bemerkte Rozaine, der sich näherte.

Armer Rozaine! Er schien sich von seinen Missgeschicken noch nicht erholt zu haben!

»Er ist es vielleicht trotzdem«, sagte Miss Nelly zu mir. »Was glauben Sie?«

»Ich finde, dass es sehr interessant wäre, Ganimard und Rozaine auf derselben Fotografie zu haben. Nehmen Sie doch meinen Apparat, ich bin so bepackt.«

Ich gab ihr die Kodak, aber es war schon zu spät. Rozaine kam näher. Der Offizier beugte sich zu Ganimards Ohr, dieser zuckte leicht mit den Schultern, und Rozaine ging vorbei.

Aber mein Gott, wer war jetzt Arsène Lupin?

»Ja«, sagte sie laut, »wer ist es?«

Nur etwa zwanzig Personen waren noch an Deck. Sie starrte der Reihe nach auf sie mit der irren Angst, dass nicht ausgerechnet er, der Gesuchte, unter diesen letzten zwanzig Personen wäre. Ich sagte zu ihr:

»Wir können nicht länger warten.«

Sie schritt voran. Ich folgte ihr. Aber wir hatten noch keine zehn Schritte getan, als Ganimard uns den Weg versperrte.

»Was ist los?« rief ich.

»Einen Augenblick, mein Herr, wer drängt Sie zur Eile?«

»Ich begleite Mademoiselle.«

»Einen Augenblick!« wiederholte er energisch.

Er sah mich scharf an und sagte, den Blick auf mein Gesicht geheftet:

»Arsène Lupin, nicht wahr?«

Ich begann zu lachen.

»Nein, ganz einfach Bernard d’Andrézy.«

»Bernard d’Andrézy ist vor drei Jahren in Mazedonien gestorben.«

»Wenn Bernard d’Andrézy tot wäre, wäre ich nicht mehr auf dieser Welt. Und das ist nicht der Fall. Hier sind meine Papiere.«

»Sie gehörten ihm. Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen zu erklären, woher Sie sie haben.«

»Sie sind ja verrückt. Arsène Lupin hat sich unter dem Namen R eingeschifft.«

»Ja, auch so eine List von Ihnen, eine falsche Fährte, auf die Sie die drüben geführt haben. Oh, Sie sind hübsch stark, mein Lieber, aber dieses Mal hat sich das Blatt gewendet. Also, Lupin, sei ein guter Verlierer.«

Ich zögerte eine Sekunde. Mit einem kurzen Schlag traf er mich auf den rechten Unterarm. Ich stieß einen Schmerzensschrei aus. Er hatte auf die noch schlecht verheilte Verletzung geschlagen, die das Telegramm angekündigt hatte.

Ich musste aufgeben. Ich drehte mich zu Miss Nelly. Fahl und wankend verfolgte sie das Gespräch.

Unsere Blicke trafen sich, dann senkten sich ihre Augen auf die Kodak, die ich ihr gegeben hatte. Sie machte eine plötzliche Bewegung, und ich hatte den Eindruck, ich hatte sogar die Gewissheit, dass sie plötzlich verstand. Ja, dort zwischen den engen Wänden aus schwarzem Chagrinleder, in der Vertiefung des kleinen Apparates, den ich ihr vorsichtshalber in die Hände gespielt hatte, bevor Ganimard mich verhaftete, dort befanden sich die zwanzigtausend Francs von Rozaine, die Perlen und Diamanten der Lady Jerland.

Oh, ich beschwöre es, in diesem feierlichen Augenblick, während Ganimard und zwei seiner Helfer mich umringten, war mir alles gleichgültig, meine Verhaftung, die Feindschaft der Leute, alles, außer dem einen: die Entscheidung, die Miss Nelly bezüglich dessen, was ich ihr anvertraut hatte, treffen würde.

Ich fürchtete mich nicht vor diesem materiellen und entscheidenden Beweis gegen mich, aber ich hatte Angst davor, dass sich Miss Nelly entschließen würde, diesen Beweis zu liefern.

Würde sie mich verraten? Ich durch sie verloren sein? Würde sie als Feindin handeln, die nicht verzeiht, oder als Frau, die sich erinnert und deren Verachtung durch ein wenig Nachsicht, ein wenig unfreiwillige Sympathie gemildert wird?

Sie ging an mir vorbei. Ich grüßte sie tief, wortlos. Inmitten der anderen Reisenden ging sie zur Gangway, meine Kodak in der Hand.

Ohne Zweifel, dachte ich, traut sie sich nicht, in der Öffentlichkeit zu handeln. In einer Stunde, in einem Augenblick wird sie den Beweis vorlegen.

Aber als sie auf der Mitte der Gangway angekommen war, ließ sie den Apparat durch eine scheinbar ungeschickte Bewegung zwischen die Kaimauer und die Bordwand ins Wasser fallen. Dann sah ich, wie sie davonging.

Ihre schöne Silhouette verlor sich in der Menge, erschien von Neuem und verschwand. Es war zu Ende, für immer zu Ende.

Einen Augenblick blieb ich unbeweglich, zugleich traurig und gepackt von einer sanften Rührung, dann seufzte ich zum höchsten Erstaunen Ganimards:

»Trotz allem schade, dass man kein ehrlicher Mensch ist …«

So erzählte mir an einem Winterabend Arsène Lupin die Geschichte seiner Verhaftung. Der Zufall von Zwischenfällen, die ich in einigen Tagen aufschreiben werde, hatte zwischen uns Bande – soll ich sagen der Freundschaft geknüpft. Ja, ich wage zu glauben, dass Arsène Lupin mich mit ein wenig Freundschaft auszeichnete, und aus Freundschaft kommt er manchmal unvorhergesehen zu mir und bringt in die Stille meines Arbeitszimmers seine jugendliche Ausgelassenheit, die Ausstrahlung eines abenteuerlichen Lebens, seine heitere Menschenlaune, für die das Schicksal nur Gunstbezeigungen und Lächeln hat.

Sein Porträt? Wie könnte ich es wiedergeben? Zwanzigmal habe ich Arsène Lupin gesehen, und zwanzigmal ist mir ein anderes Wesen erschienen … oder eher dasselbe Wesen, von dem zwanzig Spiegel mir ebenso viele verschiedene Bilder wiedergaben, jedes hatte seine besonderen Augen, seine spezielle Gesichtsform, seine eigenen Gesten, seine Gestalt und seinen Charakter.

»Ich selbst«, sagte er zu mir, »weiß nicht mehr genau, wer ich bin. Nicht einmal in einem Spiegel erkenne ich mich.«

Sicher war es sein paradoxer Einfallsreichtum, aber tatsächlich war er für die, die ihm begegnet sind und seine unerschöpflichen Hilfsmittel nicht kannten, seine Ausdauer, seine Kunst des Schminkens, seine wunderbare Fähigkeit, sogar die Proportionen seines Gesichts zu verändern und dessen Züge zu verstellen, jedes Mal ein völlig anderer Mensch.

»Warum«, fügte er hinzu, »soll ich eine bestimmte Erscheinung haben? Warum soll ich nicht diese Gefahr einer immer identischen Persönlichkeit vermeiden? Meine Taten zeichnen mich ausreichend.«

Und mit einem Funken Stolz sagte er:

»Umso besser, wenn man niemals mit völliger Sicherheit sagen kann: Dies ist Arsène Lupin! Die Hauptsache ist, dass man ohne Furcht vor einem Irrtum sagt: Arsène Lupin hat das getan.«

Nach seinen vertraulichen Mitteilungen will ich versuchen, einige seiner Taten und Abenteuer wiederzugeben, so, wie er sie mir an langen Winterabenden in der Stille meines Arbeitszimmers freundschaftlich erzählte.

ARSÈNE LUPIN IM GEFÄNGNIS

Jeder gute Pariser Wanderer kennt die Ufer der Seine, und sicher ist jedem auf dem Weg von den Ruinen von Jumièges zu den Ruinen von Saint-Wandrille das seltsame kleine Feudalschloss des Malaquis aufgefallen, das so stolz auf seinem Felsen inmitten des Flusses steht. Eine Bogenbrücke verbindet es mit der Straße. Das Fundament seiner düsteren Türme verschwimmt mit dem Granit der Insel, einem gewaltigen Felsbrocken, von dem man nicht weiß, von welchem Gebirge er sich gelöst hat, und der durch irgendeinen großen Erdrutsch dorthin geworfen sein muss. Rundherum plätschert das ruhige Wasser des großen Flusses im Schilf, und Bachstelzen stolzieren auf den feuchten Steinen.

 

Die Geschichte des Malaquis ist ebenso düster wie sein Name, ebenso unfreundlich wie seine Silhouette. Hier gab es stets nur Kämpfe, Belagerungen, Bestürmungen, Plünderungen und Gemetzel. In den Spinnstuben der Landschaft Caux erzählt man mit prickelndem Grauen die Verbrechen, die hier begangen wurden. Da gibt es geheimnisvolle Legenden; man erinnert sich an den berühmten unterirdischen Gang, der einstmals zur Abtei von Jumièges und zur Burg der Agnès Sorel, der schönen Freundin Karls VII., führte.

In diesem alten Schlupfwinkel der Helden und Strauchdiebe wohnt der Baron Nathan Cahorn, der Baron Satan, wie man ihn früher an der Börse nannte, an der er sich zu plötzlich bereichert hatte. Die Herren von Malaquis, ruiniert wie sie waren, haben ihm für ein Butterbrot das Schloss ihrer Vorfahren verkaufen müssen. Dort hat er seine wunderbaren Sammlungen von alten Möbeln und Gemälden, Steingut und Schnitzereien untergebracht. Der Baron lebt allein in dem Schloss mit drei alten Dienstboten. Niemand hat es jemals betreten. Niemand hat jemals die Ausstattung dieser antiken Säle, die drei Rubens, die beiden Watteaus, seinen Stuhl von Jean Goujon und alle anderen Kostbarkeiten gesehen, die er den reichsten Stammkunden auf den Versteigerungen durch Überbieten entrissen hat.

Baron Satan hat Angst. Er hat nicht nur um seiner selbst willen Angst, sondern auch wegen seiner Schätze, die er mit zäher Leidenschaft und dem Scharfsinn eines Liebhabers gesammelt hat, dass sich die gewieftesten Händler nicht rühmen können, ihn betrogen zu haben. Er liebt sie. Er liebt sie so gierig wie ein Geizhals, so eifersüchtig wie ein Verliebter.

Jeden Tag bei Sonnenuntergang werden die vier eisengeschmiedeten Pforten, die sich am äußersten Ende der Brücke und am Eingang zum Schlosshof befinden, geschlossen und verriegelt. Bei der geringsten Berührung schrillt eine Alarmglocke durch die Stille. Von der Wasserseite der Seine her ist nichts zu befürchten, denn dort ragt der Felsen steil in die Luft.

An einem Freitag im September erschien der Briefträger wie gewöhnlich am anderen Ende der Brücke. Und wie jeden Tag öffnete der Baron den schweren Türflügel nur einen Spalt.

Er sah den Mann so genau an, als kenne er dieses gute, heitere Gesicht mit seiner Bauernschläue in den Augen nicht schon seit Jahren.

Der Mann lachte:

»Ich bin es immer noch, Herr Baron. Ich bin kein anderer, der vielleicht meinen Kittel und meine Mütze angezogen hat.«

»Kann man es wissen?« murmelte der Baron.

Der Briefträger gab ihm einen Stapel Zeitungen. Dann fügte er hinzu:

»Und jetzt, Herr Baron, habe ich eine Neuigkeit für Sie.«

»Eine Neuigkeit?«

»Einen Brief … und noch dazu einen eingeschriebenen.«

Einsam, ohne Freunde, ohne einen Menschen, der sich um ihn kümmerte, bekam der Baron niemals Briefe. Sofort erschien ihm dieser als das schlechte Vorzeichen irgendeines kommenden Ereignisses, über das sich zu beunruhigen er allen Grund hatte. Wer war dieser geheimnisvolle Schreiber, der ihn in seiner Ruhe störte?

»Sie müssen unterschreiben, Herr Baron.«

Leise fluchend unterschrieb er. Dann nahm er den Brief, wartete, bis der Briefträger hinter der Wegbiegung verschwunden war, und nachdem er einige Male auf und ab gegangen war, trat er hinter die Brüstung der Brücke und riss den Umschlag auf. Er enthielt ein quadriertes Blatt Papier mit dem handgeschriebenen Briefkopf: Gefängnis de la Santé, Paris. Er sah auf die Unterschrift: Arsène Lupin. Verstört las er:

»Sehr geehrter Baron Cahorn!

In dem Korridor, der Ihre beiden Säle miteinander verbindet, hängt ein Bildnis Philippes de Champaigne von ausgezeichneter Qualität, das mir sehr gefällt. Ihre Rubens sind auch nach meinem Geschmack, ebenso wie auch Ihr kleinerer Watteau. In dem rechten Saal weiß ich von dem Kredenztisch Ludwigs XIII., den Wandteppichen von Beauvais, dem kaiserlichen Leuchtertisch, mit ›Jacob‹ signiert, und der Renaissance-Truhe. In dem Saal auf der linken Seite finde ich die Vitrine mit den Schmuckstücken und den Miniaturen.

Dieses Mal werde ich mich mit den Gegenständen zufriedengeben, die, wie ich glaube, leicht zu verkaufen sind. Ich möchte Sie darum bitten, sie entsprechend zu verpacken und portofrei innerhalb von acht Tagen auf meinen Namen zum Bahnhof Batignolles zu schaffen. Sollten Sie meiner Bitte nicht nachkommen, werde ich selbst in der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag, dem 28. September, ihren Abtransport vornehmen. Und dann werde ich mich nicht – Gerechtigkeit muss sein – nur mit den oben erwähnten Gegenständen zufriedengeben.

Bitte entschuldigen Sie die kleine Störung.

Hochachtungsvoll Arsène Lupin

PS. – Bitte schicken Sie auf keinen Fall den größeren der beiden Watteaus. Obgleich Sie für ihn bei der Versteigerung dreißigtausend Francs bezahlt haben, ist es nur eine Kopie, das Original wurde unter dem Direktorium von Barras an einem Orgienabend verbrannt. Prüfen Sie diese Angabe in den noch nicht erschienenen Memoiren von Garat nach.

Ich lege auch keinen Wert auf die Gürtelkette Ludwigs XV., deren Echtheit mir fragwürdig erscheint.«

Dieser Brief erschütterte Baron Cahorn. Hätte ein anderer ihn unterschrieben, hätte er sich schon beträchtlich beunruhigt, aber Arsène Lupin!

Als eifriger Zeitungsleser und somit auf dem Laufenden über dies, was sich in der Welt an Diebstählen und Verbrechen zutrug, kannte er alle Heldentaten des verteufelten Einbrechers. Natürlich wusste er, dass Lupin in Amerika von seinem Feind Ganimard verhaftet und hinter Schloss und Riegel gesetzt worden war und dass man – mit welcher Mühe! – seinen Prozess vorbereitete. Aber er wusste auch, dass man bei ihm auf alles gefasst sein musste. Außerdem war diese genaue Kenntnis des Schlosses, der Plätze der Gemälde und Möbel eine furchtbare Bedrohung. Wer hatte ihn über diese Dinge unterrichtet, die doch niemand je gesehen hatte?

Der Baron hob den Blick und betrachtete die schroffe Silhouette des Malaquis, seinen abschüssigen Sockel, das tiefe Wasser, das ihn umgab, und zuckte mit den Schultern. Nein, es bestand ganz entschieden keine Gefahr. Kein Mensch auf der Welt konnte bis zum unantastbaren Heiligtum seiner Sammlungen vordringen.

Niemand, gut, aber Arsène Lupin? Gibt es für Arsène Lupin Türen, Zugbrücken, Mauern? Wozu dienen die so kunstvoll eingerichteten Hindernisse, die geschicktesten Vorsichtsmaßnahmen, wenn Arsène Lupin beschlossen hat, das Ziel zu erreichen?

Am gleichen Abend noch schrieb Baron Cahorn an den Staatsanwalt von Rouen. Er legte den Drohbrief bei und forderte Schutz und Hilfe.

Die Antwort ließ nicht auf sich warten: Da der besagte Arsène Lupin gegenwärtig in der Santé festgehalten und sorgfältig überwacht wurde und somit nicht in der Lage war, Briefe zu schreiben, konnte dieser Brief nur das Werk eines Spaßvogels sein. Alles bewies diese Annahme, die Logik, der gesunde Menschenverstand und auch die Tatsachen selbst. Vorsichtshalber hatte man jedoch einen Sachverständigen beauftragt, die Handschrift zu begutachten. Dieser hatte erklärt, dass diese Schrift trotz gewisser Ähnlichkeiten nicht die des Häftlings sei.

»Trotz gewisser Ähnlichkeiten«; der Baron behielt nur diese drei bestürzenden Worte, in denen er das Zugeständnis eines Zweifels sah, der allein hätte genügen müssen, damit das Gericht eingriff. Seine Befürchtungen steigerten sich. Immer wieder las er den Brief. »Ich werde selbst den Abtransport vornehmen.« Und dieses genaue Datum: »in der Nacht vom Mittwoch, dem 27., zum Donnerstag, dem 28. September …« Argwöhnisch und schweigsam, wie er war, wagte der Baron es nicht, sich seinen Dienstboten anzuvertrauen, deren Ergebenheit ihm nicht über jeden Verdacht erhaben schien. Doch fühlte er zum ersten Mal seit Jahren das Bedürfnis, sich auszusprechen, sich einen Rat zu holen. Von dem Gericht seines Landes im Stich gelassen, glaubte er nicht mehr daran, sich mit seinen eigenen Mitteln verteidigen zu können; so stand er kurz vor dem Entschluss, nach Paris zu fahren und einige alte Kriminalbeamte um ihre Hilfe zu bitten.

Zwei Tage vergingen. Als er am dritten Tag die Zeitungen las, zitterte er vor Freude. Die Zeitung Réveil de Caudebec veröffentlichte eine Kurznotiz:

»Wir haben die Ehre und Freude, seit fast drei Wochen den Chefinspektor Ganimard, einen der Veteranen des Sicherheitsdienstes, in unseren Mauern beherbergen zu dürfen. Herr Ganimard, dem die Verhaftung Arsène Lupins, seine letzte Heldentat, die Anerkennung ganz Europas eingetragen hat, erholt sich von seinen langen Strapazen beim Fischen von Gründlingen und Barschen.«

Ganimard! Das war genau die richtige Hilfe, die Baron Cahorn suchte! Wer könnte Lupins Pläne besser vereiteln als der listige und beharrliche Ganimard?

Der Baron zögerte keine Minute. Sechs Kilometer trennen das Schloss von der kleinen Stadt Caudebec. Er durchquerte sie leichten Schrittes wie ein Mensch, den die Hoffnung auf Rettung beflügelt.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen, die Adresse des Chefinspektors zu erfahren, wandte er sich an das Büro der Réveil, das sich an der Uferstraße der Seine befand. Dort fand er den Verfasser der Kurznotiz, der, während er zum Fenster ging, sagte: »Ganimard? Sie treffen ihn bestimmt auf der Uferstraße mit der Angel in der Hand. Dort haben wir uns kennengelernt und dort habe ich auch zufällig seinen in die Angelrute eingravierten Namen gelesen. Sehen Sie, es ist der kleine Alte, der dort unter den Bäumen auf der Promenade sitzt.«

»Der mit dem Gehrock und dem Strohhut?«

»Genau! Er ist ein komischer Alter, schweigsam, fast griesgrämig.«

Fünf Minuten später sprach der Baron den berühmten Ganimard an, stellte sich vor und versuchte, eine Unterhaltung einzuleiten. Als ihm das nicht gelang, ging er geradewegs auf sein Ziel zu und legte ihm seinen Fall auseinander.

Der andere hörte unbeweglich zu, ohne den Fisch, den er erspähte, aus den Augen zu lassen, dann wandte er ihm den Kopf zu, maß ihn voll Mitleid von oben bis unten und sagte:

»Mein Herr, es ist ungewöhnlich, die Leute, die man ausrauben will, zu benachrichtigen. Besonders Arsène Lupin begeht keine derartigen Aufschneidereien.«

»Trotzdem …«

»Mein Herr, wenn ich den geringsten Zweifel hätte, können Sie mir glauben, dass das Vergnügen, diesen lieben Lupin noch einmal ins Kittchen zu bringen, jede weitere Überlegung nichtig machen würde. Leider ist der junge Mann schon hinter Schloss und Riegel.«

»Wenn er flüchtet?«

»Man flüchtet nicht aus der Santé.«

»Aber er …«

»Er nicht mehr als ein anderer.«

»Trotzdem …«

»Also gut, wenn er ausbricht, umso besser, ich erwische ihn wieder. Inzwischen schlafen Sie ruhig und verscheuchen Sie mir nicht diesen Barsch.«

Die Unterhaltung war beendet. Der Baron kehrte durch die Sorglosigkeit Ganimards etwas beruhigt nach Hause zurück. Er prüfte die Schlösser, belauerte die Dienstboten. So vergingen achtundvierzig Stunden, während derer er fast zu der Überzeugung gelangte, dass im Ganzen gesehen seine Befürchtungen Hirngespinste waren. Nein, Ganimard hatte recht, man warnt bestimmt nicht die Leute, die man berauben will.

Der Zeitpunkt rückte näher. Am Dienstagmorgen, dem Vortag des 27., geschah nichts Besonderes. Aber um drei Uhr klingelte ein kleiner Junge. Er brachte ein Telegramm.

»Kein Paket im Bahnhof von Batignolles. Bereiten Sie alles für morgen Abend vor.

Arsène.«

Von Neuem wurde der Baron kopflos; er war jetzt so weit, dass er sich schon überlegte, ob er den Forderungen Arsène Lupins nicht doch nachkommen sollte.

Er lief nach Caudebec. Ganimard saß auf einem Klappstuhl an derselben Stelle und fischte. Wortlos reichte ihm der Baron das Telegramm.

»Ja, und?« fragte der Inspektor.

»Und? Aber morgen soll es passieren.«

»Was?«

»Der Einbruch! Der Diebstahl meiner Sammlungen!«

Ganimard legte seine Angel zur Seite, drehte sich zu ihm um, verschränkte die Arme auf der Brust und rief ungeduldig:

»Das ist herrlich! Glauben Sie, dass ich mich um eine so hirnverbrannte Geschichte kümmern werde?«

»Was verlangen Sie, wenn Sie die Nacht vom 27. zum 28. September im Schloss verbringen?«

»Überhaupt nichts, lassen Sie mich in Ruhe!«

»Nennen Sie einen Preis, ich bin reich, ungeheuer reich.«

Das offene Angebot verwirrte Ganimard, der jetzt, ruhiger geworden, antwortete:

 

»Ich bin hier in Urlaub, und ich habe nicht das Recht, mich in Dinge einzumischen …«

»Niemand wird es erfahren. Ich verpflichte mich, was auch geschieht, über alles zu schweigen.«

»Oh, es wird nichts geschehen.«

»Also gut, dreitausend Francs, ist das genug?«

Der Inspektor schnupfte eine Prise Tabak, überlegte und sagte schließlich:

»Gut. Nur muss ich Ihnen offen gestehen, dass das Geld zum Fenster hinausgeworfen ist.«

»Das ist mir gleichgültig.«

»In diesem Fall … Und außerdem, nach allem, weiß man, woran man mit diesem Teufel Lupin ist? Er muss eine ganze Bande zur Verfügung haben. Können Sie Ihren Dienstboten trauen?«

»Mein Gott …«

»Zählen wir also nicht auf sie. Ich werde zwei meiner jungen Freunde telegrafisch benachrichtigen, die uns besser helfen können. Und jetzt verschwinden Sie, damit man uns nicht zusammen sieht. Bis morgen, gegen neun Uhr.«

Am nächsten Tag, den Arsène Lupin bestimmt hatte, nahm Baron Cahorn seine Waffen von der Wand, putzte sie und machte einen Spaziergang durch die Umgebung des Malaquis. Ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf.

Um halb neun Uhr abends entließ er seine Dienstboten. Sie bewohnten einen Flügel, der auf die Straße ging, der aber etwas zurück und ganz am Ende des Schlosses lag. Als er allein war, öffnete er vorsichtig die vier Pforten. Kurz darauf hörte er näher kommende Schritte.

Ganimard stellte seine beiden Gehilfen vor, große, starke Burschen mit Stiernacken und kräftigen Händen; dann bat er um einige Erklärungen. Nachdem er die Lage der Wohnung untersucht hatte, verschloss und verrammelte er sorgfältig alle Zugänge, durch die man in die bedrohten Säle gelangen konnte. Er untersuchte die Mauern, lüftete die Wandteppiche und stellte schließlich seine Gehilfen im Hauptkorridor auf.

»Keine Dummheiten, he? Wir sind nicht zum Schlafen hier. Bei dem geringsten Geräusch öffnet ihr die Fenster zum Hof und ruft mich. Achtet auch auf die Wasserseite. Teufel von seinem Kaliber schrecken nicht vor einem zehn Meter hohen steilen Abhang zurück.«

Er schloss sie ein, nahm die Schlüssel mit und sagte zum Baron: »Und jetzt gehen wir auf unsere Plätze.«

Er hatte für die Nacht einen kleinen Raum gewählt, der in die Ringmauern zwischen den beiden Hauptpforten eingebaut war und der früher dem Wächter als Unterkunft diente. Ein Guckloch gab den Blick zur Brücke, ein weiteres den zum Hof frei. In einem Winkel war die Öffnung eines Brunnens.

»Sie haben behauptet, Herr Baron, dass dieser Brunnen der einzige Zugang zu den Festungsgewölben war und dass er seit Menschengedenken zugemauert ist.«

»Ja.«

»Wenn kein anderer uns allen unbekannter Eingang existiert, von dem nur Arsène Lupin weiß, was etwas unwahrscheinlich sein dürfte, können wir also beruhigt sein.«

Er stellte drei Stühle in eine Reihe, ließ sich bequem darauf nieder, zündete seine Pfeife an und seufzte:

»Wirklich, Herr Baron, ich musste schon große Lust haben, mein Häuschen, in dem ich meine Tage beenden will, um eine Etage aufzustocken, um einen so lächerlichen Auftrag anzunehmen. Wenn ich die Geschichte Freund Lupin erzähle, wird er sich die Seiten vor Lachen halten.«

Der Baron lachte nicht. Die Ohren gespitzt, horchte er mit wachsender Unruhe in die Stille. Von Zeit zu Zeit beugte er sich über den Brunnen und warf einen angstvollen Blick in das gähnende Loch.

Es schlug elf Uhr, Mitternacht, ein Uhr.

Plötzlich packte er Ganimard, der erschreckt aufwachte, am Arm.

»Hören Sie?«

»Ja.«

»Was ist das?«

»Das bin ich, ich schnarche.«

»Aber nein, hören Sie doch …«

»Ah, tatsächlich, es ist die Hupe eines Autos.«

»Und?«

»Und nichts! Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Lupin wie ein Mauerbrecher ein Auto benutzt, um Ihr Schloss zu zerstören. Darum, Herr Baron, zurück auf Ihren Platz. Sie sollten schlafen, wie ich die Ehre habe, es wieder zu tun. Gute Nacht.« Das blieb das einzige Geräusch. Ganimard nahm seinen unterbrochenen Schlaf wieder auf, und der Baron hörte nur noch sein tiefes, regelmäßiges Schnarchen.

Beim Morgengrauen verließen sie ihre Zelle. Ein großer, tiefer Friede, der Friede des Morgens am Ufer des frischen Wassers umgab das Schloss. Cahorn, außer sich vor Freude, und Ganimard, wie immer ruhig und bedächtig, stiegen die Treppe hinauf. Kein Geräusch. Nichts Verdächtiges.

»Was habe ich Ihnen gesagt, Herr Baron? Im Grunde hätte ich nicht annehmen sollen. Ich bin beschämt.«

Er zog die Schlüssel hervor und betrat den Korridor. Zusammengekrümmt auf zwei Stühlen, mit hängenden Armen schliefen die beiden Gehilfen.

»Verdammt noch mal!« grollte der Inspektor.

Im selben Augenblick stieß der Baron einen Schrei aus:

»Die Gemälde! Der Kredenztisch!«

Er stotterte erstickt und wies mit der Hand auf die leeren Plätze, die nackten Wände, aus denen die Nägel herausstachen und die unnützen Stricke herabhingen. Der Watteau, verschwunden! Die Rubens, gestohlen! Die Wandteppiche, abgehängt! Die Vitrinen, ihrer Schmuckstücke beraubt!

»Und mein Ludwig-XVI.-Armleuchter! Und der Leuchter des Kaisers! Und meine Jungfrau aus dem zwölften Jahrhundert!«

Er lief von einer Ecke in die andere, erschüttert und verzweifelt. Er zählte die Kaufpreise auf, rechnete die Verluste zusammen, häufte die Zahlen an, bunt durcheinander in zusammenhanglosen Worten und abgerissenen Sätzen. Er stampfte mit den Füßen auf den Boden, sein Gesicht verzerrte sich krampfhaft, außer sich vor Wut und Schmerz. Man hätte meinen können, er wäre ein ruinierter Mann, der sich nur noch eine Kugel in den Kopf zu jagen brauchte.

Wenn etwas ihn hätte trösten können, dann wäre es der Anblick des dummen Gesichts von Ganimard gewesen. Im Gegensatz zum Baron rührte sich der Inspektor nicht. Er schien versteinert, mit unbestimmtem Blick betrachtete er die Dinge. Die Fenster? Geschlossen. Die Türschlösser? In Ordnung. Keine Spalte in der Decke. Kein Loch im Boden. Die Ordnung war tadellos. Alles musste methodisch nach einem unerbittlich funktionierenden Plan ausgeführt worden sein.

»Arsène Lupin …«, murmelte er niedergeschmettert.

Plötzlich sprang er auf die beiden Gehilfen zu, als ob ihn die Wut und der Zorn endlich doch gepackt hätten, er schüttelte sie wütend und beschimpfte sie lauthals. Sie wachten nicht auf! »Teufel«, sagte er, »sollte zufällig …«

Er beugte sich über sie und betrachtete sie nacheinander aufmerksam. Sie schliefen, aber keinen natürlichen Schlaf.

Er wandte sich zum Baron:

»Man hat sie betäubt.«

»Aber wer?«

»Na, er, zum Donnerwetter! Oder seine Bande, die aber von ihm geführt wurde. Das ist ein Coup nach seiner Art, die erkenne ich wieder.«

»Dann bin ich verloren, nichts zu machen.«

»Nichts zu machen.«

»Aber das ist abscheulich, einfach ungeheuerlich.«

»Reichen Sie eine Klage ein.«

»Was nützt sie?«

»Verdammt! Versuchen Sie es wenigstens, das Gericht hat Möglichkeiten …«

»Das Gericht? Aber Sie sehen ja selbst … In diesem Augenblick, da Sie nach einer Spur suchen, etwas entdecken könnten, rühren Sie sich ja nicht einmal von der Stelle.«

»Bei Arsène Lupin etwas entdecken! Aber, mein lieber Herr, Arsène Lupin hinterlässt nie etwas. Bei Arsène Lupin gibt es keinen Zufall! Ich bin so weit, mich zu fragen, ob er sich in Amerika nicht freiwillig von mir hat verhaften lassen!«

»Also muss ich auf meine Gemälde verzichten, auf alles verzichten! Aber er hat die Perlen aus meiner Sammlung gestohlen. Ich würde ein Vermögen geben, um sie wiederzufinden. Wenn man schon nichts gegen ihn unternehmen kann, soll er wenigstens seinen Preis nennen!«

Ganimard sah ihn scharf an.

»Das ist ein vernünftiges Wort. Sie nehmen es nicht zurück?«

»Nein, nein, nein. Aber warum?«

»Ich habe eine Idee.«

»Was für eine Idee?«

»Wir werden darüber sprechen, wenn die Ermittlungen ergebnislos verlaufen. Nur, ich möchte mit keinem Wort erwähnt werden, wenn Sie Wert darauf legen, dass ich etwas erreiche.«